Gottes doppelte Reue - Predigt über 1. Mose 8, 18-22 am 20. Sonntag nach Trinitatis in der Hauptkirche St. Michaelis zu Hamburg
Robert Leicht
Genesis 8:18 So ging Noah heraus mit seinen Söhnen und mit seiner Frau und den Frauen seiner Söhne, 19 dazu alle wilden Tiere, alles Vieh, alle Vögel und alles Gewürm, das auf Erden kriecht; das ging aus der Arche, ein jedes mit seinesgleichen. 20 Noah aber baute dem HERRN einen Altar und nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und opferte Brandopfer auf dem Altar. 21 Und der HERR roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. 22 Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.
Liebe Gemeinde,
am Anfang dieser Predigt muss ein kleines Bekenntnis stehen – zwar kein Sündenbekenntnis, aber doch ein Bekenntnis der Verlegenheit und der Schwäche. Der Predigttext, den wir soeben gehört haben – er gehört zwar zu den Texten für den 20. Sonntag nach Trinitatis, den wir heute begehen, aber er ist nicht der Text, der für den heutigen Sonntag vorgesehen ist, den 20. Sonntag nach Trinitatis im Jahre 2004. Warum dieser Wechsel? Es gibt dafür einen schwachen Grund – und einen starken.
Zunächst der schwache Grund. Der eigentlich verordnete Text schafft jedem Prediger Verlegenheiten. Er steht im 1. Brief des Paulus an die Thessalonicher:
Darin wird die Gemeinde ermahnt, dass sie jede Unzucht meide, dass ein jeder seine eigene Frau zu gewinnen suche in Heiligkeit und Ehrerbietung, dass ein jeder von der gierigen Lust der Heiden Abstand lasse, dass niemand seinen Bruder im Handel übervorteile… Im Ganzen eine Warnung vor der Unreinheit, eine Mahnung zur Heiligung. Wie aber soll man dies in dieser Stunde predigen, wenn man nicht in die doppelte Verlegenheit kommen will – nämlich entweder der hier anwesenden Gemeinde zu unterstellen, sie habe diese Ermahnung nötig, oder aber wider die anderen draußen zu predigen, die gar nicht da sind. Es gibt gewiss Stunden, in denen so geredet werden kann – und sogar so geredet werden muss! Aber die Stunde braucht ihren Grund. Jetzt in dieser abendlichen Vesper?
In seiner Verlegenheit greift der Prediger also zum Evangelium des Sonntags – wir haben es soeben gehört:
Wer sich scheidet von seiner Frau und heiratet eine andere, der bricht ihr gegenüber die Ehe; 12 und wenn sich eine Frau scheidet von ihrem Mann und heiratet einen andern, bricht sie ihre Ehe.
Wer wollte dieses Evangelium, das ja das mosaische, ziemlich pragmatische Eherecht entschieden verschärft – etwa nicht aufmerksam lesen und nach Kräften beherzigen? Aber wie soll man darüber predigen in einer Zeit, in der viele Menschen sich scheiden lassen – und keineswegs alle, wahrscheinlich nicht einmal die meisten, aus sittlicher Leichtfertigkeit? Wir wissen, wie oft die Not einer Scheidung sogar über unsere Pfarrhäuser kommt – und früher wurde das viel strenger kirchendisziplinarisch sanktioniert als heute.
Ich las in diesen Tagen die Briefe eines unserer protestantischen Kirchenväter des 20. Jahrhunderts aus dem Jahr 1933, soeben als Buch erschienen. In einigen dieser Briefen spiegelt sich neben allen anderen Nöten und Herausforderungen der beginnenden Nazi-Zeit ein ungeheueres stilles Ehedrama zwischen einem Mann, seiner Ehefrau, der er – auch durch Beihilfe der Eltern – angetraut wurde, und einer später hinzugetreten Frau, die die Frau seines Lebens hätte werden können, nun aber in diesem Dreieck allein zu seiner wichtigsten wissenschaftlichen Mitarbeiterin wurde. Wer diese Briefe liest, wird erschüttert und bewegt, von der Skrupelhaftigkeit, in der diese drei Menschen ihre „Notgemeinschaft“ aufrechterhalten, ja: Man erschrickt regelrecht von der Strenge dieser Qual, die heute, um siebzig Jahre versetzt, sich wahrscheinlich bald in einer akzeptierten Scheidung aufgelöst haben würde.
Ja, da hat einer heutzutage vielleicht einfach reden, wenn er nach Jahrzehnten nicht, noch nicht geschieden ist. Aber heißt das, dass er seinem Ehebund immer oder wengistens meistens ganz gerecht geworden ist? Mir will es – paradox, wie die Welt ist – mitunter so scheinen, als dürfe über diesen Abschnitt des Evangeliums so richtig erst predigen, wer die Not einer scheiternden Ehe erfahren hat. Aber kann er das dann noch?
Liebe Gemeinde!
Ihr seht: Richtige, wichtige Bibeltexte – aber richtige Verlegenheiten zugleich. Und schwache Gründe für einen Wechsel des Textes.
Nun aber der starke Grund: Die Geschichte vom Ende der Sintflut, die wir – sozusagen ersatzweise, obwohl sie doch auch zu diesem Sonntag gehört – als Predigttext für den heutigen Abend gehört haben, enthält eine jener biblischen Verheißungen, aufgrund derer wir überhaupt mit dem Scheitern leben, mit dem immer häufiger und immer öffentlicher sichtbar werdenden Scheitern an Gottes Geboten und an unseren Versprechungen und Erwartungen noch weiter leben können, also auch mit dem Scheitern und Versagen in unseren Ehen und Familien, auch in der Gesellschaft. Nicht etwa so weiterleben, als sei gar nichts geschehen – sondern obwohl etwas geschehen ist; und zwar deshalb, weil noch etwas geschehen soll.
Auch der Sintflut ging ja ein Scheitern, ein Versagen voraus – und zwar ein sündhaftes Versagen auf der ganzen Linie:
LUT Genesis 6:5 Als aber der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, 6 da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen, 7 und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe.
Allein Noah, so heißt es, fand Gnade vor dem Herrn. Der Fortgang der Geschichte gehört zum festen Bestand christliche Erzählgutes. Wie oft wurde in unseren Kindergärten die Arche Noah auf schöne Weise bestückt!
Aber bevor die Tiere zu Paaren – zusammen mit Noah und seinem ganzen Familiestamm und Hausgesinde – (so hübsch nachgebastelt) auf die Arche treten, war die ganze Menschheit schon in tiefste Sünde und Gottferne verfallen, tiefer ging es offenbar nicht mehr.
Da hätten wohl auch die Mahnungen an die Thessalonicher nicht mehr viel gefruchtet. Bis auf einen Rest vernichtet Gott den Rest der Welt:
„denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe.“
Freilich gibt Gott seine Schöpfung dennoch nicht gänzlich auf. Nicht nur, dass er Noah und die wenigen Tiere vor der Sintflut verschont – es will sogar so scheinen als habe er hernach seinen durchaus gerechten Zorn selber bereut. Eine doppelte Reue also: Zunächst bereut Gott, dass er die Menschen überhaupt gemacht – hernach reut es ihn, dass er sie im Zorn ersäuft hat. Nun aber schließt er, obwohl er allen Grund zur bitteren Enttäuschung hat, neuerlich einen Bund mit den Menschen – es wird dies nicht der letzte sein! -, die Menschheit ist dabei vertreten durch Noah.
Wichtig ist es, nun genau hinzuhören. Gott fängt das Spiel, so berichtet es die Bibel, nicht einfach wieder von vorne an („Gehe zurück zu Feld Nummer 1!“), also nicht mehr so göttlich und paradiesisch naiv, wie es anfangs scheinen mochte. Sondern den neuen Bund schließt Gott mit Noah bewusst als Realist, geradezu als Skeptiker – aber trotzdem:
„Und der HERR roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe.“
Gott hat also ein anderes, ein nüchternes, ein abgrundtief nüchternes Bild vom Menschen gewonnen. Auch Gott, so lernen wir aus dieser Geschichte, macht Erfahrungen. Aber diese Erfahrungen, so sehr sie ihn zum anthropologischen Realisten machen, lassen ihn nicht zum Zyniker werden. Sondern er sieht die Menschen, seine Geschöpfe, zwar wie sie sind – aber dennoch schließt er seinen Bund mit ihnen; und er hält diesen treulich.
Das will uns nun einiges lehren und zeigen:
Selbst aus der bittersten Enttäuschung für sich selber findet Gott Wege in die Zukunft. Das lässt uns leben.
Also dürfen auch wir zu Realisten werden, und uns vor Gott so sehen, wie wir wirklich sind. Freilich: Auch wir dürfen nicht zu Zynikern werden. Das aber würden wir ganz bestimmt, wenn wir uns nun einreden wollten: Wenn Gott noch immer einen Ausweg weiß, so können wir ja – leichten Herzens, ja geradezu leichtfertig – immer wieder unsere Irrwege ins Scheitern antreten, gewissermaßen ebenso mutig wie mutwillig. Nein! Sich selber realistisch sehen (auch seine Mitmenschen und Partner realistisch sehen, denen man sich versprochen hat – und von denen man sich etwas versprochen hat) – die Dinge und Menschen so sehen, wie sie sind: Das heißt ja beileibe nicht, so einfach so nehmen und lassen wie sie sind, vor allem nicht: nicht sich selber so lassen wir man ist. Sondern sich realistisch sehen…
etwa so: das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf
... das heißt zunächst: Den Ausgangspunkt, den Tiefpunkt, den uns immer wieder einholenden Tiefpunkt, nüchtern und ohne alle Illusionen ins Auge fassen können, ohne daran sogleich endgültig zu zerbrechen; ohne sozusagen zu bereuen, dass man…, dass ich überhaupt geboren wurde.
Und wenn wir er sehen, wie Gott seinen Bund, den ja nie er gebrochen hat, doch wiederum erneuert – sollten wir dann nicht hoffen dürfen, dass es für uns, die wir so manchen Bund nicht gehalten haben, nicht halten konnten, aus seiner Bündnistreue doch noch einen neuen Anfang gibt?
Wenn wir diese Geschichte von der doppelten Reue Gottes gründlich und heilsam auf uns wirken lassen, gewinnen wir vielleicht sogar den Mut und den Takt, ein ander Mal über den eigentlich für heute, für den 24. Oktober des Jahres 2004 vorgesehenen Text zu predigen.
Amen.
Fürbittengebet:
Herr Gott, himmlischer Vater!
Wie oft hast Du Deinen Bund mit uns bewährt und erneuert – wie oft sind wir Dir untreu geworden!
Wir bitten Dich: Straf uns nicht in Deinem Zorn. Verlass uns nimmermehr (EG 295,2) Wende Dich uns wiederum zu, der Du uns erkannt hast als Menschen, deren Dichten und Trachten böse ist von Jugend auf.
Herr Gott, himmlischer Vater!
So wenig wir aus eigener Kraft den Bund mit Dir halten konnten und können, so oft haben wir Versprechen enttäuscht, die wir unseren Mitmenschen, unseren Partnern, Kindern, Freunden und Kollegen gegeben haben – oder Versprechungen, die wir uns selber gemacht haben.
Wir bitten Dich: Lass uns aus Deiner Bundestreue die Kraft und den Mut schöpfen, selbst dort nach neuen Anfängen zu suchen, wo die Sintflut unserer Verfehlungen und Enttäuschungen schon jede Hoffnung davon gespült zu haben scheint.
Herr Gott, himmlischer Vater!
Wir bitten Dich für alle, die sich ihrer gebrochenen Versprechen und Treueschwüre schämen.
Wir bitten Dich für jene unter uns, deren Ehen in Gefahr sind, deren Familien auseinander zu brechen drohen, deren Freundschaften auf der Kippe stehen.
Wir bitten dich für alle, deren Bindungen endgültig zerbrochen sind – zumal für alle jene, deren Bindung an ihr eigenes Leben in äußerster Gefahr steht.
Und schließlich bitten wir Dich für alle jene, zu deren Handwerk im öffentlichen Leben es geradezu gehört, mit Versprechungen, mit vielen, mitunter allzu vielen Versprechungen Zustimmung zu ihrer Politik einzuwerben.
(Stilles Gebet)
Herr Gott, himmlischer Vater!
Lass’ sie alle, für die wir bitten – und lass’ uns – Mut und Kraft zu neuem Vertrauen aus jenem Bund schöpfen, den Du seit Noahs Zeiten immer wieder erneuert hast, zuletzt und ein für alle Mal in Deinem Sohn Jesus Christus, in dessen Namen wir nun gemeinsam zu Dir beten, wie er uns gelehrt hat.