"Ihr wart alle schreckliche Sünder!" - Predigt in St. Michaelis zu Hamburg über Epheser 2,4-10
Robert Leicht
Eph. 2:4 Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, 5 auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht - aus Gnade seid ihr selig geworden -; 6 und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus, 7 damit er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwenglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus. 8 Denn aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, 9 nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme. 10 Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen.
Dieser – zugegeben! – ja nicht ganz einfach zugängliche Predigttext setzt merkwürdig ein – als hätten jene, die ihn ausgewählt haben, da etwas abgeschnitten. Und zwar nicht am Ende, sondern am Anfang. Der Text setzt ein mit den Worten:
Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat…
Bevor also der Brief an die Epheser die Taten, die eine Tat Gottes rühmt, hat er etwas ganz anderes vorausgestellt, nämlich dieses:
Eph. 2:1 Auch ihr wart tot durch eure Übertretungen und Sünden, 2 in denen ihr früher gelebt habt nach der Art dieser Welt, unter dem Mächtigen, der in der Luft herrscht, nämlich dem Geist, der zu dieser Zeit am Werk ist in den Kindern des Ungehorsams. 3 Unter ihnen haben auch wir alle einst unser Leben geführt in den Begierden unsres Fleisches und taten den Willen des Fleisches und der Sinne und waren Kinder des Zorns von Natur wie auch die andern.
Doch selbst diese dem Heilshandeln Gottes vorangestellte Verdammung des tödlichen Lebens in Sünde fängt an mit einem Wort, das nun seinerseits nochmals auf einen anderen Sachverhalt hinweist:
Auch ihr wart tot durch eure Übertretungen und Sünden…
Da gibt es also Leute, die anderen nämlich, die immer noch tot sind durch ihre Übertretungen und Sünden – und dann gibt es die anderen, nämlich: uns – die waren tot durch ihre Übertretungen und Sünden. Wir also waren zwar tot durch unsere Sünden, wir sind es aber – nicht mehr. Und was können wir dafür? Der Predigttext sagt es nur zu deutlich: Nichts!
8 Denn aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch…
Liebe Gemeinde,
je näher man diesen Text anschaut – desto unheimlicher, ja ungemütlich wird einem dabei. Denn die Voraussetzungen dieses Gotteslobes wollen dem modernen Menschen kaum gefallen.
Da ist zum einen – als erstes skandalon! – die Unterscheidung: Die andern – und wir. Die anderen sind immer noch tot in Sünde und Übertretung – wir sind es längst nicht mehr.
Ärgerlich für uns moderne Zeitgenossen ist dieser Status der Exklusivität, althergebracht gesprochen: der Auserwählung. Und was für eine Auserwählung:
Eph. 1:4 Denn in ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war…
Noch bevor wir lebten, bevor wir einen Schnaufer, geschweige denn eine Sünde taten, waren wir auserwählt – die anderen aber nicht.
Liebe Gemeinde, so mochte ja der Absender des Briefes noch an die Adresse der Epheser schreiben. Er wollte seine Leser nämlich vor einem anderen Exklusivitätsanspruch in Schutz nehmen. Er wollte die Epheser Gemeinde über den Makel jener Zeit trösten, keine beschnittenen Juden-Christen, also keine zur Urgemeinde konvertierte Juden zu sein, sondern arme Heiden-Christen – Leute, die aus dem religiösen Nichts zur Christenschar gestoßen sind: Alle seid ihr auserwählt, von Anfang an …
Aber heute? Können Christen noch so reden, dass sie eine Grenze ziehen zwischen sich und den anderen – zwischen denen, die auserwählt sind, und denen, die es nicht sind? Vor allem: Könnten sie es je so tun, dass sie eine Grenze ziehen zwischen allen Christen, also auch jenen Christen, die zuvor gesetzesfromme Juden gewesen waren, und jenen vielen Menschen, die immer noch und immer nur – Juden waren, sind und bleiben wollen?? Das wollen wir, nach all der christlichen Judenfeindschaft und –verfolgung und erst recht nach dem anti-religiösen, rein rassistischen Holocaust doch wohl nicht mehr sagen. Solche Worte müssten uns im Halse stecken bleiben.
Und gerade angesichts unserer Vergangenheit ist doch mindestens uns deutschen Christen auch diese konkrete Rede in der Vergangenheitsform wohl zu Recht vergangen:
Eph. 2:1 Auch ihr wart tot durch eure Übertretungen und Sünden, 2 in denen ihr früher gelebt habt …
Überhaupt, dass wir Menschen jemals besser sein könnten, als wir es früher waren – oder noch schärfer: Dass wir früher ganz schlecht waren – und heute ganz und gar gut sind, das ist eine Unterscheidung zwischen schwarz und weiß, eine geradezu fundamentalistische Schwarz-Malerei. Die nehmen wir uns selber nicht mehr ab. Ohnehin haben wir es nicht mehr mit den scharfen Unterscheidungen: zwischen gut und böse, zwischen fromm und unfromm, zwischen gläubig und ungläubig, schon gar nicht zwischen katholisch und evangelisch. Allenfalls noch in der eigenen Kirche: zwischen evangelisch und evangelikal, zwischen konservativ und liberal, zwischen feministisch und patriarchalisch, lutherisch und reformiert… Ja, die Menschen sind ein merkwürdig Völklein: Die machen ihre Unterschiede am liebsten dort, wo es keine geben sollte. Ansonsten aber lassen sie fünfe grade sein – und alle Katzen grau.
Nun kommt aber noch ein zweites Skandalon hinzu – und da verfangen wir uns in der selbstgestellten Falle, in einer Falle, aus der uns letztlich doch, wir werden das noch sehen – nur unser Predigttext befreien kann.
Wir modernen Menschen glauben nämlich, zum einen, nicht wirklich an die Verbesserung des Menschengeschlechtes: Dass wir gestern Sünder waren und tot in aller unserer Übertretung, dass wir aber heute das alles nicht mehr sein sollen, als einzelne Menschen, als Volk, als Gattung – das kommt uns dann doch eher merkwürdig vor. Wo sieht man denn derlei sich vollziehen? Schon eher glauben wir, dass der Mensch an sich ganz gut sein könnte – dass er aber durch soziale Bedingungen dann verdorben und verzogen wird.
Noch etwas anderes gefällt dem modernen Menschen nicht: Die Vorstellung, er könne in Sünde und Übertretung jemals tot sein, er könne jemals schlechterdings in Sünde und Übertretung leben. Zusammengefasst vielleicht so: Wir glauben schon deshalb nicht an eine fundamentale Veränderung und Verbesserung des Menschen – weil wir gar nicht wahrhaben wollen, dass der Mensch (und zwar nicht irgendein Mensch, sondern gerade auch, ja gerade ganz konkret wir selber) jemals so total schlecht sein könnte, so verworfen sein könnte, dass man von ihm sagen müsste:
Auch du bist – und zwar wie jeder – tot durch deinen Übertretungen und Sünden, in denen du lebst nach der Art dieser Welt, unter dem Mächtigen, der in der Luft herrscht, nämlich dem Geist, der zu dieser Zeit am Werk ist in den Kindern des Ungehorsams.
Na, das geht eben doch ein bisschen zu weit, nicht wahr: Das ist eben Fundamentalismus pur.
Dies alles erinnert mich an eine Predigt, die ich vor nun exakt auf den Monat, vielleicht sogar auf den Tag genau vor 35 Jahren an der Westküste Schottlands gehört habe. Der gute Mann und Schotte predigte fast eine dreiviertel Stunde lang nur einen immer wiederholten, immer neu illustrierten Satz – vielleicht hatte er sogar denselben Predigttext zur Hand? Und dieser Satz lautet, in der Sache niemals variiert:
You all are dreadful sinners! – Ihr seid alle schreckliche Sünder! In einer schon monumentalen Monotonie: Because you all are dreadful sinners!
Nicht nur die heutige, mitunter weichgespülte Predigtlehre würde das wohl kaum als glückliche Darbietung des Evangeliums durchgehen lassen. (Aber dürften wir dann überhaupt noch über den Epheserbrief predigen – mit all seinen schroffen Unterscheidungen?)
Trotzdem ist mir diese Predigt, wie man sieht, recht gut haften geblieben. Freilich nicht nur als kurioses Negativ-Beispiel! Denn wenn wir uns einmal wirklich und unverstellt auf unsere Beschaffenheit, auf das Wesen und Motiv unserer Taten, auf das Muster, ja: auch das Grundmuster unseres Verhaltens einlassen – kommt uns dann nicht doch langsam, heimlich und umheimlich die Gefangenschaft, die Verstrickung in mancherlei Schlingen den Sinn, die mindestens die Potenz zum Tode erkennen lassen, zum Ersticken in all den Stricken? Entdecken wir dann nicht viel Verkehrtes, Verdrehtes in unserem Leben – das sich immer weiter dreht und verdreht?
Und glauben wir wirklich, wir könnten diesen Sachverhalt verdrängen? Vielleicht leben mitten unter uns – in dieser Gesellschaft, in dieser Kirche, in diesem Gottesdienst, in uns selber – mehr Menschen, als wir ahnen, die sich derart heillos gefangen, befangen und verfolgt wissen – und die diesen Alpdruck nicht abschütteln können, schon gar nicht aus eigenen Kräften, im Gegenteil: Ein Alpdruck, der sich immer fester setzt, je wehrloser und heilloser man ihn verjagen möchte.
Und dann klingt dieser schottische Satz gar nicht mehr so kurios und verfehlt: Vielleicht sind wirklich schreckliche Sünder – auf schreckliche Weise Gefangene der Sünde und Übertretung?
You all are dreadful sinners! – Das hört sich jedenfalls viel realistischer an als das blanke Gegenteil, das heute so oft verbreitet wird: Ihr seid doch alle gut drauf! Ihr seid doch alle gut! Passt nur gut auf Euch auf!
Das also ist die Lage in der wir uns befinden. Und in die hinein unser Predigttext spricht. Er sagt uns: Auch dort, wo Ihr selber (und aus eigener Kraft) nichts ändern könnt an all dem Verfehlten und Verdrehten – selbst dort ist noch nicht aller Tage Abend. Ja, noch mehr – und erst recht: Solange Ihr selber Euch von diesem Alpdruck befreien wollt – solange wird es finster bleiben, und sogar noch finsterer werden.
Vergessen wir also für einen Augenblick all das vielleicht so Merkwürdige, worauf unser Predigttext zurückweist – schauen wir auf das, worin er nach vorne weist. Dass da überhaupt die Rede davon ist und die Rede davon sein kann, es gäbe eine Möglichkeit, all diesen Verstrickungen und Verdrehungen zu entkommen – und zwar ganz ohne eigenes Zutun, ja geradezu: nur ohne eigenes Zutun: Ist das nicht ein Wunder für sich? Ist nicht allein die Tatsache, dass davon geschrieben und dass das geglaubt werden kann, ein Keimling der Befreiung?
Nicht wahr, die christliche Sündenpredigt – auch das immer wiederkehrende: You all are dreadful sinners! – das hat selber etwas Verkehrtes an sich, jedenfalls dann, wenn daraus folgen sollte: Ihr müsst Euch endlich bessern aus eigener Kraft. Reißt Euch endlich zusammen!! Diese Art von angeblich christlicher Sündenpredigt ist schäbiger Moralismus.
Aber genau so spricht unser Epheserbrief in seiner befremdlichen Sprache und Strenge über die Sünde – gerade nicht! Denn unser Predigttext erklärt die Sünde, erklärt all das Tödlich Verkehrte und Verdrehte in unserem Leben als bereits überwunden. Und das eben nicht durch menschlich-übermenschliche moralische Anstrengung an uns selbst, sondern durch Gottes freie Zuwendung und liebevolle Gnade – selbst zu uns. Man muss sich das nur gefallen lassen – und dran glauben. Und dann, in diesem befreienden Augenblick gilt dann wirklich der Volksspruch: Wer’s glaubt, wird selig!
Eph. 2:8 Denn aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es…
Amen.