Als Kinder des Lichts, Predigt zum Sonntag Okuli (Eph 5,1-9) in der Hauptkirche St. Michaelis zu Hamburg

Robert Leicht

Liebe Gemeinde!

Der Predigttext für den heutigen Sonntag Okuli steht im 5. Kapitel des Epheserbriefes in den Versen 1-9:

1 So folgt nun Gottes Beispiel als die geliebten Kinder 2 und lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat und hat sich selbst für uns gegeben als Gabe und Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch. 3 Von Unzucht aber und jeder Art Unreinheit oder Habsucht soll bei euch nicht einmal die Rede sein, wie es sich für die Heiligen gehört. 4 Auch schandbare und närrische oder lose Reden stehen euch nicht an, sondern vielmehr Danksagung. 5 Denn das sollt ihr wissen, dass kein Unzüchtiger oder Unreiner oder Habsüchtiger - das sind Götzendiener - ein Erbteil hat im Reich Christi und Gottes. 6 Lasst euch von niemandem verführen mit leeren Worten; denn um dieser Dinge willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder des Ungehorsams. 7 Darum seid nicht ihre Mitgenossen. 8 Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Lebt als Kinder des Lichts; 9 die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.

Wer könnte diesen Abschnitt aus dem Epheserbrief hören, ohne darüber – im Blick auf sein eigenes Leben – zutiefst zu erschrecken? Wenn das alles wirklich Wort für Wort gelten sollte, und zwar in der Schärfe, in der das hier gesagt wurde, ja, dann müsste man entweder ein perfekter Heiliger sein – oder alle Hoffnung fahren lassen.
Nicht nur, dass wir um Unzucht und um jede Art von Unreinheit einen weiten Bogen zu machen haben – und natürlich auch um die Habsucht. Nein, nicht einmal die Rede soll davon sein. Da frage ich Sie nur: Aber was lesen Sie denn – welche Zeitungen und Romane zum Beispiel? Und was sehen Sie denn im Fernsehen? Da genügt es nicht nur, einfach zu sagen: Ich will hier raus! Da darf man überhaupt nicht ’reinschauen. Und auf den Straßen und in den Schulen, da müsste man – ganz gegen den heutigen Trend – Kopftücher nicht etwa ablehnen, sondern sie geradezu fordern. Wenn nicht noch mehr… Und schandbare, närrische oder lose Reden – na, bitte, was sonst wären denn die Zutaten erfolgreicher Talk-Shows?

Entweder perfekter Heiliger oder total Verlorener. Entweder Himmel oder Hölle – tertium non datur: Ein Drittes gibt es nicht! Zwischen Himmel und Hölle gibt es keinen Kompromiss – und zwischen beiden Zielen: nichts, auch keinen Mittelweg. So hört sich das an…

Dies alles erinnert mich an jenes fromme, in vielen christlichen Häusern meiner Kindheitszeit hängende und erschreckende Bild vom schmalen und vom breiten Weg. Auf dem breiten Weg findet sich all das Volk, das wir von unseren Straßen und Gazetten kennen (und auch ganz hier in der Nähe auf der Reeperbahn finden können). Die leben in Saus und Braus – und am Ende fahren sie schlotternd zur Hölle, rettungslos. Die andern aber, die wenigen, die sich auf dem schmalen Weg mühen, die auf Erden sparen und darben und heiligmäßig leben, die werden am Ende belohnt, wie es bei Matthäus heißt:

LUT Matthew 7:14 Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind's, die ihn finden!

Wenige Exempel der protestantischen Bilderwelt dürften so vielen Kindern und Heranwachsenden so viele Ängste eingejagt haben. Gerade jungen Menschen in den Sensationen und Ratlosigkeiten der Pubertät musste ein solches Bild den Höllenschlund der Sünde als ihren Bestimmungsort vor Augen geführt haben. Und wie sollte der protestantische Hausvater angesichts dieses Bildes gedacht haben, wenn er gerade wieder für sein Unternehmen eine ordentliche gewinnträchtige Bilanz unterzeichnet hatte? War er nun schon auf den breiten Weg getreten? Oder jener religiös eingefärbte, engherzige Gewerbefleiß in manchen reformierten Milieus – was das wirklich jener schmale Weg gewesen. Wie auch immer, dieses Bild von breiten und vom schmalen Pfad war eine Ikone der Drohung: Nur keinen Mittelweg!

Entweder Himmel oder Hölle, entweder Heiliger oder verlorener Sünder – nur kein Mittelweg! In dieser Schärfe würden wir heute in der Kirche und als Kirche kaum noch reden, es sei denn, es wollte sich jemand als pietistisch, als evangelikal oder gar als hoffnungslos fundamentalistisch outen. Trennung und Schärfe – und Trennschärfe! – haben wir als Kirche weithin aufgegeben. Wir beerdigen schon mal Leute, die mit Aplomb aus der Kirche ausgetreten sind – auch dann, wenn sie aus einer anderen Kirche ausgetreten sind, die aber ihrerseits solche Leute nicht kirchlich beerdigen würde. Wiederverheiratung Geschiedener – wenn das die katholische Kirche, wenigstens offiziell, standhaft verweigert, dann halten wir das für herzlos. Wenn – wie kürzlich -  im Rheinland ein Presbyterium, also der Kirchenvorstand sich weigert, ein Paar zum Abendmahl zuzulassen, das zusammenlebt, obwohl beide noch mit ihren ursprünglichen Partnern verheiratet sind – dann, ja: dann wird der Kirchenvorstand durch die Kirchenleitung abgesetzt.

Es scheint geradezu so, als sei dieser doch so verfluchte Mittelweg heutzutage geradezu zur kirchlichen Haupt- und Paradestraße geworden und als schleiche die Kirche, vor allem aber die evangelische Kirche, auf einem ziemlich breiten Weg dahin. Und als sei sie dabei nicht einmal auf dem Vormarsch, sondern auf einem kläglichen Rückzug. Ja, um so kleiner die Zahl der Kirchenmitglieder wird, desto breiter scheint der Weg der Kirche zu werden. (G’rade drum – sagt da mancher.) Irgendwie erinnert das alles an den Titel von Alexander Kluges zweitem Kinofilm: "In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod" .

Und als Pointe wäre noch dieses anzufügen: Man kann heutzutage durchaus Nachdrucke jenes erwähnten Bildes vom breiten und schmalen Weg finden. Nun freilich wird es nicht mehr als strenge Mahnung wahrgenommen, sondern als Kuriosität belächelt, als Poster auf einen verklemmten Protestantismus ironisiert.

5 Denn das sollt ihr wissen, dass kein Unzüchtiger oder Unreiner oder Habsüchtiger - das sind Götzendiener - ein Erbteil hat im Reich Christi und Gottes. 6 Lasst euch von niemandem verführen mit leeren Worten; denn um dieser Dinge willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder des Ungehorsams. 7 Darum seid nicht ihre Mitgenossen.

Ist das nun ein hoffnungslos veraltetes, pastoraltheologisch völlig unbrauchbar gewordenes Drohwort, das uns die Leute schließlich gänzlich aus der Kirche treibt? Müssen wir nicht tapfer Kompromisse mit dem Zeitgeist und in dieser geistlosen Zeit schließen, damit wir wenigstens noch ein Körnchen unserer Wahrheit in den Hauptstrom der Beliebigkeit einschmuggeln können? Oder müssten wir – ganz im Gegenteil! – den Leuten nicht endlich wieder viel kräftiger drohen und ihnen wieder mächtig die Leviten lesen? Müssten wir nicht die gute alte Zeit – pardon: die gute alte Trennschärfe wieder herstellen? Müssten wir nicht kompromisslos die verlorengegangene Sittenstrenge...

3 Von Unzucht aber und jeder Art Unreinheit oder Habsucht soll bei euch nicht einmal die Rede sein,

... einschärfen, um jeden Preis?

Ich halte dies, mit Verlaub, nicht nur für eine Scheinalternative, sondern – so oder so – für ein grobes Missverständnis unseres Predigttextes. Und für eine fatale Verwechslung von Ursache und Wirkung.

…wie es sich für die Heiligen gehört…

Dass sich etwas nicht gehört, das kennen wir ja als Mahnung. Das gehört sich nicht für einen Ehrenmann, für eine anständige Frau, für einen Pfarrer… In solchen Mahnungen wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen einer bestimmten sozialen oder religiösen Rolle oder Position – und einem dazu passenden (oder eben nicht passenden) Verhalten. Dass es diesen Zusammenhang zwischen Rolle und Verhalten gibt, das soll nun keineswegs bestritten werden – im Gegenteil, darauf kommt es unserem Predigttext ja gerade als Pointe an. Und wer die Pointe vergisst, der macht den Witz oder den Text kaputt. Aber mitunter liegt die Pointe eines Witzes oder Textes im Gegenteil dessen, was wir zunächst vermuten.

Reden wir also nicht sofort über das gehörige Verhalten, sondern zuerst über die Rolle.

…wie es sich für die Heiligen gehört…

Sind wir denn wirklich Heilige? Und was heißt hier, an dieser Stelle unseres Predigttextes: Heilige?

Offenkundig sind wir keine Heiligen! Erst recht nicht, wenn jemand sich fragen sollte, zu welcher Rolle und Stellung denn unser Verhalten gehört und also passt, käme der auf den Gedanken, unser Verhalten gehöre sich für Heilige – und deshalb seien wir vielleicht sogar welche.
Nein, von unserem Verhalten führt kein Weg zum Heiligenstand. Und zwar weder was unser bisheriges tatsächliches Verhalten angeht noch was unser künftig mögliches Verhalten angeht. Weder haben wir uns den Titel Heiliger verdient – noch können wir uns den je verdienen, ja: auch nur verdienen wollen.

Aber nun schreibt der Autor des Epheserbriefes hier das Wort „Heiliger“. Warum? Hat er sich etwa gründlich geirrt! Das sei ferne von uns!!
Dennoch müssen wir uns dieses Wort und seinen Zusammenhang etwas näher anschauen. Denn offenkundig steht hier ja nicht, wir sollten uns so und so verhalten, damit wir den Stand eines Heiligen erreichen können. Sondern es heißt umgekehrt: Ihr seid Heilige – und dann verhaltet Euch bitte auch so. Dass wir aber Heilige sind, das verdanken wir nicht uns selber und unserem Handeln, sondern allein dem vorauseilenden und voraus-heilenden Handeln Gottes:

1 So folgt nun Gottes Beispiel als die geliebten Kinder 2 und lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat und hat sich selbst für uns gegeben als Gabe und Opfer…8 Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Lebt als Kinder des Lichts; 9 die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.

Nichts kommt von unserem Handeln und Verhalten – alles aber von der Liebe Gottes. Allein aufgrund dieses voraus-heilenden Handeln Gottes in Christus nennt uns der Epheserbrief „Heilige“. Übersetzen wir dieses für Protestanten ohnedies etwas problematische Wort „Heiliger“ also genauer so: Wir sind „Ge-Heiligte“, allein durch Gottes voraus- und nacheilende Liebe „Geheiligte“ – oder auch: Geheilte. Die frommen Juden hatten schon vor Zeiten ihre eigenen theologischen Schlüsse gezogen, nämlich von ihrem eigenen Verhalten auf ihr künftiges Ergehen. Der Epheserbrief will umgekehrt einen Schluss ziehen von unserem Ergehen auf unser nacheilendes Verhalten, von unserem Ergehen in der vorauseilenden Gnade Gottes.

Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Lebt als Kinder des Lichts…

Wir können in dieser hereinbrechenden Abendstunde ruhig zu diesem Bild greifen: Wie der Mond finster ist, wenn er nicht von der Sonne bestrahlt wird, so sehen wir finster aus, ja: so sieht es um uns finster aus, wenn wir nicht von der Liebe Gottes bestrahlt werden. Aber wenn wir von Gott angeleuchtet, also: geheiligt werden, dann endet unsere Mondfinsternis – dann strahlen wir. Aber nicht etwa aus uns heraus, sondern von Gott her! Dann eben sind wir Licht, freilich „Licht in dem Herrn.“

…nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Lebt als Kinder des Lichts…

Unser Predigttext, der uns zunächst so bedrohlich erscheinen konnte in seiner vermeintlich scharfen Alternative „Heiliger oder rettungslos Verfallener, entweder Himmel oder Hölle“ erweist sich also in Wirklichkeit als eine uns weitergegebene Liebeserklärung Gottes: Begreift doch – um Gottes willen! –  die Liebe, die Gabe und das Opfer, das Gott Euch zugewandt hat. Und dann sollte es doch ja: wirklich mit dem Teufel zugehen, wenn Ihr Euch weiter von Eurer finsteren Selbst-Liebe gefangen nehmen lassen wolltet. Und Habsucht, ja auch – sei’s drum – Unzucht und Unreinheit – was sind das denn anderes als Ausdruck jener alles verfinsternden Selbstliebe? Wer der Habsucht fröhnt, der verhält sich, wie wir es heute sagen würden: egoistisch. Der Egoist aber – der ist von seiner Selbstliebe aufgefressen. Und wer Unzucht treibt, der liebt eben nichts anderes als – sich selbst, und nicht etwa ein anderes Geschöpf Gottes, nicht also Gottes geliebtes Mitgeschöpf. Und wer sich egoistisch, ja: terroristisch in seine eigenen politischen und religiösen und nationalistischen Ideologien verliebt, der bringt dann schließlich Gottes Mitgeschöpfe um – rein  aus mörderischer Hab- und Geltungssucht, wie wir das neuerlich in Madrid haben so entsetzlich deutlich sehen müssen.

Von Gott geliebt sein, dass passt eben nicht zu einem Verhalten, das sich in lauter Selbstliebe verfinstert. Wir können uns also nicht vornehmen, aus eigener Kraft zu lieben und zu leuchten – und heilig zu werden. Aber wir können uns von dem Autor des Epheserbriefes durchaus fragen lassen: Wie passt das zusammen: Gott liebt Euch grenzenlos, bis in seinen eigenen Tod, dessen wir in dieser Passionszeit gedenken, Gott lässt Euch also in seiner Liebe hell erstrahlen – und Ihr wollt Euch weiterhin so verhalten, als sei Euch das nicht geschehen? Wollt Ihr denn wirklich Gottes Liebe Lüge strafen, wollt Ihr wirklich Gottes Licht verfinstern, und zwar, als könntet Ihr das wirklich? Gottes Liebe nimmt uns also sehr wohl in Anspruch – aber eben immer und nur so, dass sein Zuspruch dem weit vorauseilt.

Wollten wir also aus eigener Kraft Heilige sein und so tun (und uns so verhalten), dann wäre das ebenso lächerlich, wie der Versuch, des Mondes aus eigener Kraft zu leuchten. Aber wenn der Mond sich dem schöpferischen Licht der Sonne entziehen wollte, dann wäre das nicht minder lachhaft, närrisch – und tödlich. Und eigentlich unmöglich.

Also – um Gottes und Christi willen:

Lebt als Kinder des Lichts; 9 die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.

Amen.