Grünbuch Energie der EU-Kommission
Stellungnahme zum Grünbuch: "Eine europäische Strategie für nachhaltige, wettbewerbsfähige und sichere Energie"
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Mit dem Grünbuch Energie vom 8. März 2006 hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften eine wichtige Grundlage der Diskussion um die zukünftige Ausgestaltung der Energiepolitik in der EU vorgelegt. In der folgenden Stellungnahme soll nur auf einige wenige Aspekte dieses Grünbuchs eingegangen werden, die der Evangelischen Kirche in Deutschland besonders wichtig erscheinen, vor allem auch auf dem Hintergrund ihrer eigenen Äußerungen zur Energie- und Umweltpolitik in den letzten Jahren. Die Stellungnahme erhebt nicht den Anspruch einer vollständigen Kommentierung des Grünbuchs.
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(2) Im Grünbuch wird empfohlen, die europäische Energiepolitik an drei Hauptzielen auszurichten: Nachhaltigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit. In den entsprechenden Ausführungen des Grünbuchs wird jedoch versäumt, die Notwendigkeit der Substitution nicht erneuerbarer durch erneuerbare Energien eindeutig als das Ziel herauszustellen, das im Vergleich zu den anderen Zielen höchste Priorität haben muss, da andernfalls die Lasten der Umstellung in ersten Linie den zukünftigen Generationen aufgebürdet werden. Auch das Ziel des Wirtschaftswachstums muss dem Ziel eines nachhaltigen Energieversorgungssystems untergeordnet werden, wenn die europäische Wirtschaft in langfristiger Perspektive zukunftsfähig sein soll.
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Die Frage der Nutzung der Atomenergie wird im Grünbuch nur am Rande angesprochen – allerdings vor allen in Verbindung mit der Frage des Klimaschutzes. Derzeit sehen nur acht von 25 Mitgliedsstaaten der EU eine Zukunft für die Nutzung der Atomenergie. Das Grünbuch erweckt allerdings den Eindruck, als werde hier eine Neubewertung der Atomenergie vorbereitet.
Eine langfristige Nutzung der Kernenergie in großem Umfang setzt nach wie vor den Einstieg in die Plutoniumwirtschaft voraus. Heute besteht im Grunde Konsens, dass dies keine Option ist. Denn Uran zu heutigen Preisen ist eine nicht erneuerbare und – vor allem, wenn die friedliche Nutzung der Kernenergie massiv ausgeweitet würde – ebenfalls sehr knappe Ressource; ihre Nutzung trägt ohne Plutoniumwirtschaft bereits mittelfristig nicht zur Erhöhung der Versorgungssicherheit bei. Werden der gegenwärtige Verbrauch und die heutigen Gewinnungskosten zugrunde gelegt, reichen die weltweiten Uranreserven nur etwa 40 Jahre. Mit unverhältnismäßig höheren Kosten könnte Uran zwar aus Meerwasser, zu noch höheren Kosten aus Gneisgestein gewonnen werden. Diese Kosten stehen aber in keiner Relation zu denen einer weltweiten Brütertechnologie. Deshalb wäre ein Weltenergiesystem, das sich in großem Maßstab auf Kernenergie stützt, auf den Übergang zur Plutoniumwirtschaft angewiesen. Es wäre darauf angewiesen, in Brutreaktoren und Wiederaufarbeitungsanlagen Plutonium als neuen "Brennstoff" zu produzieren.
- In Entwicklungs- und in Schwellenländern wird der Energiebedarf in den nächsten Jahren drastisch ansteigen. Aber auch auf diesem Hintergrund wird die Kernenergie keine Option für eine nachhaltige und zukunftsfähige Energieversorgung sein. Wollte man den zu erwartenden und zu wünschenden Zuwachs des Stromverbrauchs in Ländern der Dritten Welt durch Kernenergie decken, zum Beispiel um Treibhausgasemissionen zu begrenzen, müsste die Zahl der Reaktoren global sprunghaft wachsen. Dazu einige grobe Abschätzungen: Weltweit stammen etwa 16 Prozent der Stromerzeugung aus Kernkraftwerken, 65 Prozent aus fossilen Energieträgern. Um diese vollständig zu ersetzen, müsste die Zahl der Reaktoren von derzeit 443 auf etwa 1770 erhöht werden. Dies hätte fast ausschließlich in Industriestaaten und Schwellenländern zu erfolgen – und damit wären dann gerade 10 Prozent der Treibhausgasemissionen vermieden.
Kernenergie deckt derzeit ca. 2,5 Prozent des globalen Primärenergieverbrauchs. Um wenigstens 25 Prozent der Treibhausgasemissionen aus fossilen Quellen zu ersetzen, müsste die Zahl der Reaktoren auf über 4.000 fast verzehnfacht werden. Dazu müssten aber Wege gefunden werden, Kernenergie auf akzeptable Weise in Endenergieformen für den Verkehr und das Heizen von Häusern umzuformen.
Um die Versorgung mit elektrischem Strom in den Ländern des Südens, inklusive China, derjenigen im Norden anzugleichen, müsste die Zahl der Kernkraftwerke dort von derzeit etwa 50 Gigawatt (GW) installierter Leistung auf weit über 50.000 GW steigen. Die Zahl der Reaktoren wäre also um einen Faktor 1000 – Reaktoren mit 1 GW Leistung zurunde gelegt – zu steigern. Diese Abschätzung beruht auf den Annahmen, dass der Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung den europäischen Durchschnitt erreicht, und dass die Elektrifizierung, gemessen am Stromverbrauch pro Kopf, sich ebenfalls dem heutigen europäischen Standard annähert.
Diese Abschätzungen zeigen, dass es auch auf europäischer Ebene sinnvoll wäre, eine integrierte Energiepolitik mit einem Plan zum Ausstieg aus der Nutzung der Atomenergie zu entwickeln und umzusetzen. Nach wie vor ist die Endlagerproblematik nicht gelöst; nach wie vor birgt die Atomenergie ein extrem hohes Schadenspotential, das nicht durch niedrige Eintrittswahrscheinlichkeiten heruntergerechnet werden kann.
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Im Grünbuch finden sich an mehreren Stellen Hinweise darauf, dass die Kommission der Europäischen Gemeinschaften Forschung und Innovation im Energiebereich einen sehr hohen Stellenwert einräumt. Dies ist im Prinzip auch sehr zu begrüßen. Im Grünbuch wird hingegen nicht deutlich, dass im 7. Forschungsrahmenprogramm der EU der finanzielle Förderanteil für nukleare Energieforschung fast doppelt so hoch ist wie der Anteil für nichtnukleare Energieforschung. Aus der Perspektive der Förderung eines nachhaltigen Energieversorgungssystems sollte diese Relation drastisch zugunsten der nichtnuklearen Energieforschung – und hier insbesondere zugunsten der Forschung an erneuerbaren Energien – verändert werden.
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Die Festlegung von neuen Leitlinien für eine europäische Energiepolitik bietet die Chance, den Kriterien der nachhaltigen Entwicklung einen höheren Stellenwert einzuräumen als dies in der europäischen Politik bislang der Fall war. Dies ist in dem vorliegenden Grünbuch zum Teil geschehen, an zentralen Weichenstellungen der Ausrichtung der zukünftigen Politik Europas allerdings noch nicht.
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Das Ziel eines fortgesetzten Wirtschaftswachstums wird im Grünbuch nicht hinterfragt, auch nicht für die Länder in der EU, die bereits ein sehr hohes Bruttonationaleinkommen pro Kopf erreicht haben. Eine Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wachstum – das zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre – ist mit zunehmendem Produktionsniveau schwierig und nicht beliebig weit zu verwirklichen. Ein Konzept für eine langfristig nachhaltige Energieversorgung muss das Problem der intergenerationellen Gerechtigkeit mit ansprechen.
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Die uneingeschränkte Forderung nach Wettbewerbsfähigkeit könnte zu einem Abbau dezentraler Strukturen führen, der nach den Regeln des Marktes kurzfristig zwar profitabel sein kann, langfristig aber zu hohen externen Kosten führen könnte, da das Energieversorgungssystem von wenigen großen bis marktbeherrschenden Akteuren abhängig werden könnte.
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Das Grünbuch spricht den Zugang zu Energie als zentrales und vorrangiges Anliegen von Entwicklungsländern zwar an, bleibt aber sehr vage, welche finanziellen Mittel die EU bereitstellen will, um deren Lage diesbezüglich zu verbessern. Es wird nicht angesprochen, dass diese Länder besonders unter dem hohen Energiebedarf der Industrieländer leiden, deren Nachfrage und deren Kaufkraft die Weltmarktpreise bestimmen. Ein Konzept für eine langfristig nachhaltige Energieversorgung muss daher auch das Problem der intragenerationellen Gerechtigkeit thematisieren.
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