Predigt im Trauergottesdienst für Bundespräsident a.D. Dr. Johannes Rau im Berliner Dom

Wolfgang Huber

Sehr verehrte Frau Rau, liebe Anna, Philipp und Laura Rau,

verehrte Angehörige und Weggefährten des Verstorbenen,

sehr geehrter Herr Bundespräsident, liebe Trauergemeinde,

Wohl wussten wir und wusste Johannes Rau selbst, wie sehr sein Leben vom Tod, dem „letzten Feind“ - wie die Bibel sagt -, bedroht war, vor allem seit der Herzoperation vor eineinhalb Jahren. Eine schwere Erfahrung. Er hat sie nicht verborgen. Als Gezeichneter trat er vor die Öffentlichkeit, hielt Reden, zum Beispiel eine bewegende Bibelarbeit auf dem Evangelischen Kirchentag in Hannover im Juni vergangenen Jahres. Seine Hoffnung auf Genesung war stark, hatte er doch vor vierzehn Jahren eine Krebsoperation überstanden. Bei diesem Anlass hatte Heinrich Albertz ihm das Wort mitgegeben: „Wir können nicht tiefer fallen als in Gottes Hände.“ Es wurde ihm zu einem Leitwort für sein weiteres Leben – bis zuletzt.

Nun hat sich dieses Wort auf seine Weise erfüllt, in einem friedlichen Sterben nach der langen Krankheitszeit. Nun kam der Tod und für uns der Abschied von ihm, den wir doch so liebten. Und wir wissen alle, wie sehr wir ihn weiter gebraucht hätten, seine Allernächsten zumal. Sich da mit eigenen Worten trösten zu wollen, wäre zu schwach für Eure, für unsere Trauer. Nun sind ein anderer Trost und eine andere Hilfe nötig, als wir sie uns selbst sagen können.

Solche Hilfe kommt zu uns aus dem Bibelwort im 119. Psalm, das als Losung über dem Tag des Todes von Johannes Rau stand: „Lass meinen Gang in Deinem Wort fest sein und kein Unrecht über mich herrschen“ (Psalm 119, 133).

Als evangelischer Christ reformierter Prägung liebte Johannes Rau die Psalmen. Gerade weil er selber eine Scheu hatte, von seinem persönlichen Glauben zu sprechen, fand er formulierte Gebete - und darunter vor allem die Psalmen - so hilfreich. Beim Beten sei man nie sicher, so bekannte er einmal, ob man nur ein Selbstgespräch führe. Statt den Adressaten zu suchen, suche man dann eben leicht nur sich selbst.

Den Adressaten des Gebets, Gott, suchte und fand Johannes Rau im Wort der Bibel. Deshalb las er, wenn irgend möglich, täglich die Worte der Herrnhuter Losungen. So wollen wir auch heute auf das Wort des Psalmisten hören, das Johannes Raus letztem Tag galt. Wir achten auf dieses Wort zunächst in seinem ersten Teil: „Lass meinen Gang in deinem Wort fest sein!“

Wie viele biblische Worte hatte Johannes Rau in seinem begnadeten Gedächtnis aufbewahrt! Aber es ging ihm darum, in den Worten der Bibel das eine Wort zu finden und zu erkennen. Von diesem Wort sagt das berühmte evangelische Bekenntnis, das im Jahr 1934 in Raus Heimatstadt Wuppertal-Barmen entstand: „Jesus Christus, wie er in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ In diesem Wort wurden der Gang und der Weg von Johannes Rau fest und sicher.

Dieses Wort ist eigentlich ein Name. Den hatte er schon in seinem Elternhaus lieb gewonnen. Seinem Wunsch folgend erscheint deshalb auch auf seiner Todesanzeige dieser Name – mit dem befremdlichen Satz aus dem Matthäus-Evangelium: „Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth.“ Derselbe Satz steht auf dem Grabstein von Ewald Rau, dem Vater von Johannes Rau.

Ursprünglich ein Satz der Denunziation, wird er von jener Magd gesprochen, die Petrus im Hof des Hohenpriesters entdeckt und mit dem Finger auf ihn zeigt: „Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth.“ Was darauf folgt, wissen wir alle: Petrus leugnet. Eine dreifache Verleugnung, bis der Hahn kräht. Die Hähne auf unseren Kirchtürmen erinnern daran.

Johannes Rau hat als Kind noch erlebt, wie Christen denunziert wurden. Er kannte die Gefährlichkeit des Bekenntnisses zu Jesus. Deshalb hat es ihn auch nicht irritiert, wegen der Eindeutigkeit seines Bekenntnisses als „Bruder Johannes“ bezeichnet und gelegentlich auch belächelt zu werden. Im Gegenteil: Jeder sollte wissen, woher er Zuversicht und Kraft schöpfte. Aus dieser Kraft heraus respektierte er jeden, der in seinem Leben auf andere Weise Halt und Orientierung fand. So sagte er es in seiner Antrittsrede als Bundespräsident; und so bestätigte er es in seiner letzten Bibelarbeit in Hannover: „Ich selber schöpfe Zuversicht und Kraft aus dem christlichen Glauben, der mir Trost und Hoffnung ist im Leben und im Sterben. Gleichzeitig habe ich Respekt vor allen, die ihr Leben auf andere Fundamente gründen.“ Sein Leben predigt uns die Kraft des Glaubens. Es lehrt uns zugleich, was Toleranz aus Glaubensfestigkeit bewirken kann. Und das ist nicht die schlechteste Art von Toleranz. Mehr noch: Toleranz aus Überzeugung ist die einzige Form von Toleranz, die auf Dauer trägt.

So bewährte sich in seinem Leben das Wort des Psalmisten in seinem ersten Teil: „Lass meinen Gang in deinem Wort fest sein.“ Die Orientierung an diesem Wort wollte er weitergeben. Dass dieses Wort uns dabei hilft, die Menschen zu lieben, hat er vorgelebt. Dass Politik „angewandte Nächstenliebe“ ist, war für ihn keine leere Formel. Wenn er „versöhnen statt spalten“ wollte, so lag der Grund dafür in der Liebe zu den Menschen und nicht etwa in einer einfältigen Sicht der Dinge, der nicht bewusst wäre, dass Politik immer auch ein Kampf um Macht ist. Doch diese Macht ist kein Selbstzweck. Darum ging es ihm. Deshalb war er als Christ Politiker und als Politiker Christ. Der Wahlspruch der Bekennenden Kirche wurde zu seinem eigenen: „Ich halte stand, weil ich gehalten werde.“

Dass diese Bindung nicht in eine religiöse Enge, sondern in die Weite führt, darauf weist der zweite Teil des Losungswortes vom 27. Januar, Johannes Raus Todestag: „Lass kein Unrecht über mich herrschen!“

Das Recht soll also über uns herrschen; es macht uns zu Anwälten der Gerechtigkeit. Unvergesslich wird vielen die knappe Ansprache bleiben, die Johannes Rau unmittelbar nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten hielt. In ihr machte er deutlich, dass nach der Verfassungsordnung, in der wir in Deutschland leben, die Würde des Menschen unantastbar ist und nicht nur die Würde der Deutschen. In der für ihn schwersten Stunde seines politischen Lebens, nach dem Amoklauf in Erfurt, zeigte er, wie ernst er das nahm: „Was immer ein Mensch tut, sagte er damals in Erfurt, er bleibt doch ein Mensch.“ Der Blick für die Menschen unterschiedlichster Herkunft, das offene Herz für jede und jeden einzelnen sowie die unerschöpfliche Erinnerungsfähigkeit an persönliche Schicksale und Begegnungen haben hier ihre Wurzel. Genau hinschauend und den Menschen zugewandt traf er den Ton, der die Menschen erreichte, und bewegte ihr Schicksal. Was ihm wichtig war, nahm er in die Hand – mit unendlicher Beharrlichkeit. Immer hielt er fest an der Verbesserlichkeit der Welt. Zugleich half ihm die Heiterkeit des Glaubens, mit ihrer Unzulänglichkeit zurechtzukommen.

Johannes Rau ist tot. Er wusste um den einzigen Trost im Leben und im Sterben. Aber er wusste auch, dass das Wissen eines ist und die Erfahrung ein anderes. „Hoffentlich gelingt das Vertrauen auf den Einen. Man weiß es bis zur letzten Stunde nicht,“ bekannte er ein halbes Jahr vor seinem Tod. Dabei schöpfte er zugleich Mut aus einem Satz seines väterlichen Freundes Gustav Heinemann: „Wenn die Welt euch drohen will, lasst euch nicht schrecken: eure Herren gehen, unser Herr aber kommt.“ Ihm darf er nun entgegengehen.

Von Johannes Rau nehmen wir Abschied, unmittelbar nachdem wir Dietrich Bonhoeffers gedacht haben, der vor einhundert Jahren geboren wurde. Eine Biographie Dietrich Bonhoeffers war seine letzte Lektüre. Von „guten Mächten“ war er geborgen, als er starb. Zu diesen guten Mächten, die Gott ihm zur Seite stellte, gehörten seine Nächsten, seine Frau und seine Kinder. Zu ihnen gehörten alle, die ihm beistanden. Solche guten Mächte sind die Worte des Glaubens, die uns begleiten, Worte der Bibel und des Gesangbuchs. Eine solche gute Macht ist Jesus Christus, das eine Wort Gottes. Johannes Rau war auch mit dem Jesus von Nazareth, dem Wort Gottes, der guten Macht, in der wir ihn geborgen wissen. In dieser Geborgenheit ist Johannes Rau gestorben; am Ende war es ein sanfter Tod. Und die guten Mächte helfen nun uns bei diesem Abschied. Öffnen wir uns für sie. Denn sie sind bei uns. Der, dem Johannes Rau nun entgegengeht, macht unser Herz weit für sie.

Amen.