Predigt zum 14. Sonntag nach Trinitatis (Lukas 17, 11-19)

21. September 2003, im Berliner Dom

Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte,
daß er durch Samarien und Galiläa hin zog.
Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne
und erhoben ihre Stimme und sprachen:
Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!
Und als er sie sah, sprach er zu ihnen:
Geht hin und zeigt euch den Priestern!
Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein.
Einer aber unter ihnen, als er sah, daß er gesund geworden war,
kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme
und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen
und dankte ihm. Und das war sein Samariter.
Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die
zehn rein geworden? Wo sind aber die neun?
Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte,
um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?
Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin;
dein Glaube hat dir geholfen.

1. Resonanz

Zehn sind geheilt, ein einziger kehrt zurück, um sich zu bedanken: Das ist schwer zu verstehen. Wenn so etwas Großartiges passiert, geheilt zu werden nach schlimmer Krankheit, befreit zu werden aus aussichtsloser Lage, da muss man doch dem danken, der das Wunder vollbracht hat.

Aber nur einer von Zehn tut, was sich gehört. Ausgerechnet ein Samaritaner, heißt es in der Erzählung, ein Fremder tut, was von allen zu erwarten gewesen wäre.

"Sind nicht zehn rein geworden? Wo aber sind die neun?" fragt Jesus enttäuscht. "Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?"

"Undank ist der Welt Lohn", lautet ein Sprichwort. Man könnte meinen, die Geschichte liefe nur auf diese triviale Erkenntnis zu.

Die Geschichte von den zehn Aussätzigen gehört zum Bestand der Erziehungsgeschichten in meiner
Kindheit.

Dankbarkeit ist nicht nur Herzensgefühl, sollte ich lernen, sie muss auch ausgedrückt werden. Ja, Dankbarkeit kann nur ein Herzensgefühl werden, wenn sie auch bewusst ausgesprochen wird.
"Wenn du etwas geschenkt bekommst, dann sag auch 'Danke'!" Und ich erinnere mich an eine trotzige Phase meiner Kindheit, in der mir der Vater ein Geschenk der Nachbarin wegnahm, weil ich mich nicht bedanken wollte.

Ich bin überzeugt, solche Erziehung ist heute immer noch wichtig, ist nicht die Einübung einer überflüssigen Sekundärtugend.  Was uns an Gutem widerfährt, wird "stärkende Wegzehrung" für das Leben durch den Dank.

Darum will diese Geschichte helfen, auf das zu achten, was unsere Lebensgeschichte positiv prägt. Die Erfahrungen der Hilfe, der Rettung aus der Not, müssen in eine Haltung der Dankbarkeit münden. Es sind nicht nur die spektakulären Erfahrungen von überraschender Heilung, die hier zu nennen sind. Das meiste, was wir von Jugend an erleben, gehört in die Haltung der Dankbarkeit. Denn das meiste im Leben verdanken wir anderen und Gott.

Auch die Geltung des sog. Generationenvertrages lebt von dieser Erkenntnis. Da sträubt sich ein ungezogener Jungpolitiker, für die Alten noch aufzukommen, propagiert das sogar als gebotenen Fortschritt der sozialen Politik; er scheint vergessen zu haben, wer aufgekommen ist für seine  Aufzucht, für seine Schulbildung, für sein Studium, für die Infrastruktur, die heutiges Wirtschaften ermöglicht. Das ist die Generation, die gearbeitet hat, als er aufwuchs. Wer ein langes Arbeitsleben mit seinen Steuern und Beiträgen für das Gemeinwesen gesorgt hat, darf im Alter nicht fallen gelassen werden, wie es alten Eskimos ergangen sein soll, die auf eine Eisscholle gelegt wurden, damit die Sippe überleben konnte.

2. Not ist konkret

Die Zehn, an denen das Wunder geschieht, leiden an Lepra, einer schrecklichen Krankheit. Sie entstellt in fortgeschrittenem Stadium sehr, denn Haut und Gliedmaßen werden gleichsam zerfressen.

Gegen die Lepra ist die heutige Medizin nicht mehr machtlos. Die Heilung ist lediglich eine Frage gezielter Arzneigaben, die Vorbeugung eine Frage der Hygiene - und damit eine Geldfrage. Kirchliche Hilfswerke bemühen sich, in den Armutsregionen unserer Welt die Krankheit zu bekämpfen - mit großem Erfolg. Aufklärung gehört auch dazu, um die mit der Krankheit verbundene soziale Ausgrenzung mit der Zeit zu überwinden. Denn Isolation war von Alters her die Folge dieser Krankheit: Menschen wurden aus der Gesellschaft der Gesunden ausgeschlossen. Sie  vegetierten außerhalb der Städte und Dörfer in Höhlen und unbenutzten Gruften. Wenn es gut ging, wurden sie von ihren Verwandten mit Essen versorgt, aber sie hatten sich fernzuhalten von vertrauter Gesellschaft, mussten schon von weiten rufen: "Unrein, unrein!", wenn Gesunde sich näherten.

Das erscheint uns heutigen sehr unbarmherzig. Aber Furcht vor Ansteckung ist auch heute verbreitet und nachvollziehbar. Heute gibt es andere Krankheiten, z.B. HIV Infektionen, die durchaus ausgrenzend wirken. Bestimmte Formen von geistiger/körperlicher Behinderung bewirken auch heute - in unserer aufgeklärten Gesellschaft - Isolierung und Ablehnung.

In unserer Geschichte fragt Jesus die 10 Aussätzigen nichts, er hört nur ihren Wunsch: Erbarme dich unser!
Der Wunsch klingt selbstverständlich. Was wünschen Menschen mit Krankheit und unter dem Druck der Isolierung sehnlicher, als gesund zu werden? Wiewohl es durchaus auch eingebildete Kranke gibt, die ihr Leiden dazu einsetzen, um aufzufallen. Sie wollen eher Mitleid erregen als wirkliche Heilung.

Doch darum geht es in dieser biblischen Geschichte nicht. In ihr geschieht Heilung allein durch  Vertrauen zum Heiler. Unbedingtes Vertrauen ist die wichtigste Hilfe. Die stumme Verzweiflung ist durchbrochen, die Heilung kann beginnen. Sie zielt nicht auf die Gesundung der körperlichen Symptome des einzelnen Kranken. Der einzelne ist schnell geheilt. Was länger dauert ist die Heilung der Gemeinschaft. Bis wirklich alle glauben, dass ihm, dem einst Kranken nichts Ansteckendes anhaftet, wird es noch lange dauern.

3. Wachstum des Glaubens

Die Geschichte will eine Tugend der Dankbarkeit fördern, das ist deutlich. Aber sie will noch mehr!

Martin Luther hat in einer Predigt zu dieser Geschichte gesagt: "Wer anfängt zu glauben und nicht wachsen will, dem wird die Gnade Gottes genommen!"

Hilfe braucht den Dank, damit sie nicht flüchtig bleibt. Wachsen kann unsere Menschlichkeit nur, wenn sie genährt wird durch den Dank. Es mag ja sein, dass dieses Verhältnis "einer von zehn" der volkskirchlichen Realität entspricht. Vielleicht stehen wirklich 90% auch von uns Christen in einem Leben ohne Rückbindung an Gott, dem wir alles verdanken.

Aber der eine Fremde, der umgekehrt ist, zeigt den Zusammenhang auf, der uns allen so lebenswichtig sein müsste: den Zusammenhang zwischen dem Wunder, das er an sich erlebt hat und seiner Lebensgeschichte. Die wird dadurch offen für das Heil, das von Gott herkommt. Er kehrt zu der Quelle zurück, die sein Leben gesegnet hat und segnen wird.

Wir können von dieser Geschichte zu unserer Lebensgeschichte finden. Manche sind unter uns, die ähnlich Überwältigendes erlebt haben, als sie aus hoffnungsloser Lage erlöst wurden. Für sie ist unsere Geschichte ein Ruf zur Erinnerung: "Vergiss nicht, was ER dir Gutes getan hat".

Aber auch, wo das Leben ohne wundersame Erlösung von Krankheit und Krise verlief, gibt es eine lange Kette von Wohltaten, von Jugend auf. An die gilt es, sich zu erinnern und sie auf den zurückzuführen, von dem sie kommen.

"Steh auf", sagt Jesus am Schluss, "geh hin, dein Glaube hat dir geholfen." Das wird nur diesem einen gesagt, der zurückkehrte, um zu danken. Es wird dem gesagt, von denen man es am wenigsten erwartet hätte, denn nach der Auffassung in Israel gehörte er zu den Ungläubigen. Aber er - als der Ungläubige - er ist der einzige, der zum Danken zurückgekehrt ist. Offenbar war es nicht sein Glaube, der die Heilung vom Aussatz bewirkt hatte. Auch die neun anderen sind geheilt. Die mögen sich gefreut haben, dass ihre schreckliche Krankheit gebannt ist. Aber nur der eine zeigt, wem er diese Freude verdankt. Darum sagt Jesus: Dein Glaube hat dir geholfen. Sein Glaube ist Grund für ein viel weitergehendes Wunder: das Wunder der Umkehr des ganzen Menschen. Er hat den Götzen des Egoismus überwunden. Er weiß: das Geschenk der Heilung gilt nicht nur ihm; es gilt einem neuen Leben, das um seine Herkunft und um seine endgültige Bestimmung weiß.

So wird seine Heilung ihm zum Heil; er wird wachsen, weil er bei der Quelle des Segens, bei dem Gottesgeschenk aus Nazareth angekommen ist. Sein Leben wird zum Gotteslob - ein  neuer Himmel, eine neue Erde sind versprochen.

Zehn sind geheilt, ein einziger kehrt zurück, um zu danken. Er hat erkannt, dass Jesus "der Brunn' der Gnad' und ew'ge Quelle ist, daraus uns allen früh und spat viel Heil und Gutes fließt". (EG 324,2) Er hat an sich selbst gespürt, wie reich die reiche Quelle des Lebens sprudelt, die mehr schenkt als leibliche Genesung. Sie schenkt ein Leben, das wächst und reift, weil es dankbar aus Gottes Hand empfangen wird, sich von ihm behütet und bewahrt weiß.