"Unverzichtbare Theologie - Ihr Beitrag für Universität, Kirche, Gesellschaft" - Vortrag anlässlich des vierzigjährigen Jubiläums der theologischen Fakultäten der Universität Bochum
Wolfgang Huber
I. Unverzichtbare Theologie
„Unverzichtbare Theologie“ - für wen ist Theologie unverzichtbar? Ich vertrete die These: Theologie ist nicht nur unverzichtbar für die Kirche. Sie ist auch unverzichtbar für die Universität. Und sie ist zugleich unverzichtbar für die ganze Gesellschaft.
Das ist ein hoher Anspruch. Dennoch glaube ich, dass er erfüllt werden kann. Allerdings natürlich nur dann, wenn es sich um gute Theologie handelt. Schlechte Theologie dagegen ist höchst verzichtbar, sie leistet weder einen Beitrag für die Universität, noch für die Kirche, und schon gar nicht für die Gesellschaft.
Leider gibt es schlechte Theologie. Diese Selbstkritik ist für die Theologie unentbehrlich; denn sie ist eine kritische Wissenschaft. Genauso deutlich muss aber auch gesagt werden: es gibt gute Theologie. Es ist kein Zufall, dass ich diese Feststellung heute anlässlich des vierzigjährigen Bestehens der Bochumer theologischen Fakultäten treffe. Denn die Bochumer Theologischen Fakultäten standen und stehen für gute Theologie. Und insofern standen und stehen sie auch für unverzichtbare Theologie.
Ich habe den hohen Anspruch erwähnt, der in dieser Formulierung liegt. Ich möchte im Folgenden begründen, warum ich diesen Anspruch für gerechtfertigt halte. Ich will dafür einen Blick darauf werfen, welchen Beitrag eine gute Theologie für die verschiedenen Bereiche leistet. Ich beginne dabei mit dem innersten Kreis der Kirche und gehe von dort weiter über zur Universität und schließlich zum äußersten Kreis der Gesellschaft.
II. Der unverzichtbare Beitrag der Theologie für die Kirche
Die christliche Theologie ist von Anfang an im Lebenszusammenhang der Kirche entstanden; sie bleibt auf diesen Zusammenhang immer angewiesen. Aber auch die Kirche ist auf die Theologie angewiesen. Das kommt unüberbietbar klar in der bekannten und unüberholten Definition Friedrich Schleiermachers zum Ausdruck, nach der Theologie der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln [ist], ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d.h. ein christliches Kirchenregiment, nicht möglich ist.
Unter Kirchenleitung ist dabei nach Schleiermacher umfassend die praktische Tätigkeit zu verstehen, die darauf gerichtet ist, dass die Kirche als Ganze ihren Auftrag wahrnimmt – nämlich den Glauben an Gott zu wecken und ihn zu loben. Wer also Theologie treibt, nimmt damit kirchenleitende Verantwortung wahr – keineswegs nur in der äußerlich erkennbaren Übernahme kirchlicher Leitungsämter.
In doppelter Weise sind Theologie und Kirche aneinander gebunden. Zum einen ist die Theologie auf die Aufgaben der Kirchenleitung ausgerichtet, nämlich darauf, dass ihre Kenntnisse und Kunstregeln angeeignet und gebraucht werden. Zum anderen ist die Kirchenleitung auf Theologie angewiesen, nämlich darauf, dass ihr praktisches Handeln kritisch auf sein Zusammenstimmen mit jenen Kenntnissen und Kunstregeln überprüft wird. Wie wichtig diese doppelte Bindung ist, kann ich aus eigener täglicher Erfahrung bestätigen.
Nach meinem Verständnis als Hochschullehrer wie als Bischof ist es die Aufgabe der Theologie, für die Freiheit des Glaubens so einzutreten, dass die Vernunft beim Verstehen dieses Glaubens keinerlei ideologischen Vorgaben unterworfen wird. Und es ist ebenso mein Verständnis, dass es die Aufgabe der Kirchenleitung ist, für die Freiheit der Theologie so einzustehen, dass dies auch der Freiheit des Glaubens dient.
Den guten Rat der Theologen im akademischen Lehramt werden wir Kirchenleitenden immer wieder in Anspruch nehmen – insbesondere in der einfachen, aber wirkungsvollen Form des aufmerksamen Lesens und Hörens. Aber wir geben dabei unsere eigene theologische Kompetenz nicht auf und befolgen somit den paulinischen Rat, alles zu prüfen und das Gute zu behalten.
Im Übrigen wird in vielen Fällen die Freiheit kirchenleitenden Urteilens und Handelns schon dadurch gesichert, ja geradezu herausgefordert, dass die akademischen Theologen sich selbst nur sehr bedingt einig sind. Ja, die akademische Theologie neigt (zumindest im evangelischen Bereich) manchmal sogar dazu, ihre dissonante Pluralität mit der grundsätzlichen Wissenschaftsfreiheit in eine unauflösbare Verbindung zu bringen oder sie gar zum protestantischen Prinzip zu erheben. Dabei ist positionelle Pluralität zwar ein Ausgangspunkt, aber keineswegs das Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis.
Die konstruktive Verbindung von Theologie und Kirche ist ein Konvergenzpunkt der großen Traditionen evangelischer Theologie im 19. und 20. Jahrhundert. Auf Schleiermacher habe ich hingewiesen. Karl Barth hat dieser Verbindung dadurch programmatischen Ausdruck gegeben, dass er seine Dogmatik im zweiten Anlauf nicht mehr Christliche Dogmatik, sondern Kirchliche Dogmatik nannte. In seinem Gefolge hat neben vielen anderen beispielsweise Hans Joachim Iwand betont, dass die Theologie sich primär am Worte Gottes zu orientieren habe. Und da auch die Kirche nur vom Worte Gottes her lebe, seien beide kontingent und ereignishaft aufeinander bezogen. Aufgabe der Theologie sei es, in der sich wandelnden Welt auf das Wort Gottes zu achten und es weiterzugeben. Insofern seien Theologie und Verkündigung ganz eng aufeinander bezogen, so dass Iwand formulieren konnte: Nicht das Katheder, sondern die Kanzel ist der Punkt, auf den Lehren und Lernen bei uns ausgerichtet sein sollte. Daran schloss er eine Mahnung an alle diejenigen an, die in der theologischen Lehre aktiv sind: Der theologische Lehrer muss also seinen Schüler zu einem Prediger erziehen, aus dessen Verkündigung er selbst seinen Glauben schöpfen könnte.
Das ist eine Mahnung, die ich auch nach fünfzig Jahren noch für bedenkenswert halte.
Bei allem konstruktiv-kritischen Miteinander von Theologie und Kirchenleitung ist doch nicht zu übersehen, dass diese beiden Seiten institutionell auseinander treten. Die akademisch-wissenschaftliche Theologie und das gegliederte kirchenleitende Amt sind voneinander unterschieden, um miteinander in einen Dialog eintreten zu können. Gerade durch dieses institutionelle Auseinandertreten kann die Theologie zur unverzichtbaren, weil kritischen Instanz der kirchlichen Praxis werden – und sie wird es hoffentlich auch bleiben. Gerade dadurch kann umgekehrt auch die Kirchenleitung zur kritischen Instanz der Theologie werden – und es hoffentlich bleiben. Die eine Seite gibt über das Resultat ihrer theologischen Überprüfung kirchlichen Handelns Auskunft, die andere Seite gibt zu erkennen, ob und inwieweit jene theologische Überprüfung das jeweilige kirchliche Handeln tatsächlich trifft und es möglicherweise unterstützt. Dabei muss Freiheit die Grundlage dieses gegenseitigen Handelns sein, damit die unlösliche Verbundenheit von Theologie und Kirchenleitung wirklich fruchtbar werden kann. Die Theologie hat die Freiheit, ein anderes kirchliches Handeln vorzuschlagen – die Kirchenleitung hat die Freiheit, sich eine andere Theologie zu wünschen. Nur so kann die Theologie ihre kirchenleitende Aufgabe wahrnehmen; und nur so kann die Kirchenleitung ihre theologische Qualität wahren.
Auch im Blick auf die ökumenische Aufgabe, die Kardinal Kasper gerade zum Thema gemacht hat, halte ich das Modell von Freiheit und wechselseitiger Verantwortung, das ich gerade am Beispiel der evangelischen Verhältnisbestimmung von Kirchenleitung und Theologie beschrieben habe, für hilfreich, ja für wegweisend. Auch an diesem Punkt bin ich der Auffassung, dass wir unterschiedliche konfessionsbestimmte Ausprägungen kirchlichen Selbstverständnisses wie theologischer Arbeit nicht verschweigen, sondern ausdrücklich thematisieren sollten. Der Weg zu größerer ökumenischer Gemeinschaft setzt geradezu voraus, dass wir diese unterschiedlichen konfessionellen Ausprägungen wahrnehmen und uns in ihnen wechselseitig respektieren.
Aus diesem Grund habe ich in der jüngsten Vergangenheit verschiedentlich gesagt, dass wir uns in der Phase einer Ökumene der Profile befinden. In dieser Formulierung liegt keine Einschränkung der ökumenischen Verpflichtung; sie beschreibt vielmehr ein unaufgebbares und unausweichliches Moment des ökumenischen Weges. Die Rede von einer Ökumene der Profile soll den ökumenischen Einsatz unserer Kirche auf neue Weise unterstreichen. Wir wollen das Gemeinsame stärken. Den einen Glauben haben wir zu bekennen, weil wir an den einen Herrn gebunden sind. Die eine Taufe feiern wir, weil uns der eine Geist bestimmt (vgl. Epheser 4,4-6).
Im Blick auf die Einheit, die wir bekennen, gibt es gegenwärtig konkrete Vorhaben, die wir in Deutschland fördern wollen. So wollen wir in der Gemeinschaft aller Kirchen, die der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen angehören, zu einer Vereinbarung über die wechselseitige Anerkennung der Taufe kommen. Andere Vorhaben wie ein ökumenisches Zusammenwirken bei der Revision der katholischen Einheitsübersetzung der Bibel ließen sich dagegen nicht verwirklichen, weil die Kriterien für die Bearbeitung eines solchen Vorhabens auf katholischer und auf evangelischer Seite zu unterschiedlich waren. Die beiden Beispiele illustrieren, dass wir es in der konkreten ökumenischen Arbeit mit beidem zu tun haben: mit Einheit und mit Vielfalt, mit Verschiedenheit und mit Versöhnung. Wenn die ökumenische Aufgabe deshalb als Einheit in Vielfalt oder als versöhnte Verschiedenheit beschrieben wird – zwei Ausdrucksweisen, die doch im Kern dasselbe besagen – , dann muss beides zusammen zum Thema werden: die Legitimität der Verschiedenheit wie der Grund und die Gestalt der Einheit.
Das Gemeinsame zwischen den christlichen Kirchen zu stärken, bleibt die erste ökumenische Aufgabe. In diesem Rahmen muss aber auch über unterschiedliche Auffassungen des christlichen Glaubens wie über unterschiedliche Typen des Kircheseins offen gesprochen werden. Die Wahrnehmung von Differenzen ist keine Absage an die ökumenische Verpflichtung, sondern bildet in ihr ein unaufgebbares Moment. Der Dialog über die jeweiligen Prägungen der unterschiedlichen Kirchenfamilien gewinnt heutzutage aus einer Reihe von Gründen an Gewicht. Die verstärkte Hinwendung des römisch-katholischen Interesses zu den orthodoxen Kirchen trägt dazu ebenso bei wie die Notwendigkeit, sich verstärkt mit evangelikalen und pflingstlerischen Strömungen zu beschäftigen. Solche Bemühungen können in wichtigen Fragen Übereinstimmungen zur Folge haben. Aber sie zielen zugleich darauf, dass Gemeinsamkeit auch in der Differenz bewahrt und gelebt werden kann.
Dies setzt freilich voraus, dass sich die Verschiedenen im Bewusstsein des Gemeinsamen respektieren. Versöhnte Verschiedenheit ist und bleibt ein Grundzug des ökumenischen Miteinanders. Wir halten an der Hoffnung auf ein wachsendes Maß an Gemeinschaft fest; das Bemühen darum muss weitergehen. Aber die Verweigerung des Respekts vor dem Kirchesein eines ökumenischen Partners ist kein geeignetes Mittel, die Gemeinschaft mit ihm wachsen zu lassen. Zum wechselseitigen Respekt zwischen ökumenischen Partnern, den Respekt vor den kirchlichen Ämtern des anderen eingeschlossen, gibt es keine Alternative.
In die Ökumene unserer Zeit bringen wir gern und zuversichtlich unser evangelisches Profil ein. Wir wollen es für das gemeinsame Zeugnis fruchtbar machen. Heute bezeugen wir das Evangelium in missionarischer Situation. Ökumenisch verbunden sind wir nicht zuletzt durch den Auftrag zu einem gemeinsamen Wirken nach außen. Dieses wird nicht geschwächt, wenn die bleibenden Unterschiede zwischen den Kirchen hervortreten und verständlich gemacht werden. Es wird vielmehr dann geschwächt, wenn die Kirchen zwar voneinander getrennt bleiben, aber niemand weiß, warum. Wenn die beiden großen Konfessionen in Deutschland auf je unterschiedliche Weise dazu beitragen, dass das eine Evangelium die Menschen erreicht, brauchen sie sich ihrer Unterschiede nicht zu schämen. Das gilt natürlich auch für die theologischen Fakultäten, besonders wenn sie – wie hier in Bochum – in ökumenischer Nachbarschaft an einer Universität miteinander existieren.
III. Der unverzichtbare Beitrag der Theologie für die Universität
Der unverzichtbare Beitrag der Theologie für die Universität gilt zunächst einmal historisch; denn in gewisser Weise hat die Theologie die Universität überhaupt erst erfunden. Als sich 1208 in Paris Lehrer und Studenten verschiedener Disziplinen zur ersten Universität zusammenschlossen, spielten die großen geistlichen Ausbildungsstätten eine Schlüsselrolle, allen voran die Kathedralschule von Notre Dame. Es waren die Theologen, von denen die Initiative ausging, sich zu einer unabhängigen Gemeinschaft Lehrender und Lernender zu vereinigen. Am Beginn der Geschichte der Universität stand eine Theologie, die zugleich die institutionelle wie auch die inhaltliche Protagonistin einer bis dahin in Europa unbekannten Bildungsbewegung war.
Natürlich reicht eine solche historische Erinnerung, so nötig sie ist, allein nicht aus. Denn wer die weitere Geschichte der Universität aufmerksam betrachtet, wird bemerken, dass es in der Folgezeit, vermehrt am Beginn des letzten Jahrhunderts, immer wieder zur Gründung von Universitäten gekommen ist, in denen zum Teil sehr bewusst auf theologische Fakultäten verzichtet wurde. Und selbst wenn diese Entscheidung in einigen Fällen wieder zurückgenommen wurde und wie in Hamburg, Köln oder Frankfurt nachträglich theologische Fakultäten oder Lehrstühle eingerichtet wurden, kann das historische Argument nicht das einzige sein, das die Unverzichtbarkeit von Theologie für die Universität begründet.
Vielmehr muss inhaltlich dargelegt werden, warum auch in einer Zeit, in welcher der Staat, der nach wie vor Träger der meisten Universitäten ist, sich als säkular versteht, theologische Fakultäten trotzdem an der Universität sinnvoll, ja notwendig sind.
Eberhard Jüngel hat einmal formuliert, das, was die Theologie mit der Universität zutiefst […] verbindet, sei zuerst und vor allem die ihr wesentliche Bestimmung, für Wahrheit verantwortlich zu sein. Die Theologie erinnert die Gesamtheit der Wissenschaften und darum auch die Universität daran, dass sie mehr ist als ein Durchlauferhitzer für bestimmte Berufe, wie es von Teilen auch der politischen Öffentlichkeit heute immer massiver gefordert wird.
Besonders deutlich hat zuletzt der bayerische Wissenschaftsminister Thomas Goppel eine solche Forderung aufgestellt, der folgendermaßen zitiert wird: Alle Studienangebote werden nach ihrer Attraktivität für den Arbeitsmarkt und für Studierende gemessen und angepasst, gegebenenfalls auch eingestellt. Ohne in Abrede stellen zu wollen, dass man auch auf die Berufschancen und ihren Wandel achten muss, bestreite ich doch energisch, dass es genügt, allein darauf zu achten. Der evangelische Kirchenvater des 19. Jahrhunderts, Friedrich Schleiermacher, hat hierzu bereits vor fast 200 Jahren die notwendige Antwort gegeben: Eine Haltung, die höhere Bildung nur insoweit gewährt, als es dafür einen gesellschaftlichen Bedarf gibt, erklärte Schleiermacher nämlich für absolut unchristlich. Die Theologie darf deshalb nicht versuchen, ihre Unverzichtbarkeit für die Universität dadurch zu begründen, dass sie sich auf eine bloße Berufsvorbereitung reduzieren lässt oder in vorauseilendem Gehorsam selbst reduziert.
Eine sinnvolle Begründung muss vielmehr anders aussehen. Die Wissenschaftliche Gesellschaft für Theologie hat zu Beginn dieses Jahres versucht, die Aufgaben theologischer Fakultäten in Deutschland zu umreißen. Dabei hat sie unter anderem festgestellt:
„Die Einrichtung und Unterhaltung Theologischer Fakultäten entspricht dem kulturstaatlichen Auftrag des Grundgesetzes (Art. 5) im Sinne der Pflege von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre. Dieser Auftrag gilt nicht nur für bestimmte, etwa aus ökonomischen Gründen als vielversprechend angesehene Wissenschaften, sondern umfasst prinzipiell alle Formen von Wissenschaft und somit auch die theologische Wissenschaft mit ihren normativen Voraussetzungen und ihrem Bezug auf Kirche.
Weiter heißt es: Theologische Fakultäten haben teil an der Gesamtaufgabe der Universität, sowohl hinsichtlich des allgemeinen Bildungsauftrags von Universitäten als Stätten Höherer Bildung (higher education) als auch in zahlreichen Forschungsprojekten, (Graduierten-) Kollegs, Forschergruppen, Kommissionen usw., im Sinne interfakultärer Kooperation.
Das heißt doch: Theologie ist eben dann unverzichtbar, wenn sie sowohl disziplinär als auch interdisziplinär ist. Theologie muss interdisziplinär sein; sie darf die anderen Wissenschaften nicht ignorieren, sondern muss sich mit ihnen in einem ständigen Gespräch befinden. Denn sie darf niemals zum selbstreferentiellen System werden. Aber gute Theologie muss auch disziplinär sein. Sie muss bei ihrer Sache bleiben und darf die Einheit ihres Gegenstandes nicht aufgeben. Eine Theologie, die bloß andere Wissenschaften kopiert, wird irgendwann von diesen nicht mehr ernst genommen, sie wird verzichtbar.
Der Kirchenhistoriker Christoph Markschies, der gerade zum Präsidenten der Humboldt-Universität zu Berlin gewählt wurde, hat vor einiger Zeit auf meine Bitte hin prägnant zusammengefasst, worin er den wichtigsten Beitrag einer Theologischen Fakultät für eine Universität sieht, nämlich in ihrem ideologiekritischen und darin das interdisziplinäre Gespräch fördernden Impuls für andere Wissenschaften: Eine Theologische Fakultät als Ganze bewahrt im besten Fall gemeinsam mit anderen Disziplinen wie der Philosophie eine Universität davor, dass an ihr Vorläufiges als ewig Gültiges und Hypothesen über Wirklichkeit für die Wirklichkeit ausgegeben werden.
IV. Die unverzichtbare Beitrag der Theologie für die Gesellschaft
Die von mir bereits erwähnte Erklärung der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie hat eine Aufgabe theologischer Fakultäten benannt, die einen unverzichtbaren Beitrag der Theologie für die Gesellschaft beinhaltet. Unter Bezugnahme auf Art. 4 des Grundgesetzes wird dort gesagt, dass theologische Fakultäten der Klärung und Gestaltung des Verhältnisses von Religion und Gesellschaft dienen. Sie tragen bei zum friedlichen und toleranten Zusammenleben in der Gesellschaft und unterstützen die Wahrnehmung positiver Religionsfreiheit.
Denn es ist ja mit Händen zu greifen: Anders als viele Prognosen uns das vormachen wollten, ist die Religion keineswegs aus unserer Gesellschaft verschwunden. Sie spielt nach wie vor eine große Rolle im Leben der Menschen. Es ist deshalb ein wichtiger gesellschaftlicher Beitrag der Theologie, die bleibende Bedeutung von Religion auch in aufgeklärten Gesellschaften wahrzunehmen und angemessen zu begreifen.
Leider ist dies nicht selbstverständlich. Im Gefolge des 11. Septembers 2001 ist vielfach auf beschämende Weise deutlich geworden, dass in den Bildungseinrichtungen unserer Gesellschaft und bei den politischen Entscheidungsträgern Urteilskraft in Fragen der Religion fehlt. Dieses Defizit bezieht sich nicht nur auf religionswissenschaftliche Kenntnisse insbesondere über den Islam. Es fehlt auch an Wissen über das Christentum. So liegt der gesellschaftliche Beitrag der Theologie zunächst schlicht darin, ein Archiv des Wissens zu sein, ein Institut zur Pflege des kollektiven Gedächtnisses, ohne das wir unsere Kultur nicht verstehen können.
Unverzichtbare Theologie ist deshalb schlicht achtsame Theologie, die den Respekt vor den alten und ältesten Überlieferungen nicht verliert, die ihre Klassiker philologisch erforscht und ediert und so einer lesenden Öffentlichkeit zugänglich macht.
Schnell mag man einwenden, die Theologie dürfe nicht zur Museumshüterin von Vergangenem werden. Nein, das darf sie nicht. Freilich kann sie ihre engagierte und kritische Zeitgenossenschaft nur dann zeigen, wenn sie ihr Interesse an der Erforschung der Geschichte des Christentums nicht verliert, wenn sie die Aktualität ihrer Klassiker mit den besten Argumenten vorbringt und wenn sie ihre wissenschaftlichen Methoden der Exegese, der Hermeneutik und der Kritik nicht vernachlässigt. Das Verständnis für die Gegenwart setzt das Verständnis der Vergangenheit voraus. Seinen eigenen Ort findet nur, wer Erinnerungsorte kennt.
Lange dachten viele, eine Religiosität, die sich ganz ins Private zurückziehe, bedürfe keiner reflektierenden Begleitung aus der Perspektive der wissenschaftlichen Theologie. So konnte man manchmal fast den Eindruck gewinnen, religionssoziologische Untersuchungen, also das Messen und Beschreiben eines Ist-Zustandes der Religion in der Moderne, hätten das theologische Nachdenken ersetzt. Wir haben der religionssoziologischen Forschung gerade deshalb viel zu verdanken, weil die Erforschung der gelebten Religiosität so manche theologische Sicherheit zu recht in Frage stellt. Was in diesen Beschreibungen allerdings fehlt und dem Selbstverständnis der Sozialwissenschaften gemäß auch fehlen muss, ist die Frage nach den Kriterien und Maßstäben für die kritische Beurteilung gelebter und gelehrter Religion. Hier liegt in meiner Perspektive der wichtigste gesellschaftliche Beitrag der Theologie.
Die Theologie bietet einen Gesamtblick auf die Wirklichkeit der Welt, wie er in ähnlicher Weise sonst nur noch von der Philosophie geboten wird. Dadurch wird der Wissenschaft eine unvergleichliche kritische Orientierung eröffnet. Eberhard Jüngels Hinweis auf die einzigartige Wahrheitsbezogenheit der Theologie ist auch für die Bedeutung der Theologie für die Gesellschaft entscheidend. Hinzuzufügen ist nur: Theologie orientiert sich an einem Bild vom Menschen, das diesen nicht über seine Leistung oder über seine guten (oder auch schlechten) Werke definiert, sondern ihn über den Glauben und die Bestimmung zum Ebenbild Gottes in den Blick nimmt. Das ist gewiss ein Fremdkörper im Konzert der neuzeitlichen Wissenschaften, bildet aber auch für unsere Gesellschaft eine besondere Herausforderung.
Jürgen Habermas hat in seinem jüngsten Buch über Naturalismus und Religion an vielen Stellen darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass unsere Gesellschaft erkennt, warum die Ausbreitung religiöser Toleranz […] innerhalb demokratischer Verfassungsstaaten zum Anreger und Vorbild für die Einführung weiterer kultureller Rechte geworden ist. In diesem Zusammenhang hat Habermas die religiöse Toleranz als einen Schrittmacher für die Entstehung von Demokratien bezeichnet.
V. Zum Abschluss: Tolerant aus Glauben
In der letzten Woche haben wir uns auf der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland intensiv der Frage zugewandt, ob es eine spezifische Begründung der derzeit allgemein erhobenen Forderung nach Toleranz aus dem christlichen Glauben gibt. Die Synode hat sich bei ihrer Antwort auf diese Frage an folgende Orientierungspunkte gehalten:
1. Als evangelische Christinnen und Christen nehmen wir den Pluralismus in unserer Gesellschaft als Chance und Herausforderung an. Dabei wollen wir unseren Glauben offen bekennen, leben und für ihn werben. Glaubensgewissheit und Toleranz gehören für uns zusammen.
2. Unsere Toleranz ist in der Toleranz des dreieinigen Gottes begründet, der alle Menschen zu seinem Bild geschaffen hat, sie liebt und sie zum Glauben an ihn ruft. Gott in seiner Gerechtigkeit verurteilt die Verletzung der Menschenwürde und den Missbrauch von Freiheit. Gottes Versöhnung öffnet allen Menschen immer wieder neu den Weg zum Glauben.
3. Toleranz zielt auf die wechselseitige Anerkennung der Würde jedes Menschen und seines Verständnisses von Wahrheit, Leben und Glauben. Dabei hängt unsere Toleranz nicht davon ab, dass sie von anderen im gleichen Maße geübt wird. Doch nur auf der Basis der wechselseitigen Anerkennung kommt es zu einer Streitkultur, die einen offenen Dialog über die unterschiedlichen Denk-, Lebens- und Handlungsweisen ermöglicht.
Die Diskussion der Synode über dieses Thema, auch nach den theologischen Impulsen durch die Bibelarbeit des Neutestamentlers Hans-Joachim Eckstein und durch den Hauptvortrag der Journalistin und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth von Thadden, war für mich ein deutliches Beispiel dafür, welch wichtige Rolle gute Theologie für die Gesellschaft wahrnehmen kann.
Was an der Theologie unverzichtbar ist, habe ich in knappen Strichen für die Bereiche der Kirche, der Universität und der Gesellschaft aufzuzeigen versucht. Eines ist dabei hoffentlich deutlich geworden: Wirklich unverzichtbar ist Theologie dann, wenn sie sich nicht auf Beiträge zu einem dieser drei Bereiche beschränkt. Wenn sie eine solche Selbstbeschränkung überwindet, muss sie nicht mehr bloß proklamieren, unverzichtbar zu sein. Dann ist sie es.