Der Heilige Geist als Befreier

05. Juni 2003, Morgenandachten für den NDR

„Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich...“, so heißt es in diesem Abschnitt aus einer Mottete von Johann Sebastian Bach. Es gibt kaum eine andere Unterscheidung, die sich so plausibel in unsere mentalen Festplatten eingebrannt hat, wie die Unterscheidung zwischen Fleisch und Geist. Und selbst viele Menschen, die gar nicht mehr wissen, woher der Satz kommt, benutzten ihn als Entschuldigung, wenn wieder einmal jemand an einer Absicht oder Pflicht gescheitert ist, und sagen dann: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.

Wie gesagt: Kaum eine Unterscheidung wirkt so einleuchtend (oder wenigstens so bildkräftig) wie diese. Und doch meine ich: Kaum eine Unterscheidung hat in unserer christlichen Geschichte und Sittengeschichte so viele Missverständnisse ausgelöst, wie diese Unterscheidung, ja Trennung zwischen dem Fleisch und dem Geist, dem Fleischlichen und Geistlichen.

Dabei soll jetzt gar nicht so sehr die Rede sein von den Tendenzen und Auswüchsen der Leibfeindlichkeit, die zur Tradition der christlichen Sittengeschichte (und übrigens zur Sittengeschichte auch anderer Religionen) gehören wie der Schatten zum Licht. Gut, ich gebe zu: Fit for fun – das ist nun wieder das lächerliche Gegenbeispiel einer Körperverherrlichung. Manchmal kann einem regelrecht Angst werden um die vielen Leute, die ihr Selbstwertgefühl derart hektisch und panisch von ihrer demonstrativen Fitness und ihrem mühsam errungenen Waschbrettbauch abhängig machen. Aber ich habe gut reden von den sauren Trauben: Wenn ich mir eine solche Fitnesszeitschrift kaufen wollte, würde jeder Verkäufer spöttisch schmunzeln.

Nein, ein viel größeres Missverständnis ruht in jener Unterscheidung zwischen dem Fleischlichen und dem Geistlichen dann, wenn sie zu einer Unterscheidung zwischen Körper und Geist reduziert wird und zwar so, dass man dann sagt: mein Körper, mein Geist. Und wenn man sich dann auch noch einredet, man müsse – vor allem: man könne – seinen Geist mindestens so kräftig trainieren, wie seinen Körper. Und erst recht, wenn man sich vormacht, man beherrsche seinen Geist – und beherrsche damit schließlich die anderen. So angestellt,  verdünnt sich die Unterscheidung letztlich ganz zu solchen Abstraktionen wie Materialismus und Idealismus: Materialismus schlecht, Idealismus gut – obwohl ja durchaus beides zur Ideologie werden kann.

Auch hier wollen wir nun das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Man darf und soll ja ruhig seinen Verstand gebrauchen. Und damit das gelingt, soll man ihn auch tapfer üben. Ein gutes, glänzendes Argument ist immer schöner als törichtes Gestammel. Aber wenn der Apostel Paulus und sein Komponist Johann Sebastian uns sagen: „Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich...“, dann meinen sie etwas ganz anderes. Der Heilige Geist, von dem hier und an Pfingsten die Rede ist, befreit uns nämlich nicht nur aus unseren – wie man nun wieder recht sittenstreng sagen könnte:  – fleischlichen Versuchungen (wenn es denn sein muss), sondern in erster Linie von alledem, was wir uns auf unseren eigenen Geist einbilden; befreit uns also von unserem geistigen Übermut; von der Einbildung, eigentlich seien wir doch die Schöpfer (und Umgestalter) der Welt. Als sei der Mensch das Maß aller Dinge – und nicht etwa der, dem sie wirklich zueigen ist, Gott in seinem Wort und Geist.