Predigt über Johannes 14,6 im Festgottesdienst zum 100. Geburtstag der Hephata-Kirche im Hessischen Diakoniezentrum Hephata in Schwalmstadt-Treysa
Hermann Barth
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde!
Die meisten Menschen kehren im Laufe ihres Lebens gern und immer wieder zurück an ihren Geburtsort. Dahinter steht die Frage: Woher komme ich? Was hat mich geprägt? Was bestimmt von den Anfängen her mein Leben? Die Evangelische Kirche in Deutschland ist – im Bilde gesprochen – vor 61 Jahren hier in Hephata geboren; wenige Monate nach dem Ende des 2. Weltkriegs machten die evangelischen Landeskirchen damals einen neuen Anfang, sich zusammenzuschließen. Nicht zuletzt aus diesem Grund bin ich als Repräsentant der EKD heute gern – und zu meiner Schande muß ich gestehen: zum ersten Mal – nach Hephata gekommen.
Ich will auch eine Antwort versuchen auf die Frage: Was ist es denn, das von ihren Anfängen in Hephata her den Weg der EKD bestimmt? Vorrangig ist es ohne Zweifel die Einsicht: Glaube und der Dienst am Nächsten bilden eine Einheit, im Leben jedes einzelnen Christen wie im Leben der Kirche. Diakonie gehört zum Kerngeschäft der Kirche. Bei jeder Umfrage zur öffentlichen Wahrnehmung der Kirchen merken wir das daran, daß es vor allem der diakonische Dienst an Menschen in Not ist, der zu einem positiven Bild der Kirchen beiträgt. Ich benutze darum die Gelegenheit, stellvertretend für die Hunderttausende hauptamtlicher und ehrenamtlicher Mitarbeiter in diakonischen Einrichtungen Ihnen, den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in Hephata, Dank zu sagen. Ich nenne noch einen zweiten Impuls: Vor 61 Jahren gab es kein deutliches Bewusstsein von den dunklen Kapiteln in der Geschichte der Diakonie. Heute wissen wir: Auch Hephata war beteiligt an der Wegbereitung und Durchführung der NS-Politik zur, wie es seinerzeit hieß, „Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Auch Hephata hat nicht mit aller Macht Widerstand geleistet, als Hunderte von Bewohnern in staatliche Einrichtungen verlegt wurden und damit der Ermordung ausgeliefert waren. Wir haben in der EKD das Vermächtnis und den Auftrag, wachsam zu sein: wachsam gegenüber allen Tendenzen, die Würde kranker und behinderter Menschen in Frage zu stellen. Es gibt nicht Menschen mit mehr und mit weniger Schutzanspruch. Die Menschenwürde ist unteilbar. Jeder Mensch, ob stark oder schwach, ob Leistungsträger oder hilfsbedürftig, ob gesund oder krank, ob vor der Geburt oder nach der Geburt, ist ein Kind Gottes.
Als biblisches Wort für die Predigt habe ich einen Vers aus dem Johannesevangelium ausgewählt:
„Jesus Christus spricht: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (14,6).
Eben diesen Vers hat im Jahr 1906 Kaiserin Auguste Victoria als Widmung in die Bibel hineingeschrieben, die sie zur Einweihung der Hephata-Kirche überreichte. Eine Widmung ist mehr als eine Zueignung an den Empfänger. Sie hat immer auch den Charakter einer inhaltlichen Bestimmung. Diese Kirche - und das, was in ihr geschieht - soll von ihren Anfängen her dazu helfen, dass Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit finden und in das Bekenntnis einstimmen: Jesus Christus ist der Weg und die Wahrheit und das Leben. Der Gott, an den wir Christen glauben, ist nicht irgendein beliebiges göttliches Wesen, er trägt die Züge Jesu.
Der Name „Hephata“ stammt bekanntlich aus der Geschichte, wie Jesus einen Taubstummen heilte, und heißt übersetzt: „Tu dich auf“. Man hat diesen Namen zu Recht mit der konkreten Arbeit verbunden, die hier in Hephata geschieht. Der Vers aus dem Johannesevangelium gibt dem Wort „Hephata“ aber noch einen weiteren Sinn. Denn er zielt ja darauf, dass Menschen sich auftun oder aufgetan werden für Jesus. Wir alle sind mitverantwortlich dafür und können hilfreich dabei sein, dass dies gelingt: dass Missverständnisse und Vorurteile gegenüber dem christlichen Glauben beseitigt und die Schönheit und der Trost eines Lebens mit Gott überzeugend und einladend spürbar werden. Es ist schon viel darüber geschrieben und gesagt worden, dass wir uns in Deutschland und weithin in Europa in einer missionarischen Situation befinden. Jeder und jede von uns ist an dieser missionarischen Aufgabe beteiligt. Die Zeiten sind – Gott sei Dank – vorbei, in denen Mission mit dem Schwert oder doch mit mehr oder minder sanftem Druck geschah. Wir haben heute im wesentlichen nur zwei Mittel, Menschen für den Glauben an Jesus Christus zu gewinnen: indem wir ihn attraktiv und verlockend machen, so dass Menschen von selbst merken, was ihnen ohne die Beziehung zu Gott fehlt, und zweitens indem wir Menschen direkt ansprechen und sie bitten, unseren Weg kennen zu lernen und mitzugehen. Aber wie weit sind wir bei dem Bemühen gekommen, als einzelne wie als Gemeinde für andere interessant und anziehend zu sein? Und wann haben wir zuletzt einen Menschen aus unsrer Umgebung – einen Mitschüler, einen Arbeitskollegen, eine Urlaubsbekanntschaft – angesprochen und ihn eingeladen, es mit Gott und der Kirche zu versuchen?
Der Vers aus dem Johannesevangelium stellt uns aber noch in anderer Weise auf den Prüfstand. In ihm steckt die Frage: Was gilt in der Kirche? Woran orientiert sie sich? Worauf vertraut sie? Diese Frage kann uns mit harten Alternativen konfrontieren. Man nimmt das noch deutlicher wahr, wenn man den Vers so übersetzt: „Jesus Christus spricht: Der Weg und die Wahrheit und das Leben – das bin ich und niemand und nichts sonst.“
Im Rückblick ist es immer leichter, zu erkennen, wo Menschen und ganze Völker, auch Christen und Kirchen, in die Irre gegangen sind. Das muss aufgedeckt und benannt werden – so, wie hier in Hephata, wenn auch spät, die Infizierung durch den nationalsozialistischen Kult des Starken und Gesunden aufgearbeitet wurde. Doch der Rückblick muss frei bleiben von Hochmut und Besserwisserei. Denn die Hand, mit deren Zeigefinger wir anklagend auf andere zielen, weist mit drei Fingern auf uns selbst zurück. Auch wir, die Christen und Kirchen von heute, müssen uns die Frage stellen oder stellen lassen, ob wir den Weg und die Wahrheit und das Leben allein in Jesus Christus und nichts und niemandem sonst suchen und finden. Die Ökonomisierung unserer Lebensverhältnisse schreitet voran. An vorderster Stelle steht immer mehr das Kriterium: Was bringt das wirtschaftlich? Die Frage, was um der Menschen oder gar um Gottes willen nötig ist, tritt demgegenüber zurück. Man kann das sehen am Umgang mit dem arbeitsfreien Sonntag oder der Stammzellforschung. Leisten wir als Kirchen entschieden genug Widerstand? Ein zweites Beispiel betrifft eine ganz andere Frage: Der Dialog zwischen den Religionen ist bitter notwendig. Aber sind wir gut beraten, dem Dialog auch gemeinsame Gebete und religiöse Feiern an die Seite zu stellen? Wir erwecken damit doch den Eindruck, es sei letztlich dasselbe, also egal, ob wir zu Jesus Christus oder etwa zu Allah beten. Die Verständigung zwischen den Religionen wird gerade nicht gefördert, wenn wir uns an den Unterschieden und dem – zivilisierten – Streit um die Wahrheit vorbeimogeln.
Im Predigttext stellt sich Jesus Christus uns vor als Weg, Wahrheit und Leben. In den Ich-bin-Worten des Johannesevangeliums wird in unterschiedlichen Bildern und Begriffen beschrieben, was uns der Glaube an Jesus Christus schenkt, was er uns, wie wir heute gern sagen, „bringt“. Jeder der drei Begriffe des Predigttextes wäre es wert, näher betrachtet zu werden. Ich konzentriere mich auf das Bild vom Weg.
Im August war ich während meines Urlaubs unterwegs in Schottland: erst mit dem Auto, dann auch viel zu Fuß. Wer in diesem ganz alltäglichen Sinn auf dem Weg ist, muss mit vielem rechnen: Manchmal wird man unsicher, ob man noch auf dem richtigen Weg ist. Man beginnt dann sogar, an sich selbst und seiner Orientierungsfähigkeit zu zweifeln. Es gibt Wegabschnitte, die sind leicht und bequem; es gibt andere, da wird es so steil und unwegsam, dass man aus der Puste gerät. Entspricht das nicht den Erfahrungen, die wir damit machen, mit Jesus Christus auf dem Weg zu sein? Lange Zeit geht alles gut und glatt, und urplötzlich kommen Holperstrecken, die einen fast ins Stolpern und Fallen bringen. Wir sind keine Glaubensheroen und brauchen auch nicht zu tun, als ob sie es wären. Die Orientierung verlieren, ja in tiefe Zweifel stürzen – das gehört zum Glaubensleben unentrinnbar dazu.
Normalerweise gilt: Wer auf dem Weg ist, der ist noch nicht am Ziel. Aber wenn wir mit Jesus unterwegs sind, ist das anders. Denn wer sich auf Jesus einlässt und sich mit ihm auf den Weg macht, dem wird im Glauben jetzt schon alle Zuversicht und aller Trost zuteil, die uns die Gegenwart Jesu Christi überhaupt je schenken kann. Und seine Gegenwart geht uns niemals verloren – hat er doch am Ende seinen Jüngern verheißen: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Wenn das kein Grund zum Loben und Danken ist! „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“.
Amen.