Kirche als Zeichen in der Zeit - Kulturelles Erbe und Sinnvermittlung für das 21. Jahrhundert, Vortrag beim 25. Evangelischen Kirchbautag in Stuttgart
Wolfgang Huber
I.
Manchmal muss man in die Ferne schweifen, um das Gute aus der Nähe sehen zu können. Deswegen erinnere ich zuerst an die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman, die Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts das Buch „Der ferne Spiegel“ veröffentlichte. Es ist das Buch, mit dem der Boom der historischen Romane begann, ein Boom, der seither eine ganz neue Literaturgattung schuf und heute in international erfolgreichen Büchern wie Dan Browns „Sakrileg“ fröhliche Urständ feiert.
„Der ferne Spiegel“ erzählt das Drama des 100jährigen Krieges zwischen England und Frankreich im 13. und 14. Jahrhundert, detailreich, historisch exakt und spannend, eine wunderbare Lektüre. Und das Buch schafft etwas, was zu unserem heutigen Selbstverständis gleichsam diametral entgegengesetzt ist: Es unterbricht die Diktatur der Gegenwart, die Herrschaft des Unmittelbaren und Atemlosen. Das geschieht dadurch, dass eine vergangene Epoche wiederersteht. Wenn man sich auf sie einlässt, sind die heutigen Probleme und Aufgaben zwar nicht gleich gelöst, aber doch relativiert und damit auf die richtige Größenordnung zurückgenommen. Historische Tiefenschärfe erweitert die Freiheit in der Gegenwart; an diese Einsicht wollen wir uns im Folgenden halten.
Ich möchte Sie allerdings nicht in das 13. und 14. Jahrhundert entführen, sondern in das 11. Jahrhundert, nach Südfrankreich und Burgund, wobei Anspielungen an unsere Gegenwart und Überschneidungen mit ihr weder zufällig noch nebensächlich sind. Um die erste Jahrtausendwende christlicher Zeitrechnung lebten die Menschen in einem Gefühl äußerster Unsicherheit. Hungersnöte griffen um sich, Zukunftsangst beherrschte die Seelen, Kriegs- und Terrorgefahren gab es allerorten, weil marodierende Truppen kleiner Raubritter erbarmungslos und ohne Ansehen der Person Menschen mordeten, Landstriche verwüsteten und Lebensformen verachteten. Sie rechtfertigten sich mit einer Ideologie, die die Erwählung der vermeintlich blaublütigen Ritter über das einfache Volk zum Inhalt hatte.
Die Zentralgewalt des Kaisers war solchen Entwicklungen gegenüber zu schwach; ein staatliches Gewaltmonopol war noch nicht ausgebildet, denn den modernen Territorialstaat gab es noch nicht. Aber offene Grenzen gab es, die Völker Europas waren auf Wanderschaft; die unterschiedlichsten Gruppen zogen durchs Land auf der Suche nach Überlebenschancen und hielten sich dabei an der sesshaften Bevölkerung schadlos. Wie Heuschreckenschwärme fielen Marodeure, die sich auf nichts anderes stützten als auf ihre Waffen, über die Menschen her. Mit willkürlichen Tributforderungen raubten sie den Menschen ihre mühsam erarbeiteten Lebensgrundlagen. Rinder und Pferde, Weizen und Obst, damals Lebensunterhalt und Altersvorsorge zugleich, mussten abgeliefert werden. Man konnte sich keine Zukunft aufbauen, weil morgen schon alles dahin sein konnte.
Die Kinder, die beste Alterssicherung, waren der Willkür der Burgherren und ihrer Militärs ausgesetzt; vom heimischen Feld weg wurden sie eingezogen zu sinnlosen Kämpfen, die über Nacht Leib und Leben kosten konnten. Die Würde der Frauen wurde zerstört durch das willkürliche „ius primae noctis“, das “Recht der ersten Nacht”. Achtbare Familienplanungen zerrannen unter einer brutal gelebten Sexualisierung des Alltags.
So gab es damals keinen Schutzraum, keinen Fluchtort, keine Insel des Friedens; es war eine geschichtsvergessene Zeit, die Errungenschaften aus der Rechtsentwicklung des Römischen Reichs – beispielsweise die Achtung des freien Sonntags oder der Respekt vor der Unversehrheit an Leib und Leben – waren vergessen, der Überlebenskampf aller gegen alle dominierte das Leben.
In dieser dunklen Zeit, kurz nach der Jahrtausendwende, entstand eine Bewegung zum Schutz der wehrlosen und einfachen Menschen. Unter dem Titel des Gottesfriedens oder der treuga dei besann man sich Mitte des 11. Jahrhunderts auf eine allen Menschen auferlegte Friedenspflicht. Zumeist getragen von kirchlichen Kräften, wesentlich gestützt von gewichtigen Stimmen aus den Klöstern - besonders den Cluniasenern und ihrem einflußreichen Abt Odilo – breitete sich die Idee der treuga dei aus, die ein Verbot jeglicher Waffengewalt für bestimmte Zeiten des Jahres und für bestimmte Orte im Lande einschloss. Wo ein Gottesfrieden ausgerufen war, galt während der kirchlichen Festzeiten einschließlich ihrer Vorbereitungsphasen für alle Arten von Waffenträgern eine strikte Friedenspflicht. Auch unter der Woche herrschte von Mittwoch bis Montagmorgen die Pflicht zum Frieden, weil die Passion Christi diese Tage besonders geheiligt hatte.
Die Kirchengebäude wurden unter der Herrschaft der treuga dei zu räumlichen Inseln des Friedens, zu geschützten Oasen, in denen Streit und Gewalt aufhören mussten. Es entstanden zeitliche und räumliche Schutzzonen, in denen die Menschen leben konnten, in denen sie den Begehrlichkeiten und der Willkür der Mächte entkamen und Mut fassten, zuversichtlich in die Zukunft zu schauen.
Diese Gottesfriedensbewegung breitete sich ab 1040 von Südfrankreich nach Norden aus. Der Gedanke wurde damals vorbereitet, dass das staatliche Gewaltmonopol in den Händen einer Zentralgewalt die Kriminalität des kleinen Adels begrenzen und den Menschen Zeiten des Friedens bringen könne.
Natürlich ist auch diese segensreiche Erfindung alsbald missbraucht worden: denn es dauerte nicht lange, bis dieser von der Kirche auch mit Macht und Waffengewalt durchgesetzte zeitlich und räumlich begrenzte Friede entgrenzt und in den Kreuzzügen gleichsam exportiert wurde. Der heilige Krieg der Christenheit gegen die Feinde des Glaubens, die bewaffnete Wallfahrt in das Heilige Land wurde damals mit einem heiligen Frieden im Innern verbunden, dessen Funktion leicht zu durchschauen ist: Den Kreuzfahrern sollte der Abschied von ihren Lieben durch die Gewissheit erleichtert werden, dass ihr heimisches Besitztum in Sicherheit sei. Die Gewähr geordneter Zustände in der Heimat bildete für die Kreuzritter die Voraussetzung für ihre Fahrt in das Heilige Land.
Daran sieht man, dass der Gottesfrieden nicht auf eine Überwindung, sondern nur auf eine Einhegung der kriegerischen Gewalt gerichtet war und gerichtet sein konnte. Dennoch lohnt sich die Erinnerung an diese Zeit der treuga dei; denn damals waren die Kirchen und Klöster ebenso wie die geistlich geprägten Zeiten die einzigen Bereiche, die das grausame Band aus Kampf und Gewalt unterbrachen, die Friedensräume schufen und den Menschen Kraft gaben, ihren durchaus schweren Alltag zu bestehen.
Meine These ist: Wir brauchen auch heute Zeiten und Orte des Gottesfriedens. Wir brauchen Unterbrechungen des hyperdynamisierten Alltags, Auszeiten aus dem Hamsterrad des Wirtschaftens, Freiräume zum Atemschöpfen. Denn auch heute sind wir in der Gefahr, die Würde der Menschen durch ständige Forderungen und Leistungserwartungen zu gefährden und Zukunftsangst statt Kinderlust zu erzeugen.
Unsere Kirchen sind dann „Zeichen in der Zeit“, wenn sie Orte der treuga dei werden, dem Frieden verpflichtete Räume, die dem Alltag des Dauerkampfes Oasen des Friedens entgegensetzen und eine andere Dimension des Lebens gegenwärtig machen. Kirchen sind eine Heimat für alle Seelen, Raum zum Einkehren bei sich selbst, zum Ankommen bei Gott und zum Aufmerken auf den Nächsten. Kirchen beherbergen "Seelen-Geschichten"; sie sind Räume der Ewigkeit, nicht nur, weil das Wort Gottes hier gesprochen wird, sondern auch, weil durch Gebet und Gesang, durch Dank und Fürbitte, durch Taufe, Trauung und Beerdigung Menschen ihre Seele vor Gott öffnen und so diesen Raum mit einer unsichtbaren Patina des Glaubens überziehen. Kirchenräume haben eine starke spirituelle Kraft, sie legen einen heiligen, heilenden Verband um die Seele des Menschen, damit sie sich erholen kann. Sie verhelfen zur Stille, damit die Stimme des barmherzigen Gottes deutlich zu hören ist.
Gute Kirchenräume sind wie große Oratorien: man kann sich in eine Dimension des Lebens tragen lassen, in der wir dem Geheimnis Gottes näher sind als in den profanen, säkularen und funktional angeordneten Räumen, in denen wir uns sonst bewegen. Unsere Kirchen als Räume der treuga dei zu bewahren und zum Leuchten zu bringen, ist zuallererst ein Anliegen, das sich alle Christen unmittelbar zu eigen machen sollten. Darin liegen aber auch eine Verpflichtung und ein Auftrag der ganzen Gesellschaft. Denn auch die Gesellschaft – wie die Kirche – ist darauf angewiesen, sich nicht von ihren Wurzeln abzuschneiden.
Vernachlässigte Kirchen sind wie vernachlässigte Manieren. Sie zeigen eine besondere Art der Verwahrlosung. Dafür kann man immer starke finanzielle Gründe geltend machen. Aber im Kern zeigt sich darin eine „Diktatur der Gegenwart“ und zugleich eine „kulturelle Amnesie“.
Angesichts der viel beschworenen „Wiederkehr der Religion“ und der drängender werdenden Frage nach Sinn und Halt werden wir nüchtern wahrnehmen müssen, dass der Verteidigung der Kirchenräume eine ähnlich zentrale Bedeutung zukommt wie der Heiligung des Feiertags und dem Eintreten für den Religionsunterricht als reguläres Schulfach. Es gibt in unserer Zeit einige symbolisch wichtige Kämpfe, an denen sich gleichsam exemplarisch und pars pro toto der Umgang der modernen Welt mit ihrem christlichen Erbe zeigt. Dem Umgang mit Kirchenräumen als „Zeichen in der Zeit“ kommt dabei eine Schlüsselbedeutung zu. Wenn man es martialisch ausdrücken will, kann man darin eines der zentralen Schlachtfelder dieser Auseinandersetzung sehen.
II.
Kirchen sind Zeichen in der Zeit, Stein gewordene Mahnwachen in der Landschaft, Leuchttürme in der Mitte unseres Lebensraumes. Sie erinnern uns an einen Gottesfrieden, eine treuga dei, die höher ist alle menschliche Vernunft.
Immer wieder ist es wichtig, sich des evangelischen Sinnes der Kirchenräume zu vergewissern. Der Grundsatz lautet: Evangelischer Glaube kennt keine geweihten Räume im Sinn einer Absonderung von der Welt, sehr wohl aber gewidmete und gewürdigte Räume im Sinn einer Hervorhebung aus den Räumen um sie herum. Gewidmet sind sie dem Gottesdienst der Gemeinde. Gewürdigt sind sie durch das Wort Gottes, das dort gepredigt wird, gewürdigt durch die Gebete, die dort gesprochen werden, gewürdigt durch die Tränen, die dort geweint werden, und durch den Trost, der auf sie antwortet, gewürdigt durch die Feiern des Lebens, die in diesen Räumen Heimat finden. Unsere Kirchen sind nach evangelischem Verständnis in usu heilig, heilig im Gebrauch. Denn heilig ist nach reformatorischer Vorstellung, was den Glauben weckt und fördert. Das ist der Zusammenhang, in dem reformatorischer Glaube auch Menschen heilig nennen kann – und ebenso auch Räume. Geheiligt werden sie durch die Heiligkeit des Wortes Gottes und durch die Gemeinschaft um dieses Wort.
Darin liegt eine große Freiheit der reformatorischen Überlieferung. Wir Evangelischen können in Kirchenräumen ebenso Gott hören und anrufen wie in Messehallen oder am Strand. Es gibt keinen zwingenden theologischen Grund, allein die Kirchen als Ort der Gottessuche zu betrachten. Aber diese theologisch bestimmte Freiheit ist nicht nur eine Freiheit von etwas, sondern eine Freiheit zu etwas. Sie ist eine Freiheit, die besonderen Möglichkeiten des Gebrauchs dieser Räume wahrzunehmen und zu achten. Deshalb ist die evangelische Freiheit auch eine Freiheit zur Würdigung, zur Nutzung und zur Pflege besonderer Räume, der ererbten ebenso wie der neu geschaffenen Räume. Denn als „dauerhafte Zeichen der Hinwendung Gottes zu den Menschen“ besitzen Kirchen eine unersetzbare Bedeutung für ihre gemeindliche und gottesdienstliche Nutzung. Aber sie haben zugleich einen hohen Symbolwert als weithin „erkennbare Symbole des Weltkulturerbes Glaube, Hoffnung, Liebe“.
Für uns Evangelische gilt daher bis heute jenes theologische Verständnis des Raumes, das sich in dem eindrücklichen Gebet des Königs Salomo, gesprochen zur Einweihung des 1. Tempels im 9. Jahrhundert vor Christi Geburt in Israel, im 1. Buch der Könige im 8. Kapitel findet:
„Aber sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe? Wende dich aber zum Gebet deines Knechts und zu seinem Flehen, HERR, mein Gott, damit du hörst das Flehen und Gebet deines Knechts heute vor dir: Lass deine Augen offen stehen über diesem Hause Nacht und Tag, über der Stätte, von der du gesagt hast: Da soll mein Name sein. Du wollest hören das Gebet, das dein Knecht an dieser Stätte betet, und wollest erhören das Flehen deines Knechts und deines Volkes Israel, wenn sie hier bitten werden an dieser Stätte; und wenn du es hörst in deiner Wohnung, im Himmel, wollest du gnädig sein.“
Ins Zentrum des Gottesglaubens gehört die Einsicht, dass Gott größer ist als jedes Gebäude, das von Menschenhand gemacht ist; aber ins Zentrum des Gottesglaubens gehört genauso das Vertrauen darauf, dass Gott seine Augen in besonderer Weise offen hält über den Orten, die ihm zugedacht sind. Gottes Name wird dort ausgelegt und lässt sich dort finden. Gottes Gegenwart ist dort erfahrbar, auch wenn Gott sich nicht in solche Räume gefangen gibt.
Darum gibt es eine zweite, entscheidende Wende dreihundert Jahre nach dem Tempelweihgebet des Salomo. In der von Karl Jaspers so genannten „Achsenzeit“ erkennen und formulieren die Propheten Israels zum ersten Mal in aller Schärfe, dass die Anbetung des Namens Gottes allein noch nicht die Erfüllung des Willens Gottes beweist. Am Schluss des Buches Jesaja heißt es im 66. Kapitel:
„So spricht der HERR: Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße! Was ist denn das für ein Haus, das ihr mir bauen könntet, oder welches ist die Stätte, da ich ruhen sollte? Meine Hand hat alles gemacht, was da ist, spricht der HERR. Ich sehe aber auf den Elenden und auf den, der zerbrochenen Geistes ist und der erzittert vor meinem Wort.“
Unsere Kirchenräume sind kein Selbstzweck, sie haben Verweisungscharakter, sie sind Fenster zum Himmel und Türen zur Barmherzigkeit, die lebendig werden durch die Menschen, die in ihnen von Gott hören. Kirchenräume sind Zeichen der Gegenwart Gottes in der Welt; zugleich verpflichten sie auf die Tugend der Barmherzigkeit.
Weltflucht in die „schönen Gottesdienste des Herrn“ (Psalm 27, 7) ist keine evangelische Frömmigkeitsform. Deswegen führt in meinen Augen der Gedanke der treuga dei weiter; er bestimmt unsere Kirchenräume als Räume des Friedens; aber er verpflichtet auch dazu, dass dieser Frieden nicht ein frommes Gefühl bleibt, sondern zur gestalteten Wirklichkeit wird. Der Friedensauftrag der Kirchenräume bezieht sich dabei keineswegs nur auf die Gemeinden selbst, sondern richtet sich auf den öffentlichen Raum der Gesellschaft im Ganzen.
Deswegen sind unsere Kirchengebäude zu Recht „Heterotopien“, andere Räume, genannt worden. Der französische Philosoph Michel Foucault hat in seiner durchaus charmanten Weise Bordelle, Gefängnisse und Kirchen als andere Räume, als Gegen-Orte miteinander verbunden. Dabei hat er betont, dass diesen Räumen das Anderssein in einer durchfunktionalisierten Welt gemeinsam sei.
Heterotopien sind Zeichen des Widerspruches gegen die einlinige Verzweckung in der Moderne. Die Theologin Susanne Natrup trifft darum einen wichtigen Punkt, wenn sie in Umkehrung der von Max Weber beschriebenen "religiösen Entzauberung der Welt" das "Bedürfnis nach Wiederverzauberung in einer dem Rationalitätspostulat folgenden Gesellschaft" sieht und die Kirchengebäude diesem Bedürfnis zuordnet. In dieser Perspektive ist es auch ein Grund zur Dankbarkeit, dass es nirgendwo sonst in so großzügiger Weise zweckfrei umbauten Raum gibt wie in unseren Kirchen. Und wenn wir heute feststellen, dass manches Museum, manche Bank, ja sogar manches Kanzleramt sich kirchenähnlich zu gebärden versucht, so liegt es genau daran: an dem Versuch, einen Raum zweckfrei als Raum wirken zu lassen.
III.
Die Frage aber heißt, wie sich dieser Symbolwert der Kirchen, diese Dimension der treuga dei in unserer Zeit ausgestaltet. Dies will ich im Anschluss an einen Differenzierungsvorschlag erläutern, mit dem der Tübinger Theologe Dietrich Rössler vor einigen Jahren die moderne Gestalt des Christentums gekennzeichnet hat. Rössler spricht von einer dreifachen Gestalt des Christentums. Christliches erscheint als kirchliches Christentum im Leben der Gemeinden und im Handeln der kirchlichen Institution. Es lebt darüber hinaus in anderer Form als eine Art öffentliches Christentum in vielfältigen kulturellen Zusammenhängen: von der Präsenz christlichen Traditionsgutes in der Sprache, in der Musik und im Stadtbild über die Geltung bestimmter Werte und den staatlichen Schutz christlicher Feiertage bis hin zu öffentlichen Erwartungen an die Kirchen, beispielsweise der Erwartung, in Situationen kollektiven Gedenkens mit religiösen Handlungsformen zu dienen. Christliches begegnet schließlich als individualisiertes Christentum, das in den unterschiedlichsten Gestalten privater Frömmigkeit oder Weltanschauung anzutreffen ist, die zumindest Fermente christlicher Tradition in sich enthalten.
Auf alle drei Dimensionen lässt sich der Gedanke der treuga dei beziehen.
Im Blick auf das kirchliche Christentum sind alle Ansätze zu einer Verlebendigung der Kirchennutzung zu unterstützen und zu fördern. Freimütig müssen wir bekennen: wir machen zu wenig mit unseren Kirchen, Gott bleibt viel zu oft allein in den leeren, stillen und verschlossenen Kirchen. Die Wortgottesdienste unter der Woche oder die Gottesdienstzeit am Samstagabend sind weithin verloren gegangen, es gilt, mit neuen Ideen und in guter Qualität die Kirchenräume mit Leben zu füllen. Das Projekt „Offene Kirche“, die an vielen Orten durchgeführte „Nacht der offenen Kirchen“, regionale und örtliche Kirchentage, die Nutzung des Kirchenraums für kulturelle Ereignisse gehören zu den vielen guten Ansätze. Die evangelische Kirche muss nach dem Bauboom an Gemeindehäusern und zusätzlichen Kapellen in der Nachkriegszeit nun ihre starken Kirchen als Kernräume ihres gemeindlichen Lebens wieder entdecken.
Die Kirchengebäude sind die Schlüsselräume für die Zukunft der Kirche. Darum ist auch eine geschickte Beleuchtung der Kirchen, innen und außen, eine die Dimensionen des Raumes im wahrsten Sinne des Wortes "erhellende" Beleuchtung, ebenso wünschenswert wie eine in und an den Kirchen eingerichtete soziale Arbeit, die Menschen in ihrem Kummer nicht nur als Bittsteller, sondern als „Gäste Gottes“ wahrnimmt. Auf diese und andere Weise stellen wir „unser Licht nicht unter den Scheffel“ (Mt. 5,15). Dagegen ist es ein Beitrag zur Selbstsäkularisierung, wenn wir das Nutzungsverhältnis zu unseren Kirchen umdrehen, indem sie wochentags "lediglich als Brücken zu vergangenen Geschichtsepochen wahrgenommen und besucht" werden und nur am Sonntag für eine Stunde ihrer Widmung entsprechend in Anspruch genommen werden.
Stattdessen wäre es doch unsere Aufgabe, die Kirchen an jedem Tag Räume der "Erfüllung spiritueller Bedürfnisse und geistlicher Vergewisserung" sein zu lassen. Wir sollten uns deshalb verstärkt dafür öffnen und dafür einsetzen, dass Kommunitäten, geistliche Lebensgemeinschaften, Studierendengemeinden, freie Kreise der Gemeinde, Mitarbeitergruppen und schließlich Pfarrerinnen und Pfarrer selbst für ihr gemeinsames Gebet und die geistliche Gliederung ihres Tageslaufs den besonderen Raum unserer Kirchen nutzen und andere einladen, daran teilzuhaben.
So würden die Kirchenräume für ihre Kernbestimmung zurückgewonnen, nämlich Orte einer vitalen geistlichen Gemeinschaft vor Gott zu sein. Darüber hinaus sollten wir uns auch für den bereits an manchen Stellen verwirklichten Gedanken öffnen, weitere Teile der Gemeindearbeit in die Kirchen hinein zu verlegen. In vielen Fällen ist es schon gelungen, Kirchenräume durch intelligente Ausstattung zugleich zu Zentren des Gemeindelebens zu machen, mit Pfarrbüro und Gemeinderäumen, mit Flüchtlingsberatung und Unterricht, mit Kindergruppen am Vormittag und Gesprächskreisen am Nachmittag.
Im Blick auf das öffentliche Christentum wird die Dimension der treuga dei nicht nur durch diese direkte Erschließungsarbeit der Gemeinde gefördert, sondern auch durch die symbolische Kraft des Kirchengebäudes in der Mitte des Stadt-, Stadtteil- oder Dorf-Raumes. Kirchen bedeuten "für viele Menschen - auch für Kirchendistanzierte und Konfessionslose - eine sichtbare Werterepräsentanz". Ähnlich wie es eine Hintergrundsstrahlung im Universum gibt, die an den Ursprung des Lebens erinnert, gibt es eine „Hintergrundgewissheit“ , die durch die Kirchen symbolisiert wird. Kirchengebäude als solche verweisen bereits auf gemeinsame kulturelle, ethische und religiöse Überlieferungen und bürgen für deren bleibende Orientierungskraft.
Im Blick auf die Zukunft des Protestantismus kann man die Bedeutung von Kirchen als Symbol für Hintergrundgewissheiten kaum hoch genug veranschlagen; denn sie hat mindestens drei Dimensionen: Neben ihre Bedeutung für die sichtbare Werterepräsentanz der christlichen Tradition tritt als zweites die Bedeutung gesellschaftlicher Stellvertretung. Auch aus der Ferne sind Kirchen sichtbar als "Orte des Protestes und der Zivilcourage, der Gesellschaftsdiakonie und - heute wahrscheinlich noch viel stärker als früher - Zeichen einer Segensdimension, nach denen sich viele Menschen ausstrecken, ohne sie in christlicher Sprache und christlichem Bekenntnis“ ausdrücken zu können. Nimmt man dann als drittes noch hinzu, dass angesichts einer „Wiederkehr der Religion“ oder, wie andere sagen, einer „Wiederkehr der Götter“ die symbolische Präsenz der Kirchen auch jenen immer wichtiger wird, die von Haus aus wenig Zugang zu den in diesen Kirchen kommunizierten Glaubensthemen haben, dann liegt es auf der Hand, dass hier nichts vorschnell aufzugeben ist.
Jede heftige Diskussion um den Neubau einer Moschee oder jeder öffentliche Protest dagegen, dass ein Kirchengebäude, und sei es noch so unscheinbar, aufgegeben werden soll, bestätigt diese dreifache Bedeutung der Kirchen für das öffentliche Christentum. Es ist daher nicht unbillig oder gar die Anmaßung einer zur Minderheit gewordenen Kirche, wenn wir immer wieder darauf hinweisen, dass der bauliche Erhalt unserer Kirchen auch ein öffentliches Anliegen sein muss. Die Kirchengebäude waren von Haus aus oft „Bürgerkirchen“; sie wurden von den Bürgern errichtet und in vielfacher Weise genutzt. Wir werden auch in Zukunft große Kirchen in den Stadtzentren so wenig wie kleine Dorfkirchen auf dem Lande erhalten können ohne öffentliche Hilfe durch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Sie geschieht auch vielfach in der doppelten Form, dass Bürgerinnen und Bürger durch ihre Steuern an der Erhaltung von Kirchengebäuden beteiligt sind und dass sie durch die Mitgliedschaft in Kirchbauvereinen und Fördervereinen, durch Stiftungen und Spenden die Erhaltung von Kirchen zu ihrer eigenen Sache machen.
Im Blick auf die private Christlichkeit geht es zunächst sehr elementar um das Offenhalten von Kirchen, die erreichbar und zugänglich sein sollten. Es geht aber auch um eine Bildungsoffensive zu elementaren christlichen Themen. Denn die allermeisten Kirchen sind „gebaute Katechismen“, die das Glaubenswissen in Stein hauen, in Bilder fassen, in Blickfluchten und Gesamteindrücken festhalten. Eine Alphabetisierung im Glauben ist eine elementare Voraussetzung dafür, solche Räume „lesen“ zu können. Und umgekehrt: die Veranschaulichung des Glaubens durch solche Räume ist heute einer der elementarsten Anlässe missionarischer Bildungsarbeit. Sollte jemand – in Abwandlung des Titels einer Schrift von Rudolf Bohren – danach fragen, ob unsere Kirchenräume eine „missionarische Gelegenheit“ sind, so kann die Antwort nur bejahend ausfallen. Je nüchterner man wahrnimmt, wie viele Menschen die „Lesefähigkeit“ für die Kirchenräume fehlt, wie viele der merkwürdig gequälte „Mann am Balken da“ irritiert, weil sie ihn nicht zu deuten wissen, für wie viele die Ausrichtung der Kirche nach Osten, ihre „Orientierung“ also, unverständlich ist, oder bei wie vielen der im Eingangsbereich vermeintlich im Weg stehende Taufstein Befremden auslöst, desto klarer tritt die Aufgabe vor Augen, dass wir Christen diesen gebauten Schatz des Glaubens erläutern und entfalten, um ihn zugänglich und verstehbar zu machen.
Die Kirchenpädagogik hat deshalb in den letzten Jahren einen sehr bemerkenswerten Aufschwung genommen; doch ihre zukunftsweisende Rolle ist noch längst nicht ausgeschöpft. Denn die ursprünglich für Kinder und Schulklassen entwickelte Kirchenpädagogik ist mittlerweile zugleich zu einer Form des Erwachsenen-Katechumenats geworden, in welcher der Einzelne seinen persönlichen Zugang nicht nur zur Kirche, sondern auch zum Glauben neu entdecken kann. Ähnlich bedeutsam ist die Entwicklung von Kirchenpavillons, die in oder an den Kirchen Informationen zur Verfügung stellen, geistliche Nahrung anbieten (Schriften, Bilder, CDs), als Wiedereintrittsstellen fungieren und zu Veranstaltungen einladen. Je mehr wir unsere Kirchen entfalten, ihren theologischen „Bau-Sinn“ darstellen und zu ihrer stiftungsgemäßen, also geistlichen Nutzung einladen, desto wirksamer widerstehen wir einer Musealisierung unserer Kirchen. Es gehört daher zu den Grundforderungen unserer Zeit, dass wir unsere Kirchenräume geistlich zurückgewinnen und sie zu „Kompetenzzentren evangelischer Frömmigkeit“ weiterentwickeln.
IV.
Sind dies die theologischen Bestimmungen einer heutigen Konzeption der treuga die, in der unsere Kirchen als Zeichen in der Zeit wirksam werden können, so können wir einer Gegenrechnung nicht ausweichen. Angesichts aktueller demographischer und finanzieller Perspektiven trifft uns die Wiederentdeckung der Kirchenräume in einer Zeit, in der die Ressourcen und Finanzkräfte zum Erhalt unserer Kirchen deutlich eingeschränkt sind. Auch auf die Gefahr hin, dass ich Ihnen Vertrautes sage, möchte ich Ihnen die Dimensionen, um die es geht, vor Augen stellen. In Deutschland gibt es 21.088 evangelische Kirchen, 2.536 evangelische Friedhofskapellen und 3.148 evangelische Gemeindezentren mit Gottesdiensträumen. In Fachkreisen wird der Instandsetzungsbedarf an diesen evangelischen Kirchen mit einer Größenordnung von ca. 6 Milliarden Euro beziffert.
Darin sind nicht nur die Kosten für den Erhalt der alten, vorreformatorischen Kirchen gerade im Osten Deutschlands enthalten ; eingeschlossen ist beispielsweise auch der enorme Renovierungsbedarf, der bei der sogenannten „ungeliebten Betonmoderne“ aus den fünfziger und sechziger Jahren aufgelaufen ist. Die immense Bautätigkeit der Nachkriegszeit, die das Gemeindekonzept von der „fußläufigen Kirche“ spiegelt, hat zu einer Kirchendichte gerade in den Städten geführt, die allein auf Grund ihrer Dimensionen nicht mehr komplett zu erhalten und inhaltlich auszufüllen ist. Hier ist der Klärungsbedarf besonders groß. Denn wenn man sich auf die demographische Entwicklung und die Entwicklung der kirchlichen Finanzkraft bis etwa 2030 einlässt, muss man auch eine Abschmelzung des Immobilienbestandes der Kirchen als unerlässlich anerkennen.
Die Reduzierung des kirchlichen Gebäudebestands wird sich sicher zuallererst auf andere Gebäude und zuallerletzt auf Kirchengebäude beziehen. Aber vollständig ausschließen kann man auch Kirchengebäude nicht von diesem Prozess. Welche Kriterien sind dabei zu berücksichtigen? Was ist nicht nur architektonisch oder finanziell, sondern auch geistlich zu verantworten? Im Blick auf diese schwerwiegende Frage brauchen wir in unserer Kirche und in der Öffentlichkeit einen doppelten Konsensbildungsprozess. Er muss allgemein auf die Verständigung über die Kriterien gerichtet sein, die uns bei dem Umgang mit dem kirchlichen Gebäudebestand leiten sollen. Er muss jeweils regional auf eine Verständigung darüber gerichtet sein, welche Gebäude jeweils in einer Region unbedingt zu erhalten sind, welche erhaltenswert sind und welche – auch unter geistlichen Gesichtspunkten – nicht zwingend erhalten werden müssen. Auf beiden Ebenen kommt es darauf an, dass dieser Prozess nicht kriterienlos verläuft. Aber ebenso wichtig ist, dass er nicht in unzähmbare Konflikte mündet. Auch der an manchen Stellen unvermeidliche Verzicht auf bestimmte Gebäude darf nicht zu einer Gegenbotschaft gegen den missionarischen Aufbruch werden, zu dem unsere Kirche in dieser Zeit bereit sein und für den sie ihre Kirchengebäude nutzen sollte.
Für mich ist die besondere Widmung der Kirchengebäude der Ausgangspunkt. Sie sind dadurch geheiligt, dass sie Ort des Gottesdienstes und des Gebets sind. Ihr Symbolwert ist so stark, dass ihnen selbst dann noch viel von der dadurch erzeugten Aura bleibt, wenn in ihnen nur noch selten oder im äußersten Fall gar nicht mehr Gottesdienst gefeiert wird. Dennoch gehören zwei Grundsätze zusammen. Der eine sagt: Wegen ihres besonderen Charakters sollen Kirchengebäude nur im Ausnahmefall aufgegeben werden. Der andere aber sagt: Damit sie ihren besonderen Charakter behalten, müssen Kirchen auch widmungsgemäß genutzt werden und als Orte des Gottesdienstes und des Gebets lebendig sein.
Von diesem Ausgangspunkt aus ist der Gedanke der „Lesbarkeit“ der Kirchenräume von entscheidender Bedeutung. Dass Kirchengebäude für das kirchliche, das öffentliche und das private Christentum in gleicher Weise von Bedeutung sind, muss bedacht werden. Diejenigen Fälle müssen ein warnendes Beispiel sein, in denen Kirchengemeinden ein Kirchengebäude schon aufgegeben hatten und es nur durch eine Initiative aus der Bürgerschaft gerettet und wiederhegestellt wurde. Die Fälle sind nicht selten, in denen gerade Kirchen mit einem solchen Geschick von einer besonderen Lebendigkeit erfüllt sind – Wegkirchen neuer Art, die weit mehr an Ausstrahlung entwickeln, als sich aus den Bedürfnissen einer relativ kleinen Gemeinde am Ort heraus erwarten ließe.
Daran kann man lernen: Was wie Kirche aussieht, muss auch wie Kirche sein. Eine Kirche soll ihren Symbolwert behalten und als repräsentatives Zeichen der treuga dei in der Zeit bestehen bleiben, auch wenn die Nutzung sich wandelt, weil die Gemeinde am Ort das Gebäude nicht mit regelmäßigem Leben zu füllen vermag. Erweiterte Nutzungen von Kirchen spielen hier eine wichtige Rolle. Bei ihnen ist strikt darauf zu achten, dass die kulturellen und sonstigen Nutzungen mit der widmungsgemäßen Bestimmung des Kirchenraums nicht im Widerspruch stehen. Und es ist großer Wert darauf zu legen, dass Gottesdienst und Gebet immer wieder den Kirchenraum erfüllen. Denn je klarer der Kernauftrag erlebbar ist, um dessentwillen eine Kirche erbaut wurde, desto weniger besteht die Gefahr, dass zusätzliche Nutzungen diesen Kernauftrag verdunkeln.
Vorschläge dagegen, die darauf hinauslaufen, nicht mehr benötigte Kirchengebäude möglichst gewinnbringend und kapitalträchtig anderen Nutzungen zuzuführen, sind noch in derjenigen Selbstsäkularisierung befangen, die zu überwinden gerade das Gebot der Stunde ist. . Schon eine sehr geringe Zahl von Kirchen, die als Diskotheken, als ALDI-Einkaufszentren oder als Fischrestaurants genutzt werden, gefährdet den Symbolgehalt auch anderer Kirchengebäude. Beispiele aus anderen Ländern können uns warnen. Es ist weder Zufall noch Nebensache, dass die größte evangelische Kirche in St. Petersburg während der Zeit der Sowjetkommunismus zur Schwimmhalle und die größte evangelische Kirche in Nanjing in der Zeit der Kulturrevolution zum Kino umfunktioniert wurden. Das ist Symbolpolitik der besonderen Art, nämlich eine Politik der Zerstörung von Lesbarkeiten. Die Kirche kann deshalb erst recht nicht von sich aus Vergleichbares ins Auge fassen.
Vor diesem Hintergrund haben sich der Rat der EKD und die Kirchenkonferenz im Jahre 2004 gleichsam auf vier Regeln geeinigt, in denen die Grundtendenz eines zukünftigen Umganges mit dem kirchlichen Gebäudebestand erkennbar wird. Sie lassen sich so formulieren:
1. Regel: Immobilienverkauf geht von „außen nach innen“
Wo nötig, werden zuerst Mitarbeiterwohnungen, Gemeindehäuser oder auch Pfarrhäuser einer anderen Nutzung zugeführt. Denn den innersten Kreis, der nur im äußersten Fall aufgegeben wird, bilden die sog. „Markenkernräume“, also die Kirchen.
2. Regel: Kirchenumnutzung geht vor Kirchenverkauf
Nicht zuletzt durch den Verkauf von frei werdenden Immobilien wie Gemeindehäusern oder Pfarrwohnungen sind vielleicht Mittel vorhanden, um das Gemeindeleben in die Kirche zu verlagern. Natürlich gilt es darauf zu achten, dass der jeweilige Raumeindruck gewahrt bleibt und dass die Kirchen „durchbetete Räume“ sind. Aber es wäre kein Nachteil, wenn man den Pastor/die Pastorin mitsamt seinem/ihrem Gemeindebüro in der Regel in einer geöffneten Kirche antreffen kann.
3. Regel: Verträgliche Fremdnutzung der Kirchen geht vor beliebiger Fremdnutzung
Schon bei der Frage einer Mischnutzung der Kirchenräume geht es um theologische Kriterien: bei jeder Veranstaltung, die in Kirchenräumen stattfinden soll, gibt es eine Art „gegenseitige Imageübertragung“, die nicht nur der Veranstaltung einen spezifische Würde verleiht, sondern umgekehrt auch der Kirche bestimmte „Images“ zurechnet. Es gehört zur geistlichen Kompetenz einer Gemeinde oder eines Kirchenkreises, einerseits Mischnutzungen zu eröffnen, aber Imageschäden von der ganzen Kirche abzuwenden und deshalb ungeeignete oder missdeutbare Veranstaltungen auch dann abzulehnen, wenn sie finanziell attraktiv sind.
Oft ist der Übergang zu einer überwiegenden Fremdnutzung fließend. Vorrang wird man hier der Übertragung eines Kirchengebäudes an eine andere christliche Kirche, mit der die evangelische Kirche ökumenisch verbunden ist, zuerkennen. Aber auch in anderen Fällen kann es nur um eine kirchenverträgliche („imageangemessene“) Fremdnutzung gehen. Sowohl eine Vermietung wie eine Verpachtung ist so gestalten, dass der nötige Einfluss auf die zukünftige Nutzung des Gebäudes gesichert ist.
4. Regel: Abbruch der Kirchen geht vor imageschädigender Fremdnutzung
Ein Abbruch von Kirchengebäuden wird dort empfohlen, wo eine Nutzung nach Verkauf oder Vermietung zu einer dem kirchlichen Symbolwert des Gebäudes klar widersprechenden Gestaltung führt. Je markanter das Gebäude als Kirche erkennbar ist, desto mehr Nachnutzungen verbieten sich. Unverträglich mit dem Symbolwert einer Kirche sind z.B. auch Nachnutzungen durch nichtchristliche Religionen wie z.B. als Moschee. Gegen diese Klarstellung sollte nicht die Pflicht zum Respekt gegenüber anderen Religionen und ihrer freien Religionsausübung ausgespielt werden.
V.
Als 5. Regel will ich persönlich noch anfügen: Lieber Kirchenruinen als „tabula rasa“!
Es mag Kirchen geben, die wir loslassen und aus der kirchlichen Nutzung entlassen müssen, obwohl sie zum historischen Schatz unserer Kirche gehören und in ihrer Lesbarkeit eindeutig als Kirche entzifferbar sind. Sie bleiben Zeichen in der Zeit, Symbole des kulturellen Erbes. Auch wenn sie auf Zeit verstummen, bleiben sie ein Beitrag zur Sinnvermittlung im 21. Jahrhundert. Denn auch eine still gewordene Kirche mahnt. Auch ein ungenutzter Kirchenraum weckt Fragen. Selbst ein Gebäude, das als Ruine gesichert, aber doch erhalten bleibt, trägt zur Orientierung bei. Ich denke beispielhaft an die Kirchenruinen im Oderbruch, jener am Ende des Zweiten Weltkriegs besonders umkämpften Region östlich von Berlin. Über ein halbes Jahrhundert hin blieben die Kirchenruinen stehen; niemand hatte die Kraft und die Möglichkeit, sich ihrer anzunehmen. Aber sie standen da: Mahnmale gegen den Krieg, Erinnerungen an die vergessene Wirklichkeit Gottes, Hinweise auf die geschändete Würde des Menschen. Hätte man sie beiseite geräumt, wäre die Bewegung zur Wiedergewinnung dieser Räume nicht möglich gewesen, die sich jetzt beobachten lässt. Ruinen werden wenigstens überdacht; oder die Gebäude werden wieder hergestellt. Die über die Jahrzehnte erhaltenen Gebäudereste mobilisieren auch nach einer langen Zeit des Wartens eine Solidarität die beschämen kann. Die vielen freien Initiativen, oft von der kirchlichen Stiftung KiBa oder der Deutschen Stiftung Denkmalschutz unterstützt, gehören zu den hoffnungsvollen Zeichen unserer Zeit. Man sollte ihnen die Anknüpfungspunkte für ihr Engagement nicht voreilig rauben. "Du Narr: Was Du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt!“ (1. Kor 15, 36), heißt es in der Bibel; wir sollten in der Kirche das Vertrauen in Gottes wunderbare Wege nicht verschütten.
In einem Text aus meiner Landeskirche heißt es: „Auch verfallende Kirchen sprechen eine deutliche Sprache; sie konfrontieren uns und unsere Zeitgenossen mit der Tatsache, dass es sich für unsere Generation als schwierig und in manchen Fällen als unmöglich erweist, eine Tradition fortzuführen, die das Leben vieler Generationen an diesen Orten nachhaltig geprägt hat. So sind baufällige, verfallene und bereits abgetragene Kirchen in aller Regel kein Beweis für Nachlässigkeit, sondern ein Zeichen für eine geschichtliche Entwicklung, die sie auf ihre Weise dokumentieren. Wir können uns an das Bild einer dem Verfall preisgegebenen Kirche nicht gewöhnen, aber wir wollen es ertragen, ohne gleich die Abgabe oder einen Verkauf ins Auge zu fassen.“ Es gehört zum Selbstverständnis unseres Glaubens, dass wir ungelöste Fragen, auch ungelöste Kirchbaufragen, als Chance für Neuanfänge verstehen. Wir haben kein Recht dazu, dass eine Frage, die wir nicht lösen können, einer nächsten Generation gar nicht mehr gestellt werden kann. Auch Kirchengebäude, die nicht kurzfristig in Stand zu setzen sind, behalten alles Recht auf ihrer Seite, von einer nächsten Generation zu neuer geistlicher Kraft und zu neuem Leben erweckt zu werden.
Nicht zu Unrecht ermahnt darum Wolfgang Pehnt unter der Überschrift "Deutschland schleift seine Gotteshäuser, Fallstudien: Ein Bildersturm fegt über das Land, der Hunderte von Kirchen mit Verkauf und Abriss bedroht": "Und wenn Nutzungsphantasie und Verhandlungsgeschick auf Dauer nicht fruchten, wäre dann nicht zu handeln, wie frühere Jahrhunderte gehandelt haben? Nämlich ein Bauwerk stillzulegen statt es abzuräumen, es zu schließen und zu sichern, gelegentlich Wallfahrten zu den aus dem Gebrauch gefallenen Sakralstätten zu organisieren, notfalls die Natur ihr Werk verrichten zu lassen, den Verfall planend zu begleiten. Ruinen binden Erinnerung auf lange Zeit. Erinnerung angesichts eines lädierten Bestandes ist allemal besser als der bald vergessene Totalverlust".
Es ist kein Zweifel: Vorrang gebührt dem Ziel, Kirchengebäude in Stand zu halten und zu nutzen. Der Artikel von Wolfgang Pehnt führt darin in die Irre, dass er die Erfolge dieses Bemühens überhaupt nicht würdigt. Zu Recht wird ihm auch entgegengehalten, dass er einzelne Vorgänge im katholischen Bereich in unzulässiger Weise verallgemeinert. Aber richtig an seiner Überlegung ist dies: Eine abgerissene, verkaufte oder missverständlich genutzte Kirche ist ein für allemal verloren; eine für Zeiten still gewordene Kirche ist ein Angeld auf eine Zukunft, die wir zwar selbst nicht sehen und übersehen, für die aber auch gilt, was im 1. Johannesbrief den Christen insgesamt zugerufen ist: „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden!“ (1. Joh 3, 2).
VI.
Doch eines bleibt hinzuzufügen: Die evangelische Kirche in Deutschland wird sich auch in Zukunft nicht in der Arbeit des Bewahrens und Erhaltens erschöpfen. Sie wird auch neue Kirchen bauen und neue geistliche Orte entwickeln. Zu nennen sind nicht nur außergewöhnliche Orte wie die wiederaufgebaute Dresdner Frauenkirche, die wir in genau einem Monat einweihen, oder wie das Wiederaufbauprojekt der Garnisonkirche in Potsdam. Zu reden ist auch von Stadionkapellen wie in der Arena „Auf Schalke“ und hoffentlich bald im Berliner Olympiastadion oder von Kapellen oder Räumen der Stille in Krankenhäusern und auf Flughäfen, an Urlaubsorten oder in Freizeitparks. Auch die Finanzierungswege für diese neuen Vorhaben deuten auf eine moderne Kirchenleidenschaft, die den Wert dieser Symbolräume auch in der modernen Lebenswelt zu schätzen weiß. Das vielfältige Engagement für Kirchengebäude ist in sich selbst auch ein „Zeichen in der Zeit“ für eine „umhergetriebene Gesellschaft“, die mitunter vor Erschrecken und Schmerz gar nicht weiß, wohin mit sich: „In Stunden des Entsetzens über Schicksalsschläge und Katastrophen (so hat es die Synode der EKD 2003 gesagt), über menschliche Bosheit oder die Ambivalenz technischen Fortschritts ... zieht es Menschen in die Kirchen als Orte, an denen sie in christlicher Symbolsprache Empfindungen ausdrücken können .... Ohne Anspruch auf Alleinbesitz des Evangeliums Jesu Christi und mit dem Schatz ihrer Glaubenserfahrung leiht die Kirche dem Entsetzen und Schrecken, der Angst, dem Leid, und der Trauer, aber auch der Freude und dem Jubel Form und Sprache.“ Und immer wenn dies geschieht, entsteht ein Stück Gottesfrieden, ein Stück treuga dei mitten in unseren Kirchen, mitten in unserer Welt – Gott sei Dank.