Predigt am 1. Advent in Neu-Delhi (Jesaja 43,19)
Rolf Koppe
Liebe Gemeinde!
Unser christlicher Glaube schaut nach vorn. Gott spricht: siehe ich will ein Neues machen. Und zur gleichen Zeit schauen wir zurück und suchen die Spuren unseres Glaubens im Buch der Bücher, in der Bibel. Im Unterschied zu anderen Religionen, die den Einzelnen in den Kreislauf der Natur eingefügt sehen oder in der ewigen Wiederkehr des menschlichen Lebens den eigentlichen Sinn finden, offenbart sich Gott für uns in der Geschichte. Durch Abrahams Immigration aus Ur in Chaldäa im heutigen Irak, durch den Exodus des Volkes Israel aus Ägypten und in der Geburt, dem Leben, Tod und Auferstehen unseres Herrn und Heilands Jesus Christus in Palästina und Israel. "Jetzt wächst es auf, erkennt ihr's denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde", verkündigt Gott durch seinen Propheten Jesaja. Ja, das Neue ist verbunden mit der Erinnerung: Gott lenkt und leitet sein Volk. Er zieht mit ihm auf den Wegen, die er bereitet. Das ist die Botschaft des Advents, des Beginns des neuen Kirchenjahres im Jahr 2003 nach Christi Geburt. Und das ist auch das Leitmotiv, weshalb sich vor 45 Jahren hier in Neu-Delhi eine deutschsprachige evangelische Gemeinde gebildet hat.
Ich überbringe herzliche Glückwünsche der Evangelischen Kirche in Deutschland und insbesondere die des neuen Vorsitzenden des Rates der EKD, Bischof Wolfgang Huber aus Berlin. Wir leben zwar tausende von Kilometern voneinander entfernt, aber wir sind miteinander aufs engste verbunden. Ich kenne den Vorsitzenden des Gemeindekirchenrates, Herrn Gesandten Kiderlen, schon aus der Zeit, als er für die EKD das Büro in Brüssel leitete und nach der Wende als Präsident des Landeskirchenamtes in Magdeburg arbeitete. Ich freue mich sehr darüber, dass er hier auch als Prädikant tätig ist, denn unsere Kirche lebt in der Breite vom ehrenamtlichen Engagement derer, die neben ihrem Beruf Kraft und Zeit in die Gemeindearbeit investieren. Und das gilt für viele in der Gemeinde, die sich auf Dauer oder auf Zeit in der Hauptstadt Indiens oder anderswo auf dem riesigen Subkontinent aufhalten. Und ich freue mich sehr, unsere Pastorin Gudrun Löwner wiederzusehen, die sich mit ungebrochener Energie für die Sammlung der Gemeinde einsetzt, den Kontakt zur Heimatkirche hält und unübersehbar mit einer Reihe von Mitreisenden auf Kirchentagen präsent ist - eine Brückenbauerin zwischen den Kulturen und Religionen, zwischen den Reichen und den Armen und zwischen den Kirchen in Indien.
Als die Delegation der EKD unter Leitung des Ratsvorsitzenden Manfred Kock vor 4 Jahren in Neu-Delhi ankam, war es bitter kalt. Wir haben gefroren, wurden aber innerlich erwärmt durch die Gastfreundschaft besonders des Generalsekretärs des Nationalen Kirchenrats in Indien, Reverend Ipe Joseph. Wir sind Freunde geworden und ich freue mich, ihn wieder zu treffen.
Der Prophet Jesaja sagt im 43. Kapitel, aus dem der Montagsspruch für Dezember genommen ist: "Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige. Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, spricht Gott der Herr". Trotzdem, die Erinnerung an die Gründung der Gemeinde hat ihren Stellenwert. Pastor Heine und seine Frau, die hier begonnen haben, sind heute unter uns, herübergekommen aus Mumbai, wo sie als Ruheständler Dienst tun. Wir kennen uns, so haben wir auf einer Tagung in Ghana festgestellt, schon aus der Studienzeit in Göttingen. Sie beide gehören zu den modernen Nomaden, die sich schwer vorstellen können, ihren Ruhesitz in der Nähe von Magdeburg zu beziehen. Ich bin sehr dankbar für die Kontinuität der Auslandsarbeit, die sie beide repräsentieren.
Immer mal wieder taucht die Frage auf, warum wir denn Menschen und auch Geld aus Deutschland einsetzen, um relativ wenigen Personen eine geistliche Heimat in der Fremde zu ermöglichen. Darauf gibt es nur eine Antwort: in der Diaspora bewährt sich die Volkskirche. Sie setzt sich neuen Erfahrungen aus. Und sie begleitet diejenigen, die fernab der eigenen Sprache und Kultur in einer anderen Gesellschaft in Wirtschaft, Kultur und Diplomatie ihre Arbeit tun. Vor 45 Jahren waren es Pioniere, die aus einem Deutschland aufbrachen, das noch schwer vom Zweiten Weltkrieg gezeichnet war. Heute mit zunehmender Globalisierung der Wissenschaft, Technik und wirtschaftlicher Zusammenarbeit ist eins so wichtig wie 1958, nämlich das Vertrauen darein, für ein besseres Zusammenleben der Menschheit zu arbeiten, für die Überwindung der Armut, der Gewalt und der Bewahrung von Gottes Schöpfung. Nun gestehe ich freimütig, dass ich von meinem ersten Besuch 1999 mit sehr zwiespältigen Eindrücken zurückgekehrt bin. Welche Vielfalt in jeder Beziehung, welche Gegensätze und wie viele unlösbar erscheinende Aufgaben! Aber ich erinnere mich auch an eine Schulklasse, die auf dem Boot mitfuhr, mit dem mir meine orthodoxen Gastgeber in Kerala die Schönheit der Küstenlandschaft zeigen wollten. Die Jungen und Mädchen zeigten mir ihre auf Englisch verfassten Lehrbücher. Und was fand ich da? Die Geschichte vom Rattenfänger von Hameln: the pied piper. Wir kamen sofort in ein lebhaftes Gespräch darüber, wo ich herkomme und was sie einmal werden wollen. Eine neugierige, lustige Gesellschaft war das. Und seitdem habe ich ein völlig anderes Bild gewonnen, verbunden mit großer Hoffnung.
Liebe Gemeinde, die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag hat in ihrer im September in Frankfurt am Main gehaltenen Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels davon gesprochen, wie der Gegensatz des Neuen zum Alten das Verhältnis von Amerika und Europa bestimmt, das nämlich das Neue das Alte hinter sich lassen will wie zeitweise Kinder ihre Eltern hinter sich lassen wollen. Aber, so füge ich hinzu, das gelingt nur teilweise. Und: wir sind eine große Weltfamilie, die gemeinsam handeln muss, wenn sie eine Zukunft haben will. Deshalb nehmen wir uns ein Beispiel an der Heilsgeschichte Gottes mit seinen Geschöpfen. Er will, dass wir im Frieden miteinander leben, ob in Europa, Amerika oder Asien. Das ist die Botschaft der Kirchen in der weltweiten Ökumene, von der wir ein kleiner, aber wichtiger Teil sind. Nicht einem engstirnigen Nationalismus gehört die Zukunft, sondern einem toleranten Geben und Nehmen zwischen den Völkern und Kulturen.
Jesus sagt einem Schriftgelehrten, der ihn nach dem höchsten Gebot fragt: "Höre Israel, der Herr unser Gott, ist der Herr allein, du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften.". Er sagt also mit einem Zitat aus dem 5. Buch Mose nichts völlig Neues, aber er zieht die Konsequenzen für das eigene Leben, nämlich ganzheitlich, nicht nur teilweise Gott lieben, Gott, den Herrn, der sich in der Geschichte in Jesus Christus als der Wegweisende offenbart hat. Die ganze Wahrheit ist noch im Werden, aber der Glaube hat sie schon erkannt.
Mit dieser Zuversicht beginnen wir das neue Kirchenjahr am 1. Advent, freuen wir uns auf Weihnachten und auf die frohe Botschaft, von der die christliche Gemeinde in Neu-Delhi und in Deutschland lebt. Amen.