Predigt zum 3. Sonntag nach Trinitatis im Dom zu Berlin (Lukas 15, 1-10)
06. Juli 2003
Von der Freude Gottes
1.
Zwei kleine biblische Geschichten - vielen noch bekannt und einfach zu verstehen:
Ein Hirte findet nach langer Suche sein verirrtes Schaf. Eine Frau sucht im ganzen Haus und findet ihr verlorenes Geldstück. Große Freude ist das Ergebnis.
Auch der Sinn dieser Beispielgeschichten ist ganz klar: So wie die beiden sich freuen, so freut sich Gott, wenn verlorene Menschen wieder gefunden werden.
Martin Luther sagt:
„Das ist die Predigt von Christus, die uns so alltäglich sein sollte, wie Brot- und Käseessen. Christus erfüllt das Gesetz für dich. Du kannst es nicht!“
Die beiden Geschichten leuchten auch ein als Antwort auf den Protest der Pharisäer und Schriftgelehrten gegen das Verhalten Jesu: „Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.“
Gott sucht die Verlorenen - und freut sich, wenn er sie herausgerettet hat aus ihrer schrecklichen Gottesferne.
2.
Wie überwältigend die Botschaft ist, wird so recht erst klar, wenn wir darüber nachsinnen, dass diese beiden Gleichnisse bei genauerem Hinsehen doch gar nicht so einfach sind, wie sie zunächst klingen.
Es sind vor allem drei Schwierigkeiten:
Die eine betrifft die Verlorenen, die andere das Suchen, die dritte das Zahlenverhältnis in den Gleichnissen.
Wer sich die Verlorenen vor Augen stellt, mit denen Jesus sich an einen Tisch setzte, könnte sich wohl leicht dem Protest dagegen anschließen: Die Zöllner galten als Betrüger und Kollaborateure mit der römischen Besatzungsmacht. Aussätzige mit ihren ekligen Geschwüren erregten Abscheu und Furcht vor Infektion. Anrüchige Frauen gelten bis heute nicht als eine honorige Gesellschaft. Stark Behinderte erreichen nur schwer einen unbefangenen Zugang zur Gesellschaft - gerade damals, als solche Krankheiten als Zeichen von Sündenstrafe galten. Und vielleicht geraten wir heute in ähnliche gesellschaftliche Stimmungen Behinderten gegenüber, wenn sich die Einstellung ausbreitet, das Risiko behinderte Kinder zu bekommen, könne durch Abtreibung vermieden werden.
Erst wenn wir es so vor Augen stellen, wird das Wunder deutlich: Denn solche sind es, denen Jesus Gemeinschaft schenkte. Gerade wer verstoßen war oder beschwerlich wegen abweichenden Verhaltens, hatte bei ihm Zugang.
„Der Menschensohn sucht gerade die Verlorenen“, - das war die Erfahrung mit ihm, und daran erkannten die ihm anhingen, die Liebe Gottes zu den Verlorenen. Am stärksten wuchs diese Erkenntnis, als er zwischen zwei Verbrechern gekreuzigt wurde.
Die andere Schwierigkeit bereiten die beiden Erzählungen, weil sie so selbstverständlich vom Suchen sprechen. Wir leben in einer Zeit, die Verluste einkalkuliert. Der Zeitaufwand des Suchens wird ins Verhältnis zum Nutzen gesetzt. Lohnt sich die Suche? Oder ist die Suche zu mühselig? - So fragt man beim Verlust. Selbst wenn der verlorene Groschen mehr wert ist, als er in unseren Ohren klingt, scheint die Mühe des Suchens doch nicht in jedem Fall sinnvoll. Und bei dem einzelnen Schaf müsste doch das Risiko kalkuliert werden für die Herde insgesamt. Wer sich zu sehr um die Einzelnen kümmert, könnte das Ganze leicht aus dem Blick verlieren.
Die dritte Schwierigkeit betrifft die Zahlenverhältnisse.
Da werden Gerechte gegen die Sünder mit Neun zu Eins, ja Neunundneunzig zu Eins gerechnet.
Wenn Menschen mit solchen Begriffen wie „gerecht“ oder „Sünder“ überhaupt etwas anfangen können, dann denken sie eher an ein umgekehrtes Zahlenverhältnis. Wie wenige sind wirklich gerecht? Wie wenige sind sensibel und engagiert, wie wenige setzen sich für Gerechtigkeit ein und für Menschen, denen diese vorenthalten wird?
Wie groß ist denn die Zahl derer wirklich, die um der Gerechtigkeit willen einen anderen Lebensstil wagen? Geschweige denn, dass sie bereit wären, um der Gerechtigkeit willen Verfolgung zu leiden.
Die Pharisäer zur Zeit Jesu waren solche engagierten Leute, aber sie waren auch nur eine kleine Gruppe. Pharisäer sind, weil Jesu Kritik an ihnen nicht richtig verstanden wird, in ein falsches Licht geraten. Sie sind vergleichbar mit denen, die sich heute für Humanität und solidarisches Handeln einsetzen.
Jesus kritisiert nicht ihren Einsatz für eine bessere Welt. Er wendet sich vielmehr gegen eine dünkelhafte Anständigkeit, gegen die Floskeln der Rechthaberei.
Sie grenzen die Suchenden und Irritierten aus und bieten mit all ihrem Engagement keinen Halt und keine Hoffnung.
Jesus aber zeigt: Gott sucht Verlorene - auf eine überraschende, wunderbare Weise. Auch wenn es, menschlich gesehenen, unsinnig scheinen mag. Es ist eben jede/jeder Einzelne, an dem Gott Interesse hat.
Unsere menschlichen Rechnungen, die so vernünftig scheinen, führen in die große Verschuldungskrise. Gottes Rechnung, die für uns so wenig plausibel aussieht, zielt auf die Entschuldung jedes Einzelnen.
3.
Wer sind die Verlorenen?
Die anrüchige Tischgemeinschaft Jesu haben wir uns schon vor Augen gestellt. Die Nähe Jesu heilt sie, erlöst sie. Aber worin hatte ihre Verlorenheit bestanden? Es ist nicht der ablesbare Moralstandard, zumal der ja gar nicht angemessen beurteilt werden kann. Es ist auch nicht die Zahl der Gesetzesübertretungen, die Auskunft über die Verlorenheit gibt. Verloren ist, wer die Orientierung verloren hat. Das Schaf, das sich in der Steppe verirrt und sich selbst überlassen ist, gerät in höchste Gefährdung.
Der Hirte geht los, weil er weiß, was auf dem Spiel steht für sein Schaf. Er ruht nicht, ehe er es gefunden und vor dem sicheren Tod bewahrt hat. Übertragen auf den Menschen also: Wer sein Leben verscherzt, droht zu Grunde zu gehen - in Zeit und Ewigkeit. Das ruft Gott auf den Plan. Er will retten! Das Verhalten dieses Hirten ist das Bild für Gottes Sorge um den Menschen. Daran haben sich seit Jesus Menschen aller Generationen aufgerichtet. Darum ist der Hirte mit dem Schaf auf der Schulter ein vertrautes Bild einer rührenden Frömmigkeitskultur geworden; den Nüchternen unter uns kommt sie eher kitschig vor. Auch der Vergleich von Gottes gefundenen Söhnen und Töchtern mit Schafen will nicht schmecken.
Ich selber bin eines besseren belehrt. - Vor einigen Jahren habe ich die ehemalige Gefängnisinsel Robben Island in der Bucht von Kapstadt besucht - gemeinsam mit dem südafrikanischen Erzbischof Ndungane. Der hatte mit Nelson Mandela und vielen anderen dort jahrelang gefangen gesessen, weil sie gegen den Rassismus gekämpft hatten.
Bei unserem Besuch haben wir im Namen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Bayerischen Landeskirche ein in Oberammergau geschnitztes Bild des guten Hirten mitgebracht. Das Bild war, wie eben die Figuren aus Oberammergau sind, anrührend. Eine solche Figur aus einer Oberammergauer Werkstatt hatte vor 150 Jahren in der kleinen Kirche „Zum guten Hirten“ auf Robben Island gestanden, hatte den dorthin verbannten als Symbol des Trostes gedient. Aber diese Figur war irgendwann verschwunden und nie wieder aufgetaucht.
Und dann kamen wir mit dieser Nachbildung, stellten sie in einem feierlichen Gottesdienst an ihren Platz. Und für alle, die dabei waren, bekam diese Holzschnitzerei eine symbolische Tiefe: Die Kirche zum Guten Hirten - Trostzeichen an einem Ort der Verlorenheit.
Und der Erzbischof sagte: Der Hirte hat das verlorene Schaf gefunden, und so schenkt Gott uns seine Fürsorge und geht uns nach, auch an diesen Ort, an den wir verschleppt wurden und überall, wohin wir uns verirren.
4.
Wo stehen wir, die wir uns heute Morgen zum Gottesdienst versammelt haben? Sind wir die Gerechten? Sollen wir uns vom Evangelium beschämen lassen, dass wir uns nicht ausreichend an der Suche Jesu beteiligen?
Oder sind wir die gefundenen Sünder, über die sich Gott im Himmel gefreut hat?
Oder sind wir die Verlorenen, die immer noch herumirren und denen gesagt wird: Gott sucht dich?
Mir ist schon klar, so lassen sich die Fragen nicht stellen. Da sind heute viele unter uns, die danken können für einen guten Morgen, für eine erfüllte Lebenszeit. Und auch bei denen, die mit Problemen belastet sind, geht es wohl nicht um „gerecht“ oder „verloren“. Da gibt es Ängste und Einsamkeit, Trauer über einen Verlust; da gibt es Krankheit oder die Angst davor, Unklarheit über die nächsten Lebensschritte. Und vor allem gibt es die Unsicherheit über den rasanten Wandel unserer Zeit, der vor viele neue Fragen stellt, für die wir noch keine Lösung wissen. Wenig deutet darauf hin, dass unsere Welt zur Vernunft findet, darum gibt es so viel Verzagen.
Immerhin leuchtet in unseren biblischen Geschichten etwas auf: Gott geht jedem Einzelnen nach, wohin er sich auch verrannt hat oder wohin er auch getrieben wurde. Mitten in unserer verwalteten, chaotischen, unserer korrupten und sich auflösenden Welt, mitten in all den anonymen Massen gibt es das Zeichen: Gott freut sich über das Eine. Das wäre schon was, wenn der Eine, die Eine mit etwas mehr Mut zum Leben, diesen Gottesdienst verlassen würden.
Wie entlastend wäre es, wenn jemand diese Entdeckung erleben würde. „Mich in meiner verlorenen Situation, mich sucht Gott, und er freut sich an mir, weil ich die Entdeckung gemacht habe.“
Angesichts dieser wundervollen Möglichkeit beginnen die biblischen Bilder vom Finden des Verlorenen zu atmen. Auch wenn die Lasten, die seelischen und körperlichen, nicht mit einem Schlag behoben sind; auch wenn die Krisenherde unserer Gesellschaft nicht bereinigt sind, wir erleben in diesen Geschichten einen starken Geist. Der lässt uns auch in Krisen leben und hilft uns, zu kämpfen und nicht müde zu werden.
5.
Der Glanz von Gottes Freude wirft ein Licht auf unsere Welt und auf uns Menschen. Das verlorene Schaf ist ein Teil der Herde. Sie ist ärmer, so lange das eine fehlt. Mit jeder Art, die verloren geht, mit jedem Menschen, der uns fehlt, fehlt ein Teil des Ganzen, ein Glied am Leibe Christi.
Darum ist noch auf zwei Wirkungen der Geschichten von der Freude über das Finden hinzuweisen:
1. Weil Gott die Verlorenen sucht, setzen Christinnen und Christen sich für die Armen und Elenden ein: Einzelne, zahlreich, meistens unauffällig, selbstverständlich - und auch organisiert in den Werken der Diakonie. Das ist die eine Wirkung der Liebe Gottes zu den Verlorenen.
2. Die andere beziehe ich auf unsere kirchlichen Gemeindekonzepte. Ich nenne ein Beispiel: In Chicago gibt es eine Gemeinde, sie heißt Willow Creek Gemeinde. Sie ist genannt nach dem Stadtteil, in dem sie sich sammelt. Riesig ist diese Gemeinde. Wöchentlich kommen mehr als 15 Tausend zu den Gottesdiensten. Professionell und perfekt ist die Show der gottesdienstlichen Darstellung. Amerikanische Effekte, auf uns im einzelnen nicht übertragbar. Aber das Geheimnis dieser Gemeinde ist dies: Sie glaubt daran, dass Gott die Verlorenen sucht. Darum sind die Sonntagsgottesdienste ganz auf Neue, auf Suchende, auf Fremde eingestellt. Mit großer Sorgfalt konzipiert und gestaltet - das spüren die Neuen: Wir sind hier wichtig. Dir zur Gemeinde gehören geben ihr bestes. Sie rüsten sich während der Woche aus, um die Sonntage feierlich zu gestalten.
Wir könnten das nicht einfach übernehmen, dazu ist die Darstellungsweise zu sehr auf amerikanische Verhältnisse ausgerichtet. Aber wir können doch etwas davon lernen: nämlich uns darauf zu konzentrieren, dass Gott an denen besonderes Interesse hat, die noch nicht zur Gemeinde gehören. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wir in unserer Kirche inzwischen auf einem guten Weg sind. Die meisten wissen: Von selbst geht der Glaube nicht in die nächste Generation. Wir müssen uns drauf noch deutlicher einstellen.
Denn darauf kommt es an: Wir werden Schwestern und Brüder. Das bewegt die Herzen und das tröstet, das ermutigt. Gemeinschaft wird geheilt. Das umschließt auch die, die vor uns waren und die nach uns kommen. Es herrscht Freude über jeden Einzelnen, der sich von Gott finden lässt.
Amen.