Predigt im Abschiedsgottesdienst für Generalsuperintenden Reinhardt Richter
Wolfgang Huber
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.
I.
Es war Reinhardt Richters Flöte, die wir gerade gehört haben, gespielt von seiner Enkeltochter Ricarda. Auch so ist er unter uns an diesem Tag. Seine Töne, die Töne seiner Flöte lenken unsere Aufmerksamkeit hin zu dem Wort Gottes, auf das wir miteinander hören wollen.
Invokavit.
Er ruft MICH an, darum will ICH ihn erhören.
ICH bin bei ihm in der Not. ICH will ihn herausreißen und zu Ehren bringen.
ICH will ihn satt machen und will ihm zeigen MEIN HEIL.
Aus dem 91. Psalm stammen die Worte, die dem Sonntag Invokavit den Namen geben, dem ersten Sonntag in der Passionszeit. Ein Schalttag war der Sonntag Invokavit in diesem Jahr, ein besonderer Tag auch dadurch. Ein besonderer Tag ist dieser Sonntag vor allem dadurch, dass er unserem Ruf nach Gott selbst Raum gibt. Gott spricht als Ich in diesem Psalm; er nennt unser Rufen und nimmt es wahr. Von unserem Rufen sagt das göttliche ICH: „Er ruft MICH, darum will ICH ihn erhören.“
An diesem Sonntag Invokavit, am 29. Februar, kam beides zusammen. Nicht nur wir rufen zu Gott. Auch Gott selbst ruft. An diesem Tag hat unseren Bruder Reinhardt Richter zu sich gerufen. Niemand von uns hat damit gerechnet, auch er selbst nicht in diesem Augenblick. Rüstig war er bis zum letzten Tag, Aufgaben nahm er wahr, so lange er konnte. Auf die Rückkehr seiner lieben Frau wartete er an diesem Tag und hatte alles sorgfältig und liebevoll vorbereitet, wie es seiner Art entsprach. Mitten in dieser Erwartung ereilte ihn der Tod – ein plötzlicher und unfassbarer, aber doch auch ein gnädiger Tod, ein schmerzlicher Tod, der uns alle verstummen ließ, und doch auch der Abschluss eines Lebens, der uns an diesem Tag den Mund öffnet zum Dank.
An das Ende des Lebens von Reinhardt Richter fügt es sich gut, dass wir uns um ein Wort der Psalmen sammeln. In großer Dichte sind sie durch das Reden zu Gott und durch das Hören auf Gottes Wort geprägt. Dunkle Klage aus der Tiefe der Not verbindet sich in ihnen mit dem hellen Klang des Dankes für Gottes Führung und Geleit. Beides darf, ja soll auch in diesem Gottesdienst Raum haben. Beides gehört zusammen, wenn wir an unseren Bruder Reinhardt Richter denken. Heute hören wir auf diese Botschaft in den Worten des 91. Psalms, in den Worten, die seinem Todestag, dem Sonntag Invokavit, den Namen geben. Er ruft mich. Wir alle rufen zu Gott. In der Übertragung durch Moses Mendelssohn heißen diese Verse so:
Er ruft mich an, ich höre, bin in der Not bei ihm;
Entreiß ihn der Gefahr, und setz ihn hoch in Ehren.
Des langen Lebens satt,
Soll er mein Heil erblicken.
Dieses Psalmwort soll uns leiten, wenn wir heute von unserem Bruder Reinhardt Richter, dem Ehemann, dem Vater und Großvater, dem Mittelpunkt einer großen Familie, dem Freund und Seelsorger, dem Anwalt und Fürsprecher unserer Kirche Abschied nehmen. Gott hört uns; er steht uns bei; er ruft uns in sein Heil. Das sind die drei Zusagen, die uns in dieser Stunde des Abschieds trösten und aufrichten wollen.
II.
Gott hört uns. Das Ich Gottes sagt: Er ruft mich an, ich höre, bin in der Not bei ihm.
Mit unserem Rufen sind wir nicht allein. Unser Leben ist umfangen vom Hören Gottes, vom ersten bis zum letzten Atemzug. Das ist die Grundgewissheit unseres Lebens, die Grundgewissheit eines Lebens im Glauben.
In der Gestalt unseres Bruders Reinhardt Richter steht uns ein solches Leben vor Augen. Dankbar hat er selbst auf sein Leben geschaut. Sein 75. Geburtstag, der im vergangenen September über eine ganze Woche hin Anlass zum Feiern und zur Begegnung bot, wurde im Rückblick zu einer von Dank erfüllten Lebensbilanz. Weggefährten aus den verschiedenen Etappen sammelten sich noch einmal um ihn. Dieses Erleben bekräftige ihn in der Gewissheit, er könne sein Leben, wenn Gott es denn wolle, dankbar und getrost aus der Hand geben. Nur eines bekümmerte ihn bei diesem Gedanken: dass seine Nächsten traurig wären, seine Frau, die Kinder und Enkel, die Freunde und Weggefährten. Uns allen ruft er selbst an diesem Tag zu, dass wir seinen Tod im Licht der Auferstehung sehen, so wie es uns auch die Todesanzeige mit der Auferstehungsgraphik von Herbert Seidel nahe bringt. An diesem Sarg dürfen wir es verkündigen, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserm Herrn.
Gott hört uns. Das ist die erste Zusage dieses Tages.
III.
Gott steht uns bei. Das göttliche Ich sagt: Ich entreiß ihn der Gefahr und setze ihn hoch in Ehren.
Reinhardt Richter, der so dankbar auf die 75 Jahre seines Lebens zurückblickte, hatte Not gekannt und wusste, was es bedeutet, von Gott herausgerissen und zu Ehren gebracht zu werden. In Kontopp in Schlesien wurde er als drittes von acht Kindern in einem Pfarrhaus geboren, in Prittag und Breslau verbrachte er seine Schulzeit. Am Ende des Krieges fand die Familie in Oberstorf im Allgäu Zuflucht. Auch der Vater, der nach dem Krieg erst in unserer berlin-brandenburgischen Kirche Dienst tat, fand schließlich Aufnahme in die bayerische Landeskirche. Aber Reinhardt Richter fühlte sich dem Osten Deutschlands verbunden. Schon sein Erstes Theologisches Examen legte er in unserer Kirche ab. Und schon bald zeigte sich die besondere Berufung, die ihm eigen war. Bereits in einem Votum von Propst Dr. Heinrich Grüber, bei dem Reinhardt Richter Lehrvikar war, ist das deutlich zu erkennen. Dort heißt es:
Ich habe die Tätigkeit von Reinhardt Richter mehr als die eines Prädikanten (denn) als die eines Lehrvikars aufgefasst. Mit einer Ausbildung habe ich mich nicht befassen können. Wohl habe ich alle dienstlichen Angelegenheiten mit ihm besprechen können. Richter war bei weitem der beste Vikar, den ich seit langem gehabt habe. Mit einer tiefen innerlichen Art verband er eine gute theologische Durchbildung. Mit besonderer Freudigkeit hat er sich auf die Hausbesuche verlegt und hat wohl in seiner kurzen Tätigkeit, was den inneren Aufbau der Gemeinde angeht, mehr geleistet als viele andere. Die schlichte und bescheidene Art hat ihm die Herzen gerade auch der kleinen Leute in unserer Gemeinde gewonnen. Wir haben ihn nur ungern aus unserer Arbeit scheiden sehen.
Am 10. Mai 1954 ist das geschrieben, zwei Monate vor der Ordination von Reinhardt Richter, die sich am 4. Juli dieses Jahres zum fünfzigsten Mal jährt. Ich weiß in dieser großen Gemeinde viele, die jedes Wort, das da vor fünfzig Jahren geschrieben wurde, aus eigenem Erleben und aus jüngster Zeit bekräftigen können. Was er alles konnte, ohne dass jemand es ihn lehrte! Vielleicht ist der große Einsatz für das wendische Erbe, bis hin zum wendischen Gesangbuch, dafür ein deutliches Beispiel. Noch sechs Tage vor seinem Tod hat er darüber in seiner Gemeinde in einem Vortrag berichtet. Oder wie wichtig ihm Hausbesuche waren: Den Gemeindebesuch in seinem eigenen Wohnquartier hat er in den letzten Jahren sich selbst zur Pflicht, nein: zum Herzensanliegen gemacht und darüber sorgfältig Buch geführt – ein Ruheständler in Reichweite bis zum letzten Augenblick. Der innere Aufbau der Gemeinde war ihm wichtig: in der ersten Gemeinde in Dissen bei Cottbus, in die er vor genau fünfzig Jahren entsandt wurde, in der Gemeinde und im Kirchenkreis Seelow, wo er 1960 Pfarrer und Superintendent wurde, hier in Köpenick, wo er genau vor dreißig Jahren, zum 1. Februar 1974 das Pfarramt und das Amt des Superintendenten übernahm und so schnell heimisch wurde, in Cottbus, wohin ihn unsere Kirche 1982 in der Nachfolge von Gottfried Forck als Generalsuperintendenten berief. Und vor allem (und ich zitiere immer noch Heinrich Grüber): Eine innerliche, schlichte und bescheidene Art, verbunden mit einer guten theologischen Durchbildung kennzeichneten ihn. Jedem, dem er begegnete, war Reinhardt Richter ein offener, hörbereiter Gesprächspartner. Für jeden waren die Gespräche mit ihm oder die Briefe, die er wechselte, ein besonderes Geschenk. Aus der Generation seiner Enkelkinder habe ich das mit besonderer Bewegung gehört. Aber ich habe es auch selbst immer wieder erlebt, vom ersten Gespräch vor nun bald zehn Jahren an. Sein Glaube blieb so lebendig bis zum letzten Augenblick, weil er ein leidenschaftlicher Theologe war bis zum letzten Atemzug. Jede Predigt arbeitete er neu aus der Heiligen Schrift; der Rückgriff auf alte Entwürfe war ihm fremd. Wieder und wieder bedachte er, was er sagen wollte, nein sagen musste. Auf einem Bild, das ich von ihm fand, ist er in seinem Cottbuser Dienstzimmer zu sehen, die vierzehn Bände von Karl Barths Kirchlicher Dogmatik hinter sich. Die großen Quellen der Theologie waren ihm keine Last, sondern tägliche Nahrung. Wie sich bei ihm die Nähe zu den Menschen mit theologischer Leidenschaft verband, macht ihn zum Vorbild auch für kommende Generationen.
Aber das Schwere blieb ihm nicht erspart. Schwer war manchmal auch der Dienst, in Dissen zum Beispiel, wo er die nötigen Wege bei Wind und Wetter mit dem Motorrad, mit einer „AWO“ nämlich, zurücklegte, das Konsistorium einen Zuschuss für ein Auto aber nicht bereitzustellen vermochte. Ein Dorf war das damals, wie Richter schreibt, das vom Verkehr gänzlich abgeschnitten war, ohne Bäcker oder Fleischer, insbesondere für die Pfarrfrau ein Ort großer Einsamkeit. Die Töchter Annekathrin und Eva Christina wurden damals geboren; Friederike kam in Seelow hinzu. Doch dieses Glück wurde überschattet durch die schwere Krankheit der ersten Ehefrau Margit Richter, die 1972 im Alter von nur vierzig Jahren starb.
Mit dem Neubeginn in Köpenick verband sich dann bald eine neue Lebensgemeinschaft mit Christa Schmidt, durch die zu den drei Töchtern noch drei Söhne in Reinhardt Richters Leben traten – Clemens, Andreas und Thomas. Ein großer Kreis von Angehörigen sammelte sich so immer wieder um ihn; nun in diesem Jahr, um Abschied zu nehmen von einem Menschen, der Schweres erlebt hat und dem Großes geschenkt wurde.
Dass er zu Ehren gekommen sei, hätte er stets weit von sich gewiesen. Und doch wuchs ihm in unserer Kirche eine ungewöhnliche Bedeutung zu. Über mehr als drei Jahrzehnte nahm er als Superintendent und Generalsuperintendent – und in beiden Ämtern zugleich als Mitglied der Kirchenleitung – an der Leitungsverantwortung für unsere Kirche teil. Der Dienst an Wort und Sakrament aber stand immer in der Mitte. Wenn er Urlaub hatte, wandte sich seine Fürsorge über viele Jahre der verwaisten Gemeinde Stepenitz in der Prignitz zu. Fürsorgliche Briefe aus dem Konsistorium erhielt der Köpenicker Superintendent, weil man den Eindruck hatte, dass er sich über die Maßen mit dienstlichen Pflichten belud. Aber wo Menschen ihn brauchten, nahm er sich Zeit und gab ihren Anliegen Raum.
Der Radius war weit. Der frühere Bischof von Swaziland Richard Schiele hat in diesen Tagen daran erinnert. Sein Besuch in Köpenick im Jahr 1980 bildete den Auftakt zu einer fruchtbaren Partnerschaft zwischen Köpenick, Charlottenburg und Swaziland, für die Richard Schiele mit den Worten des 92. Psalms dankt, des Nachbarpsalms zu dem unseren:
Die gepflanzt sind im Hause des Herrn, werden in den Vorhöfen unseres Gottes grünen. Und wenn sie auch alt werden, werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein, dass sie verkündigen, wie der Herr es recht macht. Er ist mein Fels, und kein Unrecht ist an ihm.
So reicht die Trauergemeinde des heutigen Tages bis nach Südafrika, bis in den Kirchenkreis Swaziland in der Ostdiözese der dortigen Evangelisch-Lutherischen Kirche.
In der Zeit als Generalsuperintendent hat Reinhardt Richter sein weit gespanntes Engagement noch fortgesetzt: im Kleinen und Verborgenen im Einsatz für viele Menschen, vor allem vor 1989, im Großen und Erkennbaren dann während der Wende am Runden Tisch von Cottbus, im Einsatz für die Gründung der Technischen Universität in Cottbus, in der Fürsorge für die Menschen im Braunkohlegebiet und die umstrittenen Fragen ihrer Zukunft, in der Anwaltschaft für die wendische Überlieferung und das wendische Glaubenszeugnis. Dass das Ehren gewesen wären, hätte Reinhardt Richter immer bestritten. Aber wir dürfen bekennen: Gott hat ihn zu Ehren gebracht. Er hat seine Gaben in Anspruch genommen und seinen Dienst gewürdigt.
Gott hört uns. Gott steht uns bei.
IV.
Und schließlich: Gott ruft uns in sein Heil. Das göttliche Ich sagt: Des langen Lebens satt, soll er mein Heil erblicken.
Dass Menschen lebenssatt sterben dürfen, gehört zu den besonderen biblischen Verheißungen. Nicht immer wird es gewährt. Krankheit und unzeitiger Tod treten dazwischen. Rohe terroristische Gewalt vernichtet Menschenleben, wie wir es in diesen Tagen wieder in erschütternder Weise erlebt haben. Wenn einem Menschen ein erfülltes Leben geschenkt wird, erfahren wir das als Gnade; Gott zeigt daran, wie er es mit unserem Leben überhaupt meint.
Aber auch in einem solchen erfüllten Leben bleiben Rätsel, ungelöste Fragen, ein offenes Ende. Solche Fragen bleiben auch uns, wenn wir an den plötzlichen Tod unseres Bruders Reinhardt Richter denken, an die Gespräche, die nicht mehr geführt, die Pläne, die nicht mehr ausgeführt, die Predigten, die nicht mehr gehalten wurden.
All diese Fragen dürfen wir in Gottes Hand legen. Wir tun es in der Gewissheit, dass Reinhardt Richter nun Gottes Heil erblickt und in Gottes Hand geborgen ist. Wir tun es in der Gewissheit, dass Christus all unsere ungelösten Fragen ans Kreuz getragen hat und dass sie in der Auferweckung Christi geborgen sind bei Gott. Wir tun es in der Zuversicht, dass sich auch in unserem Leben bewähren wird, was wir am Beispiel unseres Bruders Reinhardt Richter erlebt haben: Gott hört uns; Gott steht uns bei; Gott ruft uns in sein Heil. Amen.