"Demokratie wagen - Der Protestantismus im politischen Wandel 1965 - 1985" - Festvortrag im Rahmen des 50jährigen Jubiläums der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, München
Wolfgang Huber
I. 1965 – 1985
Wer immer Verantwortung für die Leitung der Kirche trägt, ist auf fundierte Kenntnis der Kirchlichen Zeitgeschichte angewiesen. Diese von Wolf-Dieter Hauschild neu in Erinnerung gerufene Einsicht Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers stand, vielleicht mehr implizit als explizit, im Hintergrund, als der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland vor fünfzig Jahren die heutige Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte ins Leben rief. Das geschah zehn Jahre, nachdem die Evangelische Kirche in Deutschland selbst – mit der Kirchenführerkonferenz in Treysa im August 1945 – ins Leben getreten war. Von Anfang an war im Bewusstsein, dass das ein Anfang mit einer Vorgeschichte war. Deshalb trat als erste Aufgabe die unmittelbare Vorgeschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Gliedkirchen in den Blick. Aus diesem Grund war die ursprüngliche Aufgabe dieses Vorhabens so klar wie der Name, den man zunächst dafür wählte. Sie hieß nämlich in ihrer Anfangszeit Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der NS-Zeit.
Der 1971 vollzogene Namenswechsel zeigt eine Erweiterung des Aufgabenbereichs wie eine Veränderung der Perspektive an: Standen am Anfang die Jahre 1933 bis 1945 im Mittelpunkt der Forschung, so kamen nach und nach sowohl die Nachkriegsjahre als auch die Zeit zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Beginn des Dritten Reiches in den Blick. In den neunziger Jahren trat die Erforschung der Rolle der Kirche in der DDR hinzu.
Nun hat sich die Arbeitsgemeinschaft für die nächsten Jahre ein neues, ambitioniertes Projekt vorgenommen, das sich den Wechselwirkungen zwischen den sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre und dem Protestantismus widmen soll.
Im Namen des Rates der EKD gratuliere ich Ihnen von Herzen zu Ihrem Jubiläum. Ich denke dankbar an den großen Kreis von Gelehrten, die in diesem halben Jahrhundert diese Arbeit auf sich genommen, ja, sie zu ihrer eigenen Sache gemacht haben. Stellvertretend für alle will ich wenigstens die Reihe der Vorsitzenden in Erinnerung rufen, die diese Arbeit geleitet haben: Kurt Dietrich Schmidt, Ernst Wolf, Georg Kretschmar, Joachim Mehlhausen, Leonore Siegele-Wenschkewitz, Martin Kramer, Carsten Nicolaisen und jetzt Harry Oelke.
Mit dem dankbaren Respekt verbinde ich herzliche und gute Wünsche für die nächste Arbeitsphase mitsamt der Bearbeitung Ihres neuen, höchst spannenden Themas. Genau in dem Augenblick, in dem wichtige, durch das Jahr 1968 geprägte Protagonisten auf der politischen Bühne Deutschlands einen Schritt zurücktreten, beginnt Ihr Projekt. Ein Zeitenwechsel also in doppelter Hinsicht.
Für die Evangelische Kirche in Deutschland waren die Jahre zwischen 1965 und 1985 – also ungefähr der Zeitraum, auf den sich dieses neue Vorhaben richtet, – unruhig und durch tiefgreifende Veränderungen bestimmt. In diesem Fall lässt sich die Bedeutung des Zeitraums am Beispiel von zwei markanten kirchlichen Äußerungen, nämlich an zwei Denkschriften der EKD verdeutlichen. Am Anfang der genannten Ära stand die Ostdenkschrift, an ihrem Ende die Demokratiedenkschrift. Diese beiden Denkschriften sind in diesem Jahr 2005 wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein getreten, weil sich auch an sie Jubiläumsdaten knüpfen. Vor vierzig Jahren wurde die Ostdenkschrift, vor zwanzig Jahren die Demokratiedenkschrift veröffentlicht. Diese beiden Jubiläumsdaten bestimmen deshalb auch die Eckpunkte dessen, was ich Ihnen vortragen möchte.
Die eine, unter der Leitung des Juristen Ludwig Raiser erarbeitete Denkschrift – Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn – eröffnete eine neue Phase in der Wahrnehmung der europäischen Situation; sie trug zu den Voraussetzungen dafür bei, dass die Politik der Entspannung und der Verständigung mit Deutschlands östlichen Nachbarn, insbesondere mit Polen, möglich wurde. Allein die Stuttgarter Schulderklärung von 1945, derer vor wenigen Tagen zu gedenken war, hat eine vergleichbar vehemente öffentliche Reaktion ausgelöst. Außer ihr war keine andere öffentliche Äußerung der Evangelischen Kirche seit 1945 so umstritten wie die Ostdenkschrift; keine weckte ein so vehementes öffentliches Echo. Und zugleich: Keine löste eine vergleichbare politische Wirkung aus.
Thematisch behandelte die Denkschrift die Frage danach, wie Frieden, Versöhnung und Neuanfang nach den Schrecken des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkrieges nachhaltig möglich werden konnten. Das Verhältnis Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn blieb wegen der 1945 getroffenen territorialen Entscheidungen, die das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zu Polen betrafen, prekär und gespannt. Hier, also auf dem Boden von Schuld und Scham, von lebensgeschichtlichen Verlusten und erlittenen Verletzungen nach den Bedingungen der Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz zu suchen, hieß friedenspolitisches Neuland zu beschreiten. Aus heutiger Sicht kann man deshalb sagen: Die Ost-Denkschrift war die erste Friedensdenkschrift der EKD.
Die polnischen katholischen Bischöfe nahmen einen wichtigen Impuls aus der Denkschrift auf, als sie sechs Wochen nach ihrem Erscheinen jenen Brief an ihre deutschen Kollegen schrieben, der durch den Satz berühmt wurde: Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung. Die deutschen katholischen Bischöfe reagierten darauf dankbar, traten dabei jedoch der Frage, wie eine dauerhafte Friedensordnung in Europa aussehen könne und was das für Deutschlands Ostgrenze bedeute, nicht näher. Helmut Kohl hat gerade deshalb vor einigen Wochen in Gnesen das herausragende Verdienst der EKD-Denkschrift gewürdigt und zugleich offen hinzugefügt, als junges Präsidiumsmitglied der CDU in jener Zeit habe er sich keineswegs veranlasst oder in der Lage dazu gesehen, den politischen Impuls der Denkschrift aufzunehmen oder zu bejahen. Auch in der SPD herrschten zunächst die Stimmen vor, die es aus Rücksicht auf die große Wählergruppe der Vertriebenen bei der Tabuisierung der Grenzfrage belassen wollten. Willy Brandt jedoch spürte, dass dies für denjenigen unmöglich war, der das Ziel der deutschen Einheit im Auge behalten wollte. Denn dass diese allenfalls dann zu erreichen war, wenn von deutscher Seite Polens Westgrenze nicht in Frage gestellt wurde, stand ihm deutlich vor Augen. Auf diesem Weg sah er in der Denkschrift der EKD eine starke Ermutigung, ja eine Befreiung. Denn dieser kirchliche Vorstoß erweiterte den Spielraum politischen Handelns. Egon Bahr hat diese Analyse vor wenigen Tagen noch einmal öffentlich bestätigt. Zu Recht hat Jürgen Schmude die Ost-Denkschrift unlängst ein prophetisches Wort genannt.
Stand also die Ostdenkschrift am Anfang des Zeitraums, dem wir uns heute zuwenden, so die Demokratiedenkschrift – Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe – an ihrem Ende. Dass es ein Dokument sein würde, das im Rückblick ganz nah an das Ende der deutschen Teilung und die Vereinigung Deutschlands in einer freiheitlichen Demokratie rücken würde, hat damals niemand vorausgesagt. Nicht ohne Grund erschien die Demokratiedenkschrift manchen als ein spätes Dokument, als Resümee einer allmählichen Befreundung von Kirche und Demokratie. Doch darüber hinaus bildete diese Denkschrift, neben der Friedens- und der Wirtschaftsdenkschrift, einen wichtigen Baustein für eine evangelische Soziallehre; deren Entfaltung war für die Kammer für öffentliche Verantwortung, die in dieser Zeit unter dem Vorsitz des Münchener Theologen Trutz Rendtorff stand, ein gemeinsames wichtiges Anliegen.
Was heute so alternativenlos und unstrittig wirkt, nämlich die Bejahung der demokratischen Staatsform durch die evangelische Kirche, war das Resultat eines langen und komplizierten Prozesses. Bevor Protestantismus und Demokratie gleichsam Freundschaft schlossen, waren sie einander lange Zeit fremd, ja geradezu feindlich gewesen. Sich der Demokratie anzunähern, kostete Mut und war aus der Sicht vieler Protestanten und Protestantinnen geradezu ein Wagnis. Bei dem Versuch, das Ergebnis dieses Prozesses zusammenzufassen, erschlossen sich bei der Erarbeitung der Demokratiedenkschrift zugleich neue Einsichten. Ich sehe diese insbesondere in der markanten Anerkennung von Menschenwürde und Menschenrechten als den Ecksteinen der freiheitlichen Demokratie, in der sehr pointierten Beschreibung des Berufs zur Politik als einer allen Bürgerinnen und Bürgern gemeinsamen Aufgabe sowie schließlich in der wohl überlegten ethischen Einbeziehung der Grenzsituation des zivilen Ungehorsams in die Entfaltung des bürgerschaftlichen Verhaltens in der Demokratie.
Ostdenkschrift und Demokratiedenkschrift bilden die beiden Eckpunkte der folgenden Überlegungen. Das Verhältnis von Protestantismus und Demokratie bildet ihre Leitfrage. Dabei werde ich auch versuchen, die Rolle der sogenannten Achtundsechziger Bewegung, wie ich hier abkürzend sage, um die Generation des Aufbruchs und des politischen Wandels der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu kennzeichnen, im Spannungsfeld von EKD und Demokratie zu beleuchten. Meine These lautet dabei, dass die Achtundsechziger Bewegung auf ihre Weise dazu beigetragen hat, das Wagnis Demokratie für Kirche und Gesellschaft zu einem zukunftsfähigen Projekt zu machen.
II. Das Verhältnis der evangelischen Kirche zur Demokratie vor und nach 1945
Gewiss verdankt die moderne Demokratie den Impulsen aus evangelischen Kirchen viel. Die Forderung nach Gewissens- und Religionsfreiheit in den englischen Kolonien, die Ausgestaltung des modernen Menschenrechtsgedankens und der Einfluss presbyterial-synodaler Verfassungsformen sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Doch in Deutschland taten sich die evangelischen Landeskirchen auf Grund ihrer in der Epoche der Reformation entstandenen Nähe zum monarchischen Staat gegenüber allen demokratischen Verfassungstendenzen schwer. Für die Zeit des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts mag man sogar den Eindruck gewinnen, dass sie es mit der Bejahung der demokratischen Staatsform in mancher Hinsicht schwerer hatten als der römische Katholizismus, der sich mit der Zentrumspartei einen durchaus demokratiefreundlichen politischen Aktionskörper geschaffen hatte. Als das seit der Reformationszeit zur Praxis gewordene, durch den jeweiligen evangelischen Landesherren ausgeübte Kirchenregiment mit dem Ende der Monarchie im November 1918 und ihm folgend durch die Aufhebung des Staatskirchentums in der Weimarer Reichsverfassung juristisch beendet wurde, lebte bei vielen Protestanten der Summepiskopat noch lange Zeit als Bewusstseinsrelikt fort. Das trug dazu bei, dass es bis 1945 und sogar später noch in freilich kleiner werdenden protestantischen Kreisen Vorbehalte gegenüber der Staatsform der Demokratie gab. Selbst Mitglieder der Bekennenden Kirche oder christlich motivierte Widerstandkämpfer des 20. Juli 1944 waren keineswegs in jedem Fall demokratisch gesonnen – erst recht nicht in dem Sinn, in dem wir das aus heutiger Perspektive verstehen.
Und doch: Ansätze für einen positiven Bezug zur demokratischen Tradition gab es auch schon vor 1945. Man kann dies exemplarisch an Personen festmachen. Bedeutende evangelische Theologen waren überzeugte Demokraten, allen voran Adolf von Harnack, Friedrich Naumann, Martin Rade, Ernst Troeltsch, Karl Barth, Paul Tillich und Rudolf Bultmann, um nur einige Namen zu nennen, die durchaus unterschiedliche theologische Lager und Schulen repräsentieren. Erst recht waren viele politische Akteure, die aus weltlichen Berufen kamen und den Schritt zur Demokratie aus innerer Überzeugung vollzogen, in ihrer persönlichen Glaubenshaltung evangelisch geprägt. Und auch in dem entscheidenden Dokument des Kirchenkampfes aus dem Jahr 1934, der Barmer Theologischen Erklärung kann man zumindest Ansatzpunkte für demokratisches Denken entdecken. Die 5. Barmer These lautet:
Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.
In diesen Sätzen wird erstens klar gesagt, dass der Staat die ihm eigene funktionale Bestimmung hat, für Recht und Frieden zu sorgen. Damit ist also ein Staat abgewiesen, der für Unrecht und Rechtlosigkeit steht oder aber Unfrieden und Friedlosigkeit verursacht. Zweitens wird im ersten Verwerfungssatz der 5. Barmer These der Gedanke abgelehnt, es ... solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden ... . Die besondere Pointe erschließt sich durch die Verwendung des Adjektivs total an dieser Stelle. Denn total wollte das Dritte Reich sein, ja, es ist das Wesen aller totalitären Regime, sich selbst als die einzig gültige, alternativlose Ordnung des menschlichen Zusammenlebens zu verstehen. Schließlich aber wird mit großem Nachdruck die gemeinsame Verantwortung der Regierenden und der Regierten hervorgehoben. Diesen Schritt der 5. Barmer These würdigte die Synode der EKD in ihrer Kundgebung vom 8. November 1985 ausdrücklich. Die evangelische Kirche kommt aus einer Geschichte, in der explizites Thema kirchlichen Nachdenkens – so die Kundgebung – ... vor allem die Verantwortung der Regierenden und der Gehorsam der Regierten war. Die Barmer Erklärung aber thematisierte die Verantwortung der Regierenden und der Regierten in einem Atemzug. Das war neu, wegweisend und sollte die evangelische Staatsethik nach 1945 prägen. Ich sage hier bewusst: die evangelische Staatsethik, weil ich das gespannte Verhältnis des Protestantismus zur demokratischen Staatsform nicht allein für ein Problem des deutschen Luthertums halte, wie man dies aus Ernst Wolfs Aufsätzen aus den ersten Nachkriegsjahren sowie seiner – ohne Zweifel wichtigen – Deutung der Barmer Theologischen Erklärung vielleicht ableiten könnte.
Die Barmer Theologische Erklärung – gewiss auch umstritten in dem Maß ihrer kirchlichen Geltung – schuf wichtige Voraussetzungen für das veränderte Selbstverständnis der evangelischen Kirche nach 1945. Das neue Verständnis eines kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags, das notwendige kritische Wächteramt eingeschlossen, ist vielfach beschrieben worden, auch von mir selbst. Dafür, wie die evangelische Kirche sich in den Aufbau eines demokratischen Staats im Westen unseres Landes einbrachte, war nicht nur das allmählich wachsende Bewusstsein für eine begründete Bejahung der demokratischen Staatsform, sondern ebenso ein neues Bewusstsein für die politische Mitverantwortung evangelischer Christen bestimmend. In den Evangelischen Akademien, im Deutschen Evangelischen Kirchentag und in vielen anderen Formen verschaffte sich dieses Bewusstsein Geltung. Die Bereitschaft zur politischen Mitverantwortung zeigte sich in einer großen Spannweite von evangelischen Gruppierungen, die sich in die politische Diskussion einbrachten, vom Evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU bis zu den Kirchlichen Bruderschaften. Die Frage der Verantwortung für den Frieden, das Problem der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und die Auseinandersetzung über die Atomwaffen wurden in besonderer Weise Kristallisationskerne dieser Selbstverständigungsprozesse. Das Tübinger Memorandum führender Protestanten eröffnete eine Diskussion, die der Ostdenkschrift den Boden bereitete. Sie signalisierte aber auch darüber hinaus, dass nun das Motiv kritischer Partizipation bestimmend wurde für die Art und Weise, in der evangelische Christen sich in die politische Diskussion einbrachten. Dieser Gedanke enthielt zwei Momente: Das eine Moment bestand in der Erwartung, dass die demokratischen Partizipationsmöglichkeiten erweitert werden und ausgeschöpft werden sollten. Das andere bestand in der Bereitschaft, Inhalte der Politik kritisch zu begleiten und zu beeinflussen.
III. Die sozialen Bewegungen nach 1968 und die Demokratie
Als die EKD 1985 ihre Demokratiedenkschrift veröffentlichte, konnte sie nur für die evangelischen Christen in der Bundesrepublik, nicht für diejenigen in der DDR sprechen. Sie hatte deren Perspektive, die jedenfalls grundsätzlich gegenüber einem demokratischen Gemeinwesen aufgeschlossen war, aber zu berücksichtigen. Die EKD legte mit dieser Denkschrift ein klares Bekenntnis zur Staatsform der Demokratie ab. Sie begründete dies grundlegend mit dem Menschenbild, das einen wesentlichen Konvergenzpunkt darstellt. Dass alle Menschen zum Bild Gottes geschaffen sind und ihnen deshalb eine unantastbare Würde zukommt, dass sie zugleich fehlbar und irrtumsfähig sind und deshalb jeder Machtausübung Grenzen gesetzt werden müssen, erschien nun als so naheliegend und einsichtig, dass mit einem Mal die frühere Trennung zwischen Christentum und Demokratie als das Unselbstverständliche erschien, nicht ihre Verbindung.
Man kann sich allerdings fragen: Warum kam diese Einsicht erst so spät? Warum erst 1985 ein evangelisches Bekenntnis zur Demokratie und nicht schon 1965 oder zumindest 1975? Warum erschienen zahlreiche Friedensdenkschriften (von der Ostdenkschrift bis zu Frieden wahren, fördern und erneuern aus dem Jahre 1981 ), bevor die bis heute einzige Demokratiedenkschrift publiziert wurde?
Diese Fragen stellen sich noch schärfer, wenn man berücksichtigt, dass sowohl aus der Perspektive der Friedensforschung als auch nach den Erkenntnissen heutiger Demokratietheorien eine konstitutive Interdependenz von Frieden, sozialer Gerechtigkeit und Demokratie besteht. Das von Dieter Senghaas vertretene Modell des Zivilisatorischen Hexagons ist ebenso von diesem Gedanken geprägt, wie er auf der anderen Seite in demokratietheoretischen Standardwerken wie beispielsweise demjenigen von Manfred G. Schmidt leitend ist. Auch die neueren friedensethischen Texte der EKD sind von der Einsicht in den konstitutiven Zusammenklang von Demokratie und Frieden bestimmt. Das Leitbild vom gerechten Frieden, das die Friedensethik der EKD trägt, beruht auf diesem Gedanken. Wer heute Demokratie sagt, der muss auch Frieden sagen, und umgekehrt. Historisch gesehen war es allerdings so, dass die EKD immer wieder Frieden sagte, aber in ausdrücklicher Konzentration nur 1985 von der Demokratie sprach.
Vielleicht spiegelt sich darin zum einen eine spezifisch deutsche Befindlichkeit, die mit den Kriegen und Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und noch mehr mit dem im Kalten Krieg zeitweise zerbrechlich wirkenden Frieden in Europa zu tun hat. Claudia Lepp hat in ihrer Studie über das Tabu der nationalen Einheit, in der sie so ausführlich wie subtil das Ineinander des nationalen und des friedenspolitischen Diskurses in der EKD zwischen 1945 und 1969 nachzeichnet, ein weiteres Motiv deutlich gemacht: Im sogenannten Friedensstaat DDR konnte man sich, ohne die Machtfrage zu stellen, auf den Frieden berufen, nicht aber auf die Demokratie . Dachte die EKD somit inklusiv, indem sie die ostdeutschen evangelischen Christen mit einbeziehen wollte, so musste sie das Friedensthema wählen. Über Demokratie zu streiten, hätte die Verständigung schwerer gemacht und den Graben vertieft, den die besondere Gemeinschaft der evangelischen Kirche in Ost und West überbrücken sollte.
Ein weiterer Gesichtspunkt war, dass die Staatsform der Demokratie noch lange nach 1945 für den Protestantismus ein Wagnis blieb, für das Argumente gesucht werden mussten. Nichts daran war selbstverständlich. 1956 etwa schrieb Wolfgang Trillhaas, dass ... bis zur Stunde die Demokratie für sie [die lutherische Ethik] das eigentlich unbewältigte Thema darstellt. Und noch 1959 konnte sich der Ratsvorsitzende der EKD, Otto Dibelius, eine Obrigkeit nur in patriarchalischen Formen denken. Eine demokratisch gewählte Regierung besaß für ihn, da sie prinzipiell abwählbar war, keine wirliche Autorität. Es war eben ein weiter Weg bis zur uneingeschränkten Anerkennung der demokratischen Staatsform durch die evangelische Kirche. Es war ein Weg, der erst 1985 zu einem vorläufigen Abschluss kam. Erst in dem Jahr, in dem mit Richard von Weizsäcker erstmals ein deutscher Bundespräsident den 8. Mai 1945 offen als einen Tag der Befreiung bezeichnete, begann die EKD sich ausdrücklich als Herzschrittmacherin der bundesdeutschen Demokratie zu verstehen. Seitdem aber ist sie hinter diese Einsicht nicht mehr zurückgefallen.
Was hat die veränderte Einstellung zur Demokratie mit den sogenannten Achtundsechzigern zu tun? Wer waren oder sind sie? Und für welche Werte und Ziele standen (stehen) sie ein? Zunächst ist wichtig, dass die Achtundsechziger eine international und in sofern auch vielgestaltige Bewegung waren – nicht zentral gesteuert, wie sich versteht, aber doch direkt oder indirekt miteinander vernetzt, voneinander beeindruckt und sich wechselseitig beeinflussend. In den USA engagierten sie sich gegen den Vietnamkrieg und für die Gleichberechtigung der verschiedenen ethnischen Gruppen, in Frankreich traten sie ein für eine umfassende Universitätsreform, die auch soziale Verbesserungen für die Arbeiterschaft bringen sollte, in der Tschechoslowakei propagierten sie einen Sozialismus mit menschlichen Antlitz. In Deutschland schließlich kämpften sie gegen die Notstandsgesetze, gegen die Mediendominanz des Springerverlags und für einen gesellschaftlichen Aufbruch hin zu mehr Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Friedensbereitschaft.
Überall waren die Achtundsechziger eine Erneuerungsbewegung, getragen von einer überdurchschnittlich gebildeten, gärenden Jugend, seltener auch unterstützt von der traditionellen Arbeiterschaft. In Deutschland speziell verkörperten sie den Hunger nach Frieden, Freiheit, nach mehr Wahrhaftigkeit im Umgang mit der Geschichte des eigenen Volkes und für mehr Demokratie.
Viele der rebellierenden Jugendlichen erhofften sich eine Revolution und strandeten in utopistischen Illusionen, andere hofften auf die Reform dieser Gesellschaft. Die meisten Achtundsechziger waren friedlich und gewaltfrei gesinnt, andere waren bereit, Gewalt nicht nur gegen Sachen, sondern auch gegen Menschen anzuwenden. Der RAF-Terrorismus der 70er Jahre, in vieler Hinsicht tatsächlich nichts anderes als ein Linksfaschismus (Jürgen Habermas), entstand aus enttäuschten Kombattanten der Achtundsechziger.
Als Willy Brandt 1969 Bundeskanzler wurde, trat er nach außen für die Versöhnung mit den östlichen Nachbarn ein. Seine Ostpolitik erfüllte die Friedenshoffungen vieler Deutscher, vor allem auch – im Sinne der Ostdenkschrift – der an der Versöhnung mit den östlichen Nachbarn interessierten Protestantinnen und Protestanten. Nach innen gerichtet war sein programmatischer Anspruch, mehr Demokratie wagen zu wollen. In seiner Regierungserklärung vom Oktober 1969 sagte er:
Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, dass nicht nur durch Anhörungen im Bundestag, sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.
Wir wollen mehr Demokratie wagen. Vor allem dieser Satz ist zum Klassiker geworden. Die Rede davon, mehr Demokratie wagen zu wollen, setzt unmissverständlich voraus: Es gibt eine Demokratie, und diese ist bewährt und gesichert. Aber der Satz sagt zugleich: Das erreichte Maß an Demokratie reicht nicht aus. Dass die Demokratie eine zugleich verbesserungsfähige, aber auch verbesserungsbedürftige Staatsform sei, wurde in diesem einen Satz deutlich gemacht.
Brandts Rede zielte visionär auf die Zukunft der Gesellschaft. Er wollte mehr Partizipation der Bürgerinnen und Bürger möglich machen. Heute würde man sagen: Er wollte die Zivilgesellschaft aktivieren. Alle sollten eingeladen werden, konstruktiv an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken. In mancher Hinsicht ist das damals gelungen.
Brandts Formel bot aber auch Raum für Missverständnisse und Angriffsfläche für Polemik. Um den Raum möglicher Missverständnisse einzugrenzen, sagte Brandt mit Bedacht:
Wir können nicht die perfekte Demokratie schaffen. Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert. Diese Regierung sucht das Gespräch, sie sucht kritische Partnerschaft mit allen, die Verantwortung tragen, sei es in den Kirchen, der Kunst, der Wissenschaft und der Wirtschaft oder in anderen Bereichen in der Gesellschaft.
Willy Brandt gab sich somit ersichtlich nicht der Illusion hin, es könne eine perfekte Demokratie geben. Demokratie blieb für ihn eine durch die Mitwirkung und Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger verbesserbare Größe. Dabei waren für ihn auch die Kirchen als Partner gesellschaftlicher Gestaltung von Anfang an im Blick.
Brandt schuf mit seiner Reformpolitik neue Möglichkeiten der Partizipation sowie einen Freiraum für die Reformer unter den Erneuerern der Republik. Dass es zugleich zum sogenannten Radikalenerlass kam, markierte die Grenzziehung nach links, nämlich gegenüber einem Sozialismus, der sich der Demokratie verweigerte. Es scheint so, als würde dieser Radikalenerlass auch von seinen damaligen Kritikern milder beurteilt, seit es die DDR nicht mehr gibt, an deren Herrschaftsform sich diejenigen Radikalen anlehnten, die der Erlass aus dem öffentlichen Dienst fernhalten wollte.
Eine neue politische Kultur zeigte sich darin, dass das Streben nach Wahrhaftigkeit im Umgang mit der Geschichte des eigenen Volkes in jenen Jahren zu einem markanten Charakteristikum der demokratischen Entwicklung Deutschlands wurde. Insbesondere die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die über Jahrzehnte von der Unfähigkeit zu trauern (Alexander Mitscherlich) blockiert worden war, gewann an Intensität.
Ein Teil des Programms, das die Achtundsechziger Bewegung vertrat, ging mit der Politik der sozial-liberalen Koalition somit in Erfüllung. Andere Teile dagegen, nämlich der utopistische Überschuss sowie der gewaltbereite Enthusiasmus von Sektierern, konnten nicht integriert werden. Auf der einen Seite wurden daher Hoffnungen erfüllt, auf der anderen Seite gab es auch Enttäuschungen und Zorn. Was den Achtundsechzigern aber durch das Medium der sozial-liberalen Reformpolitik gelang, war die nachhaltige Etablierung der Demokratie selbst durch ihre konsequente, auf Partizipation beruhende Erneuerung. Insofern kann man die Achtundsechziger paradoxerweise als Enkel Konrad Adenauers sehen. Jürgen Busche schrieb deshalb kürzlich in einem Buch über die Achtundsechziger Bewegung:
Deutschland nach Westen zu bringen, eine deutsche Demokratie im Kreis der alten westeuropäischen Demokratien zu verankern, die Jugend des Landes im demokratischen Westen heimisch zu machen, das war für Adenauer, wo er bei der Gründung der Bundesrepublik als Staatsmann wirkte, das wichtigste Ziel gewesen. Und es waren die 68er, die das im Leben des Landes zu einem unumkehrbaren Prozess werden ließe.
Wem dies alles zu optimistisch und zu positiv klingt, dem sei noch einmal zugestanden: 1968 ist ein ambivalentes Symbol. Selbstverständlich gibt es auch starke Gründe für die Behauptung, diese Bewegung habe für Instabilität gesorgt und die Demokratie erheblich erschüttert, nicht nur durch die terroristischen Irrwege der RAF, sondern – weit subtiler und zugleich nachhaltiger – durch die Infragestellung von sogenannten Sekundärtugenden, wogegen zuletzt das EKD-Ratsmitglied Peter Hahne in seinem Bestseller Schluss mit lustig vehement zu Felde gezogen ist . Aber dass die Achtundsechziger zugleich zur Stabilisierung und Weiterentwicklung der Demokratie in der Bundesrepublik beitrugen, sollte darüber nicht vergessen werden. Und gerade in diesen Tagen, in denen sich Vertreter dieser Generation von der wichtigen politischen Ämtern verabschieden, sollte man die Größe haben, dies zu würdigen.
IV. Die EKD und die Achtundsechziger Bewegung
Wo gab es Nähen und Affinitäten zwischen der evangelischen Kirche, die hier zugleich als Institution und als soziale Bewegung verstanden wird, und den Achtundsechzigern, denen es selbst nur sehr unzureichend gelang, sich institutionell zu verfestigen? Ich gebe nur einige Hinweise auf Überschneidungen und Konvergenzen, die genauer zu untersuchen lohnend sein wird.
a) Erneuerung und Reform: Dass Reform eine dauernde Aufgabe ist, gilt als eine Grundeinsicht reformatorischer Kirchen, auch wenn diese Grundeinsicht erst spät zu der Formel von der ecclesia semper reformanda geronnen ist. Das Lebensgefühl einer ganzen Generation nach 1968 wurde von Willy Brandt sehr treffend in die Formel gefasst: Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen. Die Bereitschaft zur Veränderung und der Wille zur Erneuerung bilden ein gemeinsames Grundmotiv, aus dem sich der große Überschneidungsbereich zwischen dem Protestantismus und den Reformbestrebungen jener Zeit erklärt. Die leitende Grundüberzeugung heißt: Gesellschaft und Kirche müssen immer wieder zu neuen Aufbrüchen bereit sein.
b) Frieden und Gewaltfreiheit: Diese für große Teile der Achtundsechziger geltende Doppelparole fügte sich zu dem Thema der Ostdenkschrift und der weiteren Friedensdenkschriften, die danach entstanden. Die Friedensbewegung der achtziger Jahre verdankte der vorausgehenden studentischen Protestbewegung ebenso wichtige Anstöße, wie sie tief im protestantischen Milieu verwurzelt und von wichtigen evangelischen Organisationen – wie beispielsweise der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste – getragen war. Das Grundmotiv heißt: Gesellschaft und Kirche müssen sich für den Frieden in der Welt engagieren. Der Friede ist der Ernstfall, und als Mittel zum Frieden hat die Gewaltfreiheit Vorrang vor allen Mitteln der Gewalt.
c) Demokratie als Partizipation: Diese von Willy Brandt so stark ins Spiel gebrachte Auffassung korrespondiert mit einem wichtigen protestantischen Impuls, der sich ursprünglich im Gedanken des Allgemeinen Priestertums Ausdruck verschafft. Man kann hier auch an den Begriff der Volkskirche in seiner ursprünglichen, von Schleiermacher stammenden Prägung erinnern. Denn bei ihm meint Volkskirche die Kirche durch das Volk, also den freien, demokratischen Zusammenschluss von Gemeinden, die auf dem Priestertum aller Glaubenden und deren voller, gleichberechtigter Partizipation aufbauen. Die Volkskirche verwirklicht sich demnach vor allem in der aktiven Teilnahme mündiger Laien. Kirchenleitung hat ihre Aufgabe und ihren Sinn gerade darin, diese Teilnahme zu ermöglichen und zu ordnen. Das gemeinsame Grundmotiv heißt: Gesellschaft und Kirche brauchen die Beteiligung ihrer Mitglieder. Mündige Bürgerinnen und Bürger gestalten die Gesellschaft, mündige Christinnen und Christen die Kirche.
d) Mehr Wahrhaftigkeit im Umgang mit der eigenen Geschichte: Damit sind wir bei einem Thema, das im heutigen Zusammenhang besonderes Interesse verdient. War der Umgang mit den Jahren 1933 bis 1945 in der Gesellschaft der Bundesrepublik durch einen Zug zum kollektiven Beschweigen bestimmt, so hatte der Umgang der Kirche mit ihrer Geschichte in jenen Jahren eine Tendenz zur Verklärung. Die wachsende Aufmerksamkeit für die Rolle und die Verdienste der Bekennenden Kirche ließ manchmal die Einsicht in den Hintergrund treten, dass es sich bei ihr um eine Minderheit in der Kirche handelte, die zudem in sich selbst keineswegs homogen und in ihren politischen Urteilen keineswegs immer treffsicher war. In der gesellschaftichen Debatte verbindet sich die Zeit nach 1968 mit der Wendung zu einer selbstkritischen, oft auch schmerzhaften Aufarbeitung der eigenen Geschichte, auch der Geschichte bestimmter Institutionen, wie beispielsweise der Universitäten. Ein spiegelbildlicher Korrekturprozess vollzog sich im kirchlichen Bereich. Die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte wollte gewiss schon von ihren Anfängen her, aber dann doch deutlich verstärkt nach 1968, genauer gesagt: nach 1971, dem Ziel dienen, weniger hagiographisch als vielmehr wahrhaftig und kritisch einen mit Irrtum und Schuld beladenen Teil der Geschichte des eigenen Volkes und der eigenen Kirche wahrzunehmen und zu interpretieren. In diesem Fall heißt also das Grundmotiv: Gesellschaft und Kirche brauchen den Mut, ihrer eigenen Vergangenheit mit kritischem Verstand und ohne Beschönigung gegenüberzutreten.
Erneuerung und Reform, Frieden und Gewaltfreiheit, breite Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen sowie Wahrhaftigkeit im Umgang mit der eigenen Vergangenheit – diese vier Motive lassen sich als die Ecksteine eines unfertigen Gebäudes erkennen, das zu bauen für das deutsche Volk und für die evangelische Kirche zunächst lange Zeit unmöglich und später ein Wagnis war. Demokratie musste gewagt werden. Und – Gott sei Dank – sie wurde gewagt!
Demokratie wagen – mit dieser Formel habe ich meinen Vortrag überschrieben. Wer Demokratie wagt, muss auch bereit sein, die offene, demokratische Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen. Die Formel ist mit Absicht nicht nur bescheidener, sondern auch grundsätzlicher als Willy Brandts Formulierung: Mehr Demokratie wagen. Die nüchterne Einsicht, zu der Christen genauso verpflichtet sind wie zur unverbrüchlichen Hoffnung, lehrt, dass die Demokratie als solche nie ein sicherer Besitz ist. Ihr drohen immer auch Gefahren. Demokratie zu wagen ist deshalb die elementare Voraussetzung dafür, mehr Demokratie wagen zu können.
V. Herzschrittmacher der modernen Demokratie
Beiläufig habe ich die evangelische Kirche als Herzschrittmacherin der modernen bundesrepublikanischen Demokratie bezeichnet. Gewiss ist sie in dieser Aufgabe nicht allein. Sie nimmt diese Aufgabe nicht nur gemeinsam mit anderen christlichen Kirchen, sondern auch mit anderen intermediären Institutionen der Zivilgesellschaft wahr. Aber auch künftig wird die Kirche an der Aufgabe Anteil haben, das Herz des demokratischen Gemeinwesens zu stärken und am Schlagen zu halten. Dies gilt in besonderer Weise für die evangelischen Landeskirchen in den neuen Bundesländern, denen die Demokratie erst so spät als ein kostbares Geschenk zufiel und die ihren Wert gerade im historischen Vergleich zu der Zeit vor 1989 zu schätzen wissen.
Die Demokratie stärken kann nur, wer einen Sinn für die zahlreichen Probleme, Schwächen und Gefährdungen des demokratischen Gemeinwesens hat. Bereits in der Demokratiedenkschrift von 1985 werden solche Gefährdungen genannt. Heute treten uns dabei der Alterswandel unserer Gesellschaft, die dramatisch hohe Arbeitslosigkeit, die prekäre Situation der sozialen Sicherungssysteme und die labile Beteiligungsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger in den Blick. Staatsverschuldung und bürokratischer Selbstlauf, die Bürgerferne gesetzlicher Regelungen und die Entscheidungsträgheit des politischen Systems stehen vor Augen.
Jürgen Habermas hat sich in einem kürzlich erschienenen, autobiographischen Rückblick auf sein philosophisches Wirken ausdrücklich zu seinem Engagement, zu seiner Leidenschaft für die Staatsform der Demokratie bekannt. Dieses Engagement habe ihn dazu geführt, sich von der Demokratie weniger freundlich gesonnenen Denkern wie Martin Heidegger, Carl Schmitt oder Arnold Gehlen abzugrenzen. Habermas sagt in diesem Zusammenhang, bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein sei das demokratische Staatswesen in der Bundesrepublik Deutschland jederzeit gefährdet gewesen. Er spricht explizit von der Gefahr des Weimarer Syndroms und artikuliert seine Enttäuschung über den zähen, immer wieder gefährdeten Prozess der Demokratisierung im Nachkriegsdeutschland . Darüber hinaus bekennt er an gleicher Stelle: Meine Befürchtung vor einem politischen Rückfall ist bis in die 80er Jahre hinein ein Stachel für die wissenschaftliche Arbeit geblieben. Das bestätigt auf seine Weise die Überlegung, dass die Demokratie auf Menschen und auf intermediäre Institutionen angewiesen ist, die als Herzschrittmacher der Demokratie dienen können.
Um dieser Aufgabe willen nimmt unsere Kirche nicht nur zufällig und nebenbei, sondern wesentlich und zielgerichtet öffentliche Verantwortung wahr. Dazu braucht sie aber nicht nur Forschung, Verkündigung und Lehre, nicht nur Predigten, Kundgebungen und Denkschriften, nicht nur moralische Appelle und exemplarische Initiativen. Sie braucht vor allem Bürgerinnen und Bürger, die ihre politische Existenz als den weltlichen Beruf, als die Berufung aller Christenmenschen verstehen. Sie braucht Menschen, die Demokratie wagen, wo immer dies nötig ist, und dort mehr Demokratie wagen, wo es möglich erscheint. Die Ermutigung dazu gehört zu den Aufgaben kirchenleitenden Handelns. Die Voraussetzungen dafür sind vielfältig. Zu ihnen gehört auch und nicht zuletzt die Erforschung der kirchlichen Zeitgeschichte.