Religionsfreiheit und offene Gesellschaft – ein Prüfstein aktueller Dialoge in Europa -
Wolfgang Huber
Brüssel
I.
An einem Stück Stoff kann sich eine intensive Debatte über Religionsfreiheit entzünden. In verschiedenen europäischen Ländern ist das derzeit der Fall. In Frankreich verteidigen Muslime ihre Republik, obwohl diese Lehrerinnen wie Schülerinnen das Tragen des Kopftuchs in der Schule verbietet. In Deutschland führt eine Lehrerin einen Prozess durch alle Instanzen, um aus Gründen der Religionsfreiheit das Recht zuerkannt zu erhalten, im öffentlichen Dienst ein Kopftuch als Ausweis ihrer religiösen Überzeugung zu tragen. Wie verhalten sich staatliche Religionsneutralität und individuelle religiöse Überzeugung zueinander? Gibt es für diese Frage eine Antwort, die nicht auf der Grundlage beruht, die Religion in den Bereich des Privaten zu verweisen? Gibt es einen Umgang mit religiöser Pluralität, der zugleich der besonderen religiösen Prägung Europas gerecht wird, in der die jüdisch-christliche Tradition eine besondere Bedeutung hat?
Auf der europäischen Ebene haben Fragen dieser Art in diesem Sommer eine besondere Rolle gespielt. Die Diskussion über die Präambel der europäischen Verfassung handelte - so habe ich das jedenfalls wahrgenommen - im Kern um die Frage, ob eine offene, auf der Gleichberechtigung aller religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen aufgebaute europäische Gesellschaft gleichwohl im Stande ist, ihre besondere kulturelle Prägung, zu der die Religion in ihrer jüdisch-christlichen Ausprägung konstitutiv hinzugehört, anzuerkennen und in ihr einen positiven Wert auch für ihre Zukunftsentwicklung zu sehen. Inzwischen gewinnt die Überzeugung an Gewicht, dass Begriffe wie Freiheitlichkeit, Toleranz und Pluralität ein anspruchsvolles Lebens- und Gesellschaftskonzept beschreiben, das einer tragfähigen Begründung bedarf. Das gilt für jeden einzelnen, es gilt aber auch für die Gemeinschaft. Wir fragen nicht mehr nur nach der Vielfalt der uns offen stehenden Optionen. Wir fragen auch neu - gerade die letzten Wochen haben das gezeigt - nach den Ligaturen, den Kohäsionskräften unserer Gesellschaft. Die Frage nach der Bedeutung von Religion gewinnt an Bedeutung. Bedrückende Ereignisse tragen auf ihre Weise dazu bei.
II.
Die erschütternden religiös motivierten Gewaltakte der letzten Jahre werfen düstere Schatten auf das friedliche Miteinander von Menschen und Religionen. Die Terroranschläge in New York am 11. September 2001, in Madrid am 11. März 2004, in Beslan am 1. September 2004 und in Amsterdam am 10. November 2004 haben Vorbehalte und Spannungen zwischen Christen und Muslimen entstehen lassen. Beide großen Weltreligionen müssen daran arbeiten, der Gewalt entschlossen entgegen zu treten und alles zu tun, was in ihrer Macht steht, um einen Beitrag zur Stabilisierung des inneren Friedens in der Gesellschaft zu leisten. Dies schließt den Dialog unter ihnen und den Diskurs mit der Politik darüber ein, was Inhalt und Grenzen der Religionsfreiheit in der offenen Gesellschaft sind, in der wir leben und leben wollen. Dem dienen die nachfolgenden Gedanken.
Es gibt keine Religion, die ohne Konsequenzen für die Lebensführung wahrhaftig gelebt werden kann. Insofern hat jede Religion zugleich mit ihrer höchst individuellen Dimension auch eine öffentliche, politische Dimension. Sie betrifft nicht nur das private, sondern auch das öffentliche Leben. Die offene Gesellschaft westlicher Prägung lebt von der Vielfalt von Basisorientierungen, Meinungen, Lebensvorstellungen, Weltanschauungen und Religionen, deren Beziehungen zueinander im Prozess der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit auf der Grundlage gegenseitiger Toleranz gestaltet werden müssen. Toleranz ist dabei nicht gleichzusetzen mit: alles für richtig halten und jedem Recht geben. Wer nach allen Seiten offen ist, ist nicht mehr ganz dicht, sagt ein Wort, das gute Chancen hat, ein Sprichwort zu werden. Wenn alles gleich gültig ist, wird alles gleichgültig, beliebig und verliert an Bindungskraft und Überzeugung. Religiöse Toleranz meint das Aushalten und Austragen von Differenzen in Anerkennung der Gleichrangigkeit. Die freiheitliche offene Gesellschaft lebt dabei nicht von einem sich gegenseitig in Ruhe lassen; sie braucht die wache, überzeugte Toleranz, die den Dialog einfordert und dem Streit um die Wahrheit nicht ausweicht
Wann immer von Toleranz die Rede ist, wird die Aufmerksamkeit auf den Beitrag gelenkt, den Lessing mit seinem „Nathan“ zu diesem Thema geleistet hat. Nicht nur im Jahr des 275. Geburtstages von Lessing ist das der Fall. Doch die Frage muss erlaubt sein, ob Lessing wirklich einen weiterführenden oder gar für die Gegenwart tragfähigen Beitrag zum Toleranzproblem geleistet hat. Ist denn - so will ich entgegen der weitverbreiteten Meinung fragen - das Bild der drei Ringe, unter denen der wahre Ring sich nicht mehr finden lässt, wirklich ein Modell von Toleranz? Die drei Söhne, die von ihrem Vater drei gleich aussehende Ringe erhalten, ziehen vor den Richter, um feststellen zu lassen, wer den echten Ring und mit ihm auch die Herrschaft erhalten hat. Da jedoch nach der Auffassung des Richters die Wahrheitsfrage nicht entschieden werden kann, macht er stattdessen die Frage zum Prüfstein, wer von den dreien der beliebteste sei, welchen also zwei der drei Brüder besonders lieben. Dieser Test geht negativ aus, weil ja die erklärte Liebe zu einem Bruder das Eingeständnis impliziert hätte, dass er über den echten Ring verfügt. Das veranlasst den Richter zu der Einschätzung, dass es diesen gar nicht mehr gibt; er ging vielmehr, so vermutet er, verloren. An die drei Brüder appelliert er, trotzdem an die Echtheit ihres Rings zu glauben und dies durch ein Verhalten unter Beweis zu stellen, das durch vorurteilsfreie Liebe und Verträglichkeit geprägt ist.
Mit diesem Ausgang der berühmten Ringparabel wird die Frage nach dem Verhältnis von Toleranz und Wahrheit geradezu suspendiert. Das Ertragen einer fremden Wahrheitsüberzeugung wird nicht mehr gefordert; denn nach der Wahrheit der Religion wird überhaupt gar nicht mehr gefragt. Die Wahrheitsgewissheit wird aus einer Überzeugung zu einer Hypothese in praktischer Absicht. Religion wird auf Moralität reduziert.
Toleranz dagegen muss gerade in christlicher Perspektive in einer Glaubensgewissheit gründen, um deretwillen der Mitmensch als Nächster geachtet und in seiner abweichenden Glaubensweise respektiert wird. Reformatorisch geprägter Glaube stützt sich dafür auf eine göttlich zugesprochene Anerkennung der menschlichen Person, die unabhängig von ihren Taten und damit auch von ihren Überzeugungen gilt. Denn diese göttliche Anerkennung beruht gerade nicht auf den von Menschen erbrachten Leistungen, sondern auf einer göttlichen Toleranz, die den gottlosen Menschen als von Gott geliebtes Geschöpf annimmt.
Wenn Toleranz demzufolge nicht in einer religiösen Indifferenz, sondern in einer bestimmten und bestimmbaren Glaubensgewissheit gründet, dann hat das freilich Folgen für die Art und Weise, in welcher diese Toleranz praktiziert wird. Wenn Toleranz auf eine bestimmte und bestimmbare Wahrheitsgewissheit angewiesen ist, dann kann sie sich gerade nicht in einer Suspendierung der Wahrheitsfrage Ausdruck verschaffen, sondern muss sich auch im Streit um die Wahrheit bewähren. Wenn gelebte Toleranz eine im Leben bewährte Folge des Gottesverhältnisses ist, dann kann Religion auch um der Toleranz willen nicht auf Moralität reduziert werden; vielmehr muss gerade im Verhältnis zwischen den Religionen die Gottesfrage in ihrer konstitutiven Bedeutung zur Sprache kommen. Deshalb ist die Frage nach Frieden und Toleranz zwischen den Religionen auch noch nicht mit der Ausrufung eines „Projekts Weltethos“ beantwortet; die Antwort kündigt sich vielmehr erst dann an, wenn die Religionen ihre Differenzen im Glaubensverständnis in einer Weise austragen können, die den Frieden nicht gefährdet, sondern stärkt.
Spätestens die Ereignisse des Terrors unserer Jahre haben deutlich gemacht wie unausweichlich der Dialog ist, wenn die religiöse Toleranz nicht gefährdet werden soll. Sie ist die Voraussetzung für das friedliche Zusammenleben in der pluralen Gesellschaft und für den Frieden zwischen Völkern, Kulturen und Religionen. Sie zu erhalten ist – um Gottes und der Menschen willen – Aufgabe jeder Religion. Die Gewalttaten in Amerika und Europa, deren Zeugen wir geworden sind, müssen aber auch den politisch Verantwortlichen klarmachen, dass die tatenlose Hinnahme der Entwicklung einer islamischen Parallelgesellschaft zu einem Nährboden des Fundamentalismus geführt hat. Niemand, so muss man deutlich sagen, kann das Recht haben, unter Berufung auf religiöse Regeln oder auf kulturelle Traditionen aus dem jeweiligen Herkunftsland andere Menschen zu etwas zu zwingen, sie zu töten oder zu verletzen.
Die abendländische Zivilisation stellt den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt der Gesellschaftsordnung; darin unterscheidet sie sich von anderen Kulturkreisen. Die Wurzeln hierfür liegen vor allem in dem durch das Christentum bestimmten Menschenbild. Dieses Menschenbild bringen wir in den Dialog der Religionen ein.
Religionsfreiheit als universales, jedem Einzelnen zukommendes Menschenrecht fordert von allen Religionsgemeinschaften Anerkennung und Respekt gegenüber anderen Religionsgemeinschaften. Für die christlichen Kirchen in Deutschland ist dies die Grundlage ihres Umgangs mit anderen Religionen. Um der Freiheit und des inneren Friedens willen bestehen sie darauf, dass diese Grundlagen von allen Religionsgemeinschaften anerkannt werden. Wie sich die Religionen zueinander verhalten und ihre Dialoge gestalten, entscheidet mit darüber, ob unsere Welt ihre Probleme und Ungerechtigkeiten in Frieden angehen kann oder ob Gewalt sie ins Chaos stürzt. Deshalb hat man seit Anbeginn der Neuzeit gewusst, dass Religionsfreiheit den Kern der Menschenrechte ausmacht.
Die Basis für geistige Freiheit, Gewissensfreiheit und damit auch für die Freiheit der Religion liegt in der Menschenwürde. Nur wer frei ist, sich zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht selbstverantwortlich zu entscheiden, kann sein Leben in Freiheit unter Achtung der Menschenwürde seiner Mitmenschen entfalten. Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit gehören eng zusammen. Wenn Menschen ihre Religion nicht frei ausüben können, sind sie in ihrer innersten Freiheit betroffen. Die seit dem Entstehen der Menschheit gestellte Frage nach dem Sinn des Lebens, dem Woher und Wohin erfährt gerade durch Religion eine Antwort. Ob sie der Einzelne als für sein Leben bestimmend anerkennt und sein Leben daran ausrichtet, kann nur er in eigener Selbstbestimmung für sich entscheiden. Glaube - das haben wir in der Geschichte des Christentums gegen manche Widerstände gelernt - setzt diese freie Entscheidung voraus. Die Achtung der Menschenwürde erfordert nun aber auch die Gewährleistung der Religionsfreiheit durch den Staat. Sie gibt dem Einzelnen positiv das Recht, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seiner religiösen Überzeugungen auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln. Sie schließt negativ ein, religiöse Überzeugungen abzulehnen und damit auch, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören oder aus einer Religionsgemeinschaft auszutreten. Aber die Religionsfreiheit wäre verkannt, wenn man dieser negativen Aspekt der Freiheit von Religion den Vorrang vor der positiven Religionsfreiheit - der Freiheit zur Religion - geben würde. Es ist ein Missverständnis, wenn man Religionsfreiheit vorrangig als Freiheit von der Religion begreift. Sie ist vielmehr zuallererst Freiheit zur Religion; zu ihr allerdings gehört das Recht, sich von der Religion abzuwenden. Neben der individuellen hat die Religionsfreiheit auch eine korporative Seite. Religionsausübung ist darauf angelegt, dass sie in Gemeinschaft mit anderen geschieht. Wirkliche Religionsfreiheit herrscht in einem Gemeinwesen nur dann, wenn nicht nur der Einzelne für sich seine Religion frei wählen und ausüben kann, sondern wenn auch den Religionsgemeinschaften eine von staatlichen Behinderungen freie Ausübung gewährleistet ist. Diese korporative Religionsfreiheit darf sich nicht auf die herrschende Mehrheitsreligion beschränken, sondern muss auch für religiöse Minderheiten gelten. Sie waren es, für die in der frühen Neuzeit die Religionsfreiheit zuallererst erfochten wurde. Die Religionsfreiheit gilt in diesem Sinn vorbehaltlos, aber sie gilt nicht grenzen- oder schrankenlos. Grenzen muss die Freiheit der Religionsausübung durch die Religionsgemeinschaften wie die individuelle Religionsfreiheit dort finden, wo sie den inneren Frieden der Gesellschaft gefährdet, d.h. mit den Menschenrechten anderer oder mit verfassungsrechtlichen Grundlagen eines freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaates kollidiert.
Nur der religiös neutrale Staat kann die volle Religionsfreiheit verfassungsrechtlich sichern. Ein religiös einseitig gebundener Staat, der sich einer Religion gegenüber in besonderer Weise verpflichtet weiß, läuft Gefahr, diese gegenüber anderen Religionen in seinem Staatsgebiet zu privilegieren. Aber es ist ein Missverständnis dieser staatlichen Religionsneutralität, wenn der Staat meint, er sei dadurch zur Ignoranz gegenüber der Religion, zur Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Wirken, infolgedessen vielleicht auch zur Untätigkeit gegenüber ihrem möglichen Missbrauch verpflichtet. Vielmehr gibt es eine Pflicht des Staates, die Religion als Lebensmacht wahrzunehmen und sie ohne falsche Parteinahme zu fördern. „Fördernde Neutralität“ hat das deutsche Bundesverfassungsgericht diese Haltung mit einem, wie ich finde, glücklichen Ausdruck genannt.
Um den Anspruch seiner Bürger und Bürgerinnen auf positive Religionsfreiheit gerecht werden zu können, ist der Staat in seinen Einrichtungen auf ein Zusammenwirken mit den Religionsgemeinschaften angewiesen: sei es in Fragen des Religionsunterrichts in der Schule, sei es in der Seelsorge in Krankenanstalten, an Soldaten der Bundeswehr, in Polizei und Grenzschutz, in Haftanstalten und Landeskrankenhäusern, sei es mit Blick auf theologische Fakultäten oder auch im Friedhofswesen.
Diese positive Förderung der Religionsausübung durch den Staat verstößt nicht gegen das Prinzip der religiösen Neutralität des Staates, solange der Grundsatz der Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften gewahrt bleibt. Und auch die Förderung diakonischen Handelns in freier Trägerschaft durch Diakonie oder Caritas verstößt nicht dagegen. Die deutschen Kirchen treten dafür ein, dass diese Neutralität gewahrt bleibt. Sie tun dies unabhängig davon, ob Christen in anderen Staaten keine oder nur eine sehr eingeschränkte Religionsfreiheit eingeräumt wird oder Staaten tatenlos zusehen, wie Christen von Angehörigen anderer Religionen bedrängt und unterdrückt werden. Diese Asymmetrie legitimiert ihr Eintreten für die Religionsfreiheit weltweit. Dennoch würden, worauf Altbundespräsident Rau in einer Rede zum Geburtstag Lessings, die im Kern eine Rede zur Religionsfreiheit war, am 22. Januar 2004 zu Recht mit Nachdruck hingewiesen hat, sich „viele Menschen bei uns leichter an den Anblick von Moscheen gewöhnen können, wenn Christen in islamischen Ländern das gleiche Recht hätten, ihren Glauben zu leben und auch Kirchen zu bauen.“
Denn obwohl die Religionsfreiheit zum Kernbestand der Menschenrechte zählt, gehört die Unterdrückung von Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugung heute in vielen Ländern zur politischen Realität. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat im vergangenen Jahr in einer Studie zur Lage der Religionsfreiheit diese Unterdrückung im einzelnen dargelegt. An den zum Teil bedrückenden Beispielen zeigt sich: Die Religionsfreiheit wird zur Nagelprobe für die Einstellung des Staates zur menschlichen Freiheit überhaupt.
Das Eintreten für die Religionsfreiheit als einem Menschenrecht gründet in der christlichen Glaubensgewissheit, um deretwillen der Mitmensch als Nächster geachtet und in seiner abweichenden Glaubensweise respektiert wird. Reformatorischer Glaube stützt sich auf eine göttlich zugesprochene Anerkennung der menschlichen Person, die unabhängig von ihren Taten und damit auch ihren Überzeugungen gilt. Daher entspricht es dem Kern christlichen Glaubens, diese Menschenwürde, die Menschenrechte und die Religionsfreiheit auch Menschen anderen Glaubens zuzusprechen. Damit aber erkennen die Kirchen zugleich das Existenzrecht anderer Religionen an, einschließlich ihres Anspruchs auf ein Wirken in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.
Schon immer ist das nicht so gewesen. Die Kirchen sind keineswegs die Avantgardisten politischer Freiheit und erst recht nicht der individuellen Religionsfreiheit. Der uns heute so selbstverständlich erscheinende Anerkennung der Religionsfreiheit als Menschenrecht ist in den christlichen Kirchen das Ergebnis eines langen historischen und theologischen, bisweilen recht schmerzhaften Entwicklungs- und Lernprozesses.
Aber die Verwirklichung der Religionsfreiheit als Menschenrecht ist heute eine unaufgebbare Forderung und ein Anliegen der beiden großen Kirchen in Deutschland. Die einschränkungslose Bejahung der individuellen wie der kollektiven, negativen wie positiven Religionsfreiheit ist ein Ergebnis des geistesgeschichtlichen Prozesses insbesondere seit der Reformation. Deshalb treten die Kirchen für die Religionsfreiheit weltweit ein. Die Menschenrechte bilden einen Schwerpunkt der christlichen Ethik. Heute wird mehr denn je von den Religionsgemeinschaften erwartet, dass sie aktiv mithelfen, Grundstrukturen zur Sicherung der Prinzipien der Zivilgesellschaft in den Ländern zu schaffen, in denen die Menschenrechte noch nicht verwirklicht sind. Hier setzen die Kirchen auf die Zusammenarbeit mit anderen Religionsgemeinschaften, insbesondere auch dem Islam. Dabei erwarten sie, dass andere Religionen in den Ländern, in denen die Christen in der Minderheit sind, sich ebenso für die freie Religionsausübung der christlichen Kirchen und gegen staatliche Behinderungen einsetzen, im selben Maß, wie sie in europäischen Staaten die Religionsfreiheit in Anspruch nehmen. Für die Kirchen ist dies auch ein Prüfstein für die Überlegungen zur Aufnahme der Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei.
III.
Die Religionsfreiheit als individuelles Menschenrecht im eben dargestellten Sinne ist durch den Islam im Ganzen bisher nicht anerkannt worden. Zwar gibt es durchaus differenzierte Zugänge zu den Menschenrechten im Islam, die Religionsfreiheit eingeschlossen. Doch Grundlage ihrer Gewährleistung ist, wie wir sahen, die Trennung von Religion und staatlicher Rechtsordnung, zu deren Bestandteilen die Menschenrechte gehören. Diese Trennung von Religion und staatlicher Rechtsordnung vollzieht der Islam aufs Ganze gesehen nicht. Das ist auch in der Türkei trotz ihrer besonderen Gestalt von Laizismus nicht der Fall. Man sieht das an der Einrichtung einer staatlichen Religionsbehörde einerseits, an der deutlichen Abstufung religiöser Freiheitsrechte zwischen dem Islam und anderen Religionen, das Christentum eingeschlossen, auf der anderen Seite. Von islamischen Staaten aber gilt darüber hinaus: Der Staat ist organisierte Religion. Sein Recht ist religiöses Recht. Seine Quellen findet das Recht in der Religion. Das in der göttlichen Offenbarung gegebene Gesetz ist für Muslime abschließend und verbindlich. Es gilt als ein Ideal, das alle Aspekte der Lebenspraxis umgreift: das Bekenntnis des Glaubens, die gottesdienstliche Ordnung und rituelle Gebote ebenso wie Grundsätze für das Familien- und Strafrecht, schließlich für das Leben in der Gemeinschaft schlechthin. Zwar haben auch islamische Länder traditionelle Elemente des europäischen Rechtsdenkens in ihre Verfassungsordnungen aufgenommen; die Türkei hat die Scharia sogar ausdrücklich als Rechtgrundlage der staatlichen Ordnung außer Geltung gesetzt. Dennoch lebt in der Vorstellung vieler Muslime das Bewusstsein, dass ihr gesamtes Leben und das der staatlichen Gemeinschaft nach Gottes „Rechtleitung“ und damit nach den Vorschriften der Scharia geordnet sein müsste, wie es in der islamischen Urgemeinde der Fall gewesen sein mag. Die Einheit der Gesellschaft in der islamischen Umma umfasst die politische und religiöse Gemeinschaft.
Zwar hat sich der Islam seit 1970 zunehmend auf die Diskussion um die Menschenrechte eingelassen. 1990 verabschiedete die Organisation der Islamischen Konferenz, ein Zusammenschluss islamischer Staaten, in Kairo die „Erklärung der Menschenrechte im Islam“. Allerdings wird die Religionsfreiheit in diesem Dokument nur in einem negativen Sinne berührt, insofern ein Verbot ausgesprochen wird, sich zu einer anderen Religion als dem Islam zu bekehren oder sich dem Atheismus zuwenden. Im Übrigen ordnet diese Erklärung die Menschenrechte der Scharia unter. Der hier deutlich werdende Unterschied im Verständnis der Religionsfreiheit muss im Blick behalten werden. Im Blick auf die weitere europäische Entwicklung sind hier Klärungsprozesse dringend vonnöten. Denn der Islam in Europa kann dabei – übrigens genauso wenig wie die Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften - nicht aus seiner Verantwortung für das Gemeinwohl in der Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten entlassen werden. Er muss in der öffentlichen Debatte um Menschenrechte und Gewalt Position beziehen und die Grundlagen der freiheitlichen Gesellschaftsordnung seinem eigenen Handeln verbindlich zugrunde legen.
Auch die Türkei erkennt nach wie vor die Religionsfreiheit nur sehr eingeschränkt an. Die türkische Republik hat zwar die Vorstellungen eines säkularen laizistischen Staates von Frankreich übernommen. Um das Ziel einer türkischen Nation zu erreichen, setzt die Türkei aber auf das verbindende Band des Islam, dem 99% der Bevölkerung angehören. Er soll der Türkisierung in der Türkei und auch der im europäischen Ausland lebenden Türken dienen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, eine staatliche Behörde mit rund 88.000 Mitarbeitern errichtet. Damit steht der Islam unter staatlicher Kontrolle. Über das laizistische Staatsverständnis soll die Religionsbehörde verhindern, dass Religion genutzt wird, um politisch gegen den Staat zu mobilisieren. Vom Beginn der Republik an hatte das Religionsrecht einen türkischen Islam im Auge. Andere Religionen werden unter Berufung auf die Laizität ausgegrenzt oder in Grauzonen gedrängt. So werden die christlichen Kirchen nach wie vor massiv behindert, das ökumenische Patriarchat von Konstantinopel eingeschlossen. Ihnen wird die Anerkennung als juristische Person versagt, was u.a. den Erwerb von Eigentum unmöglich macht, Arbeitserlaubnisse werden verweigert, Ausbildung von Geistlichen wird untersagt.
Wenn die Türkei zur Europäischen Union gehören will, unabhängig davon, ob als Vollmitglied oder durch eine privilegierte Partnerschaft, muss sie sich auf den gesellschaftlichen Grundkonsens der Mitgliedsstaaten einlassen, und dazu nachprüfbare Fakten schaffen. Hierzu muss die politische Elite bereit sein. Sie befürchtet, dass konservative islamische Kreise das Rad der Geschichte wieder zurück drehen und eine theokratische Ordnung errichten könnten. Diese Einschätzung teilt möglicherweise auch die Mehrheit der Bevölkerung. Die Ausrichtung der jetzigen türkischen Regierung auf Europa zwingt sie zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Religion und zu einem liberalen Umgang mit der religiösen Vielfalt in der Türkei. Diesen Reformansatz gilt es aufzunehmen und zu stützen.
IV.
Heute besteht mehr denn je auch eine Furcht vor Religion. Sekten jedweder Couleur, Spiritismus, Jugendreligionen und gewaltsamer religiöser Fundamentalismus haben die Menschen verunsichert. Dies ist eine Herausforderung sowohl an den Staat wie auch an die Religionsgemeinschaften. Diese müssen nach ihrem Selbstverständnis als Kommunikations- und Zeugnisgemeinschaften in ihrem öffentlichen Auftreten dafür sorgen, dass Grundfragen des menschlichen Lebens und Handelns auf der Tagesordnung bleiben und das im Konzert der Meinungen und Anschauungen ihre Stimme Gehör findet. Anstelle von Scheinlösungen ist in einer pluralen freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft ein öffentlicher Diskurs nötig, der die Relevanz der verschiedenen Positionen deutlich werden lässt und nach Übernahme der konsensfähigen Regelungen und Rechtsnormen sucht. In der öffentlichen Debatte findet die politische Willensbildung statt, die zum gesellschaftlichen Konsens führt. Alle Religionsgemeinschaften –also nicht nur die Kirchen - sind aufgefordert, an der politischen Willensbildung teilzunehmen und ihre öffentliche Verantwortung für das Gemeinwesen insgesamt und nicht nur für ihre eigenen Mitglieder wahrzunehmen. Sie tragen eine politische Mitverantwortung. Gesellschaft und Politik sind in vielfältiger Weise mit Fragen konfrontiert, die ohne eine moralisch-sittliche Verankerung nicht beantwortet werden können. Zusammenleben in der pluralen Gesellschaft, Integration von Fremden, Gentechnik, Sterbehilfe, der Generationenvertrag in den sozialen Sicherungssystemen, Abwehr von Terror und Gewalt mögen als Bespiele genügen. Bei aller Anerkennung der pluralen gesellschaftlichen Kräfte, die nicht selten ihre Gruppeninteressen über das Gesamtinteresse stellen, ist es schwieriger geworden, zu vermitteln, dass jedermann für die Wahrung des Gemeinwohls verantwortlich ist. Den Religionsgemeinschaften kommt die Aufgabe eines öffentlichen Gewissens zu, indem sie in Lehre, Predigt und öffentlichen Erklärungen die persönliche Verantwortung zu wecken und zu fördern versuchen, also „der Stadt Bestes suchen“, wie es der Prophet Jeremia formuliert. Deswegen besteht ein elementares Interesse an Kenntnissen über andere Religionsgemeinschaften und deren Inhalte und ein elementares Interesse an Transparenz. Dieses Interesse bildete auch den Hintergrund der Diskussion, ob in Moscheen in Deutschland auf Deutsch gepredigt werden sollte. Über die gemeinsame öffentliche Verantwortung muss heute der Dialog zwischen den Religionsgemeinschaften in Europa geführt und das aktive Eintreten für die Grundlagen der Freiheit gefordert werden.
Um den inneren Zusammenhalt und Frieden zu erhalten, kommt der Integration ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürgern eine große Bedeutung zu. Die in Deutschland auf Dauer lebenden Muslime müssen einen Weg der Integration und der positiven Mitgestaltung der deutschen Gesellschaft finden. Denn die Abgrenzung von Teilen der muslimischen Bevölkerung in Rückzugsbereiche und Ghettos, die sich von der übrigen Gesellschaft isolieren, gefährdet auf Sicht den sozialen Frieden und das Zusammenleben eines Gemeinwesens. Wer seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland oder in den anderen Ländern der Europäischen Union bejaht, die Rechts- und Gesellschaftsordnung anerkennt und sich hier mit seiner muslimischen Identität einbringt, leistet Wichtiges, um Abgrenzungstendenzen und Ghettobildung entgegen zu wirken. Jedoch wird sich muslimische Identität, gerade wenn sie sich einem offenen Dialog stellt und gesellschaftliche Integration anstrebt, auch selbst im historischen Prozess einer Neuorientierung als Islam in Europa weiterentwickeln. Die Herausbildung einer solchen muslimischen Identität kann nur mit einem ausreichenden Maß an Offenheit gelingen. In diesem Zusammenhang spielt neben der unverzichtbaren Spracherziehung der Religionsunterricht eine Schlüsselrolle. In zunehmenden Maße erkennen inzwischen auch die Vereinten Nationen die Bedeutung von Bildung und Erziehung für ein religiös tolerantes, verständnisvolles und friedliches Zusammenleben an. Eine UN-Konferenz hat 2001 daher die Empfehlung ausgesprochen, im Schulunterricht das Verständnis für Religionsfreiheit zu stärken. Wir sind davon überzeugt, dass religiöse Erziehung auch in der Schule für eine ganzheitliche Bildung unverzichtbar ist. Die Schule braucht Antworten auf die Frage, wie die Pluralität der Herkünfte, Positionen und Anschauungen in das gemeinsame Lernen integriert werden kann. Es geht um die Ausbildung einer gesprächsfähigen Identität, die Verständigung sucht. Die Schule ist dabei auf die Mitwirkung der Religionsgemeinschaften angewiesen, da der Religionsunterricht inhaltlich nach den Grundsätzen der Glaubensgemeinschaften zu erteilen ist. Die verbindliche Festlegung ist für die islamische Religionsgemeinschaft auf Grund ihrer Organisationsstruktur schwierig, aber, wie ein Blick über die Grenzen zeigt, auch nicht unmöglich. Der Religionsunterricht ist pädagogisch begründet, denn Religion gehört unter individuellen und kulturellen Gesichtspunkten zu den Fragen des Lebens. Religion ist keine Privatsache; was sie bedeutet und bewirkt, ob sie Verständnis fördert oder nicht, hat für die Gesellschaft unmittelbare Auswirkungen und geht daher auch sie etwas an.
V.
Die Zeit interreligiöser Unverbindlichkeit ist zu Ende gegangen. Ein auf der Grundlage eigener Identitätsbildung und im Sinne der Wahrheitsfrage zu führender Dialog der Religionen ist dringender denn je. Aber er ist nicht leicht. Der innere Frieden kann nur gewährleistet werden, wenn alle Religionsgemeinschaften ohne jede Einschränkung sich klar und eindeutig mit Wort und Tat von der Gewalt distanzieren. Aus dieser Mitverantwortung kann keine Religionsgemeinschaft entlassen werden. Es ist heute insbesondere am Islam, sich in die freiheitliche Rechtsordnung einzubringen, an der Europa sich orientiert und zu der die Gewährleistung gleicher Religionsfreiheit notwendigerweise gehört. Die Erinnerung an unsere eigene Geschichte wie der Respekt für den Lernprozess der anderen gebieten es zwar, Geduld zu haben, weil die damit verbundenen Probleme nicht unterschätzt werden können. Um der inneren Stabilität der Gesellschaft willen ist es jedoch notwendig, dass die individuelle wie die korporative Religionsfreiheit mitsamt der religiösen Neutralität des Staates und die gemeinsame Verantwortung von Staat und Religion für das Gemeinwesen geachtet werden. Denn die Bejahung der in den Grund- und Menschenrechten zum Ausdruck kommenden freiheitlichen Gesellschaftsordnung bildet ohne Wenn und Aber die gemeinsame Basis für die Zukunft Europas.