Predigt zum 18. Sonntag nach Trinitatis (Markus 12, 28-34)

19. Oktober 2003, Hauptkirche St. Michaelis zu Hamburg

Deinen Nächsten wie dich selbst

LUT Mark 12:28 Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, daß er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? 29 Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften«. 31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«. Es ist kein anderes Gebot größer als diese. 32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur einer, und ist kein anderer außer ihm; 33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. 34 Als Jesus aber sah, daß er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.

Liebe Gemeinde,

Gottesliebe, Nächstenliebe, Selbstliebe – diese drei: Ach, welch’ schönes Thema wäre dies für eines der so beliebten Ethik-Seminare. Denn in solchen Ethik-Seminaren an Evangelischen Akademien und Bildungswerken und anderswo, in solchen Seminaren mit Christen und Nicht-Christen, mit Unternehmern und Gewerkschaftlern oder gar mit Vertretern unterschiedlicher Religionen, also regelrecht inter-religiös – kurz und gut: In solchen Seminaren kann man sich endlich einmal so richtig gut darüber unterhalten, wie wir denn endlich das Gute tun können. Nur dass eben dabei nicht das eigentlich Wichtige zur Sprache kommt, nämlich: Wer uns Gutes tut.

Unser Predigttext ist ja zunächst so etwas wie ein Tagungsbericht von einem inter-religiösen Ethik-Seminar. Er steht bei Markus als Abschluss einer Reihe von Streitgesprächen, in die Kritiker den Jesus von Nazareth hineinziehen, nachdem er wieder nach Jerusalem kam und im Tempel umherging: Ist’s recht, dass man dem Kaiser Steuern zahlt oder nicht? – Meister, Mose hat uns vorgeschrieben: Wenn jemand stirbt und hinterlässt eine Frau, aber keine Kinder, so soll sein Bruder sie zur Frau nehmen. Aber wenn nun sieben Brüder nacheinander sie zur Frau nehmen, weil es nie zu Kindern kommt – wessen Frau wird sie bei der Auferstehung sein? – Ach, liebe Gemeinde, was kann man doch für schlaue Fragen stellen, wenn man Jesus begegnet. Gottesliebe, Nächstenliebe, Selbstliebe – auch da könnten wir schlaue Fragen stellen und Streitgespräche führen, etwa so: Wie sehr muss ich mich selber lieben – damit ich den Nächsten lieben kann? Oder: Wenn ich tapfer nur den Nächsten liebe – liebe ich dann auch Gott richtig? Und Jesus könnte auch uns antworten wie den Sadduzäern kurz zuvor: Ihr irrt sehr!

Bei unserem Predigttext, bei jenem Tagungsbericht von einem inter-religiösen Streitgespräch und Ethik-Seminar ist nämlich alles ganz anders, und zwar grundstürzend anders. Das fängt schon damit an, dass es sich dabei in Wirklichkeit gar nicht um ein inter-religiöses Streitgespräch handelt – und genau gesehen im Ergebnis um das Gegenteil eines Streitgesprächs. Und deshalb – anstatt dass wir uns nun sogleich klug und gescheit Gedanken machen über das Verhältnis von Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe – hören wir erst einmal genau hin, was da passiert, nachdem nun schon eine ganze Zahl von Hohenpriestern, Ältesten, Pharisäern und Sadduzäern diesen für sie so merkwürdigen, ja überaus bedenklichen und gefährlichen Heiligen namens Jesus von Nazareth in die Enge getrieben haben, übrigens ohne rechten Erfolg – was die Sache ja nur umso bedenklicher macht.

Ein inter-religiöses Streitgespräch??
Zwar heißt es immerhin:

Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten…

Also ein jüdischer Schriftgelehrter hier – und hier der Jesus der Christen. So sieht das auf den ersten Blick aus: Inter-religiös!

Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, daß er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen?

Da kommen wir schon ins Schwanken: Der jüdische Schriftgelehrte erkennt und anerkennt, dass Jesus seinen Kollegen bisher gut herausgegeben hatte. Und diese Anerkennung bezieht sich nicht nur darauf, dass er ihnen gewissermaßen schlau ausweichend geantwortet hatte, sondern eben durchaus richtig im Sinne der jüdischen Religion. Und nun fragt der jüdische Schriftgelehrte, sozusagen respektvoll von Kollege zu Kollege, diesen Jesus von Nazareth:

Welches ist das höchste Gebot von allen?

Er fragt ihn also: Was ist der Kern unseres Glaubens?

Und wie antwortet nun Jesus von Nazareth? Er antwortet jedenfalls nicht etwa so: Also bei uns Christen… Oder gar: Bei uns Christen ist das anders als bei Euch Juden, nämlich so und so.

Sondern Jesus zitiert das Schlüsselgebet der Juden, das Schma Israel. Jesus zitiert jenen Satz aus dem 5. Buch Mose, den der fromme Jude sich mit dem Gebetsriemen sozusagen an Stirn und Herz fesselt und somit in Kopf und Seele bindet – und übrigens auch in einer Kapsel an den Türpfosten befestigt (so wie die katholischen Christen mit Kreide ihr C M B über den Hauseingang schreiben):

»Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften.«

Und dann zitiert er zusätzlich, gewissermaßen als Auslegung und Konsequenz ein weiteres jüdisches Gebot:

»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«.

Von beidem zusammen sagt Jesus, es sei kein anderes Gebot größer als diese zwei.

Der Schriftgelehrte aber antwortet nicht etwa: So mag das sein bei Euch Christen, sondern er hat nun allen Grund, ausdrücklich seine ursprüngliche Einschätzung zu erneuern und zu bekräftigen, die er schon am Anfang hatte, dass nämlich Jesus seinen Kollegen zuvor gut geantwortet hatte, denn er tut das, was in jüdischen Lehrgesprächen üblich ist, er fasst zustimmend zusammen:

Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur einer, und ist kein anderer außer ihm; 33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.

Und  nun ist es an Jesus, seinerseits noch einmal zustimmend und zusammenfassend zu bekräftigen:

Als Jesus aber sah, daß er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes.

An dieser Stelle endet nun die Serie der Streitgespräche mit der Feststellung:

Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.

Das ist nun ein merkwürdiger Beschluss: Niemand wagte mehr, ihn zu fragen! Das klingt nicht einem ganz und gar nach friedlichem Abschluss. Es wagt nur keiner mehr, ihn zu fragen. Sie hätten wohl mögen, aber sie wagen es nicht mehr. Da bleibt etwas im Raum, da hängt noch etwas in der Luft. Aber vorausgegangen ist doch der vollendete Konsens über das höchste der Gebote.

Merkwürdig, was uns zunächst wie ein inter-religiöses Streitgespräch vorkam, erweist sich letztlich als ein inner-jüdisches Lehrgespräch, das zu einer absoluten Verständigung über das Hauptgebot des frommen Juden führt, als welcher sich doch auch Jesus von Nazareth erweist und ausweist. Und doch bleibt eine unterschwellige Spannung:

Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.

Bevor wir uns also fragen, was der Evangelist Markus uns mit dieser Dreieinigkeit von Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe sagen will, werden wir von ihm darauf gestoßen. Es gibt darin keinen Unterschied zwischen Juden und Christen. Und deshalb haben auch wir darin keinen Unterschied zwischen Juden und Christen zu konstruieren.

Wir Christen können also unsere Frage nach dem höchsten Gebot nicht an den frommen Juden vorbei und nicht gegen die Juden beantworten. Ja, wir können unseren Gott nicht an den Juden vorbei oder gar gegen die Juden lieben. Wir können Gott schlechterdings nicht hören, wenn wir nicht zugleich hören, wie er zu seinem Volk Israel spricht – und darin auch zu uns. Wie oft, oh Gott, haben wir uns gegen dieses höchste Gebot gerade darin vergangenen! Mea culpa, mea maxima culpa: Vergib uns unsere Schuld, unsere übergroße Schuld!

»Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften«.

Das ist der Ausgangspunkt unseres ganzen Glaubens und Lebens. Das ist auch der Ausgangspunkt all unserer christlich-jüdischen Gespräche und der ganzen Ökumene, auch der zwischen Katholiken und Protestanten. Und alle Lehrgespräche, die an diesem Gebot und Gebet vorbeigehen, gehen auch schnurstracks an der Sache Gottes selber vorbei.

Gebot und Gebet fallen hier in eines. Und weil das Gebot ein Gebet ist, handelt es sich eben nicht bloß um eine ethische Anweisung: Erst das Gebot – und dann die Ausführung! Sondern es gilt genauso gut umgekehrt: Erst das Gebet – und dann das Gebot. Wir sollen (und können) Gott lieben – weil wir zu ihm beten können; und beten können wir zu ihm nur, weil er es ist, der uns zuerst liebt, indem er - der Herr allein – also der Alleine sich überhaupt uns zuwendet. Diese Zuwendung Gottes an uns ist der Grund unseres Glaubens – und nicht etwa erst unsere Wendung an Gott. Nicht wir machen Gott liebenswert (indem wir uns entschließen, ihn zu lieben), sondern Gott macht uns liebenswert, indem er sich uns zuwendet. Und deshalb ist es in Wahrheit eine Freude und nicht etwa eine Last, Gottes Gebot zu halten. Die Juden übrigens feiern heute das Fest Simchat Thora, den Tag der Gesetzesfreude.

Diese Zuwendung Gottes können wir nicht exklusiv für uns beanspruchen, indem wir sie für uns Christen oder gar nur für uns Protestanten reservieren und indem wir andere davon ausschließen. Wer diese Zuwendung Gottes exklusiv für sich haben will, schließt sich selber davon aus. Das ist der ganze Grund für unsere Nächstenliebe.

Und dies ist schließlich auch der logische und theologische Grund für jenes zweite Gebot:

»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«.

Die Zuwendung Gottes gilt meinem Nächsten nicht weniger als mir – und deshalb kann ich mich nicht weniger lieben als meinen Nächsten, aber eben auch nicht mehr. Aber darin ist meine Nächstenliebe wie meine Selbstliebe eben nur Antwort auf die Liebe Gottes, so wie auch unsere Liebe zu Gott nur reine Antwort ist, nur ein reines Gebet.

Wir können uns also im Grunde unsere Ethik-Seminare alle sparen. Wir brauchen gar keine begrifflich komplizierten Überlegungen anstellen zum Thema „Gottesliebe, Nächstenliebe, Selbstliebe“.

Wir brauchen nur in der Gemeinschaft aller Kinder Gottes, mit dem gesamten Gottesvolk mitzusprechen:

»Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften«.

Dann nämlich ergibt sich das andere von selbst – und nicht bloß von uns aus:

»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«.

Amen.