„Europa als Wegweiser für den globalen Frieden ? – Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Licht christlicher Friedensethik“ - Ansprache beim ökumenischen Empfang in Brüssel
Nikolaus Schneider
Der Augenblick, in dem in der Bibel zum ersten Mal ausdrücklich der Kontinent Europa in den Blick kommt, ist die Missionsreise des Apostels Paulus nach Mazedonien, im heutigen Griechenland. Davon erzählt die Apostelgeschichte des Lukas:
Apostelgeschichte nach Lukas, Kapitel 16
"9 Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: Ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! 10 Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen. 11 Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis 12 und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Mazedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. 13 Am Sabbattag gingen wir hinaus vor die Stadt an den Fluss, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen. 14 Und eine gottesfürchtige Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, sodass sie darauf Acht hatte, was von Paulus geredet wurde. 15 Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns."
So weit die biblische Erzählung. Was können wir ihr entnehmen - im Blick auf die Bedeutung des Kontinents Europa? Im Folgenden werde ich in drei Schritten argumentieren: Zunächst werde ich von meiner biblisch-theologischen Grundlage aus einige Facetten des Kontinents Europa beleuchten (I). Sodann skizziere ich, wie ich mir Europa als lokales Friedensprojekt und als globale Friedensperspektive vorstelle (II). Dies wird zum Begriff des globalen Friedens, der Pax Globala, hinführen, deren Prinzipien ich in Aufnahme eines neueren kirchlichen Textes darlegen möchte (III).
I. Facetten des Kontinents Europa - aus der Perspektive eines Bibeltexts
Fraglos war es nicht die Absicht des Lukas, das Thema Europa als solches zu behandeln oder gar den europäischen Kontinent in seiner Wesensart zu kennzeichnen. Der Verfasser wollte vielmehr mit seinen Berichten, die uns als Evangelium des Lukas und als Apostelgeschichte überliefert sind, seinem Bekannten Theophilus und weiteren Christen und Christinnen seiner Zeit den sicheren Grund der Lehre mitteilen, in der diese unterrichtet worden waren (Lukas 1, 4). Dabei stellt er sich in eine Erzähl- und Berichtstradition hinein, die schon vor ihm existierte, die er aber ausbauen und durch seine Nachforschungen befestigen wollte. "Wie ist das Christentum in diese Welt gekommen?" ist seine Grundfrage. Und dabei schildert er natürlich auch plastisch und anschaulich die Welt, in der sich das junge Christentum vorfindet. Geographisch gesehen besteht diese Welt aus dem Mittelmeerraum mit seinen drei angrenzenden Kontinenten: Asien, Afrika und Europa. Der Schluss der Apostelgeschichte erzählt vom Aufenthalt des Paulus in Rom, dem Zentrum der damaligen antiken Welt und dem Herzen Europas. Aber vorher schon, von der Begegnung des Paulus mit Lydia an, wird unser Kontinent in einer ganz bestimmten Weise in den Blick genommen und durch einige Merkmale gekennzeichnet. Ich beleuchte hier fünf dieser Merkmale oder Kennzeichen.
Erstens: Einander beistehen: Hilfsbedürftigkeit und -bereitschaft
Am Anfang steht ein Traumbild. Lukas berichtet von einer "Erscheinung", die Paulus des Nachts gehabt habe: Ein ungenannter Mann aus Mazedonien ruft laut und vernehmlich um Hilfe. Offensichtlich ist jemand in großer Bedrängnis. Solidarität ist gefragt, konkrete Unterstützung erforderlich. Der Apostel folgt dem Ruf des Traumes, den er als Ruf Gottes versteht. Warum ist Hilfe nötig, welche Art von Hilfe ist erbeten? Geht es um eine soziale Not? Der Hilferuf im Traumbild klingt sehr unbestimmt. Paulus will den Menschen in Mazedonien helfen, indem er ihnen das Evangelium nahe bringt.
Für Paulus wie für Lukas ist klar: Nachbarn müssen einander helfen, auch wenn Kontinente oder Kulturen sie voneinander trennen. Politisch-aktuell lässt sich dies in die Aussage transformieren: Europa steht vor Herausforderungen sozialer Bedürftigkeit und muss nach innen und außen bereit sein, Hilfe zu leisten. Es muss auch bereit sein, Hilfe anzunehmen, denn in der globalisierten Welt hängen Länder, Völker und Kontinente wechselseitig voneinander ab.
Zweitens: Einander besuchen: Mobilität und Grenzüberschreitung
Innerhalb Griechenlands reist Paulus über Samothrake und Neapolis nach Philippi, in diejenige Stadt Mazedoniens, in der die folgenden Ereignisse spielen. Im Neuen Testament wird später ein wichtiger Brief des Apostels der Gemeinde in Philippi gewidmet sein. Wer den Glauben ausbreiten will, der muss - damals wie heute - häufig bereit sein, zu reisen. Früher tat man dies zu Fuß oder per Schiff. Heute wird man in vielen Fällen den Zug oder das Flugzeug wählen. Mobilität erschließt Kontinente und die Welt. Auch in den Zeiten der Globalisierung kann man nicht ausschließlich über elektronische Medien wie E-Mail und Internet kommunizieren, sondern muss auf personale Begegnungen setzen. Menschen müssen geographische Grenzen überschreiten, um einander von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen. Nur so entsteht Vertrautheit, nur so lernt man Menschen anderer Länder oder gar eines anderen Kontinents wirklich kennen. Als gegenwärtige Herausforderung kann man vor diesem Hintergrund wohl festhalten: Europa ist ein offener Kontinent, es muss unter anderem Begegnungen fördern, aber auch Migration steuern und Integration praktizieren können.
Drittens: Gemeinsam den Frieden sichern: Pax Romana und der Friede Christi
Philippi wird im Text als "römische Kolonie" bezeichnet. Zur Zeit des Neuen Testaments gab es viele dieser Kolonien im gesamten Mittelmeerraum. Der Friede wurde in diesem Raum durch die Vorherrschaft der römischen Armeen gesichert, die in Spanien, Gallien, Großbritannien, Germanien, Italien, Griechenland ebenso standen wie in Ägypten, Syrien, Palästina und anderen Ländern Afrikas und Asiens. Ein nachhaltiger Friede beruhte nach Auffassung der römischen Kaiser (wie heute etwa der US-amerikanischen Administration) im Wesentlichen auf der Präsenz ihrer Soldaten. Wenn Christen und Christinnen bekennen "Christus ist unser Friede", dann machen sie damit eine Aussage, die ein völlig anderes Verständnis von Frieden voraussetzt. Sie sind nicht der Auffassung, dass Friede in erster Linie durch imperiale Waffengewalt, also durch die Androhung und ggf. auch Ausübung von militärischen Zwangsmitteln zu Stande kommt. Sie meinen vielmehr, dass Friede auf Liebe, Gnade, Vergebung und Versöhnung beruht. Und es ist eine wesentliche Implikation der christlichen Glaubensbotschaft, für diese andere, neue Art des Friedens zu werben und sich für sein Zustandekommen einzusetzen. In späteren Bekenntnistexten, z.B. der Theologischen Erklärung von Barmen, wurde diese Problematik wie folgt auf den Begriff gebracht: ‚Aufgabe des Staates ist es, unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.‘ Damit wird festgehalten, dass das Gewaltmonopol beim Staat liegen muss und dass unter den Bedingungen der ‚unerlösten Welt‘ der Staat auf Instrumente der Gewaltausübung nicht verzichten kann. Gleichzeitig wird betont, dass Gewaltausübung der Legitimation bedarf, indem sie an die Ziele ‚Recht und Frieden‘, und eben nicht ‚Ruhe und Ordnung‘ gebunden wird.
Aufgabe der Kirche ist es, den Staat dadurch zu unterstützen, dass sie ihn ‚an Gottes Reich und Gerechtigkeit erinnert‘, also an die Vorläufigkeit seines Handelns. Ferner hilft sie auf diese Weise, die Begriffe Recht und Frieden inhaltlich aus dem reichen Schatz der biblischen Schriften heraus zu füllen.
Politisch folgt aus dem allen: Dem Kontinent Europa ist die Aufgabe einer international wahrzunehmenden und nach ethischen Gesichtspunkten zu gestaltenden Friedenssicherung aufgetragen.
Viertens: Anderen das Herz öffnen: Offenheit für den Glauben
Paulus trifft in Philippi die für Glaubensfragen sehr aufgeschlossene Lydia. Als Purpurhändlerin ist sie eine angesehene und wohlhabende Person. Denn Purpur war ein edler Stoff, der für Priester, Fürsten und Könige aus dem Saft der Purpurschnecke hergestellt wurde. Gott öffnete Lydia, so erzählt Lukas, das Herz, so dass die Predigt des Apostels sie faszinierte. Sie ließ sich taufen und widmete ihr Leben dem Glauben an Christus. Es ist bezeichnend, dass an dieser Stelle der Erzählung vom Glauben die Rede ist. Denn der Kern des christlichen Lebens besteht im Vertrauen des Menschen auf Gottes lebendige Gegenwart in der Zeit, dem Zuspruch seiner Liebe und Vergebung und Gottes Anspruch darauf, bestimmend für alle Lebensvollzüge des Menschen zu sein . Christentum kann deshalb nicht auf kultischen oder moralischen Werken beruhen, es ist nicht an die Erfüllung des Gesetzes geknüpft. Der Glaube ist wesentlich, um Christsein zu bestimmen. Deshalb sagt Lydia: "Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus." Und wenige Zeilen später wird Paulus zu einem Gefängnisaufseher sagen: "Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!". Auch in Europa wird das Christentum eine Religion, die sich wesentlich über die Glaubensbeziehung der Menschen definiert. Seit damals ist Europa neben jüdischen, islamischen und Einflüssen römischen Rechts von der christlichen Religion geprägt und wird dieser auch in Zukunft verpflichtet sein. Das schließt nicht aus, sondern ein, dass auch andere Religionen bei uns Heimat haben können und sollen. Dies ist der Grund, warum auch aus christlicher Sicht Religionsfreiheit und die Trennung von Staat und Kirche bzw. Religion ein Fundament Europas ist.
Fünftens: Sich überall wie zu Hause fühlen: Gastfreundschaft
Lydia will Paulus und seine Begleiter bei sich im Hause beherbergen. Wörtlich heißt es im Text: "'So kommt in mein Haus und bleibt da.' Und sie nötigte uns." Man mag darin eine besonders aufdringliche Form von Gastfreundschaft erblicken. Sie bittet Menschen in ihr Haus und lässt sie nicht mehr so ohne Weiteres gehen. Auch wenn es keine Belästigung sein muss, kann es lästig fallen. Was aber daran unverzichtbar ist, das ist die Tatsache der Gastfreundschaft als solche. Wenn Menschen über Länder- und Kulturgrenzen, vielleicht auch über die Grenzen der Kontinente hinweg, einander kennen lernen wollen, dann ist es unumgänglich, dass sie sich besuchen und gegenseitig beherbergen. Die Türen der einen müssen offen stehen, die Bereitschaft der anderen, in diese Türen einzutreten, muss vorhanden sein. In aktueller Anwendung könnte man somit sagen: Europa muss ein gastfreundlicher Kontinent sein.
Ich nenne noch einmal die fünf Merkmale, die nach Maßgabe des Bibeltextes dem Kontinent Europa zugeordnet werden: Gastfreundschaft, Offenheit für Glauben und Religion, Friedensfähigkeit, Mobilität und Integrationsfähigkeit und Hilfsbereitschaft. Die Verbindung dieser fünf Eigenschaften mit Europa hat zwar einen assoziativen Charakter. Sie mag zufällig und beliebig wirken. Und doch ist Lukas in seiner Erzählung so etwas wie ein Kurzporträt unseres Kontinents gelungen, das auch heute noch eine gewisse Berechtigung hat. Das gilt nicht zuletzt hinsichtlich der gegenseitigen Verflochtenheit dieser fünf Aspekte, die in der modernen Friedensforschung teilweise ihre Entsprechung im Modell des sog. "zivilisatorischen Hexagons" (Dieter Senghaas) findet.
II. Europa als lokales Friedensprojekt und globale Friedensperspektive
Wenn ich im Folgenden auf die Friedensfrage fokussiere, so hat dies seinen Grund darin, dass die Europäische Union (EU) die Aufgabe hat, zur Wahrung, Förderung und Erneuerung des Friedens beizutragen. Die Idee der Einheit Europas ist die Vision seiner dauerhaften Befriedung in Freiheit. Auch der Entwurf des Verfassungsvertrages (Artikel I-3) nennt als erstes Ziel die Förderung des Friedens. Europa ist ein Friedensprojekt, eine Friedensmacht und eine Friedensperspektive für die Welt. Was auch immer Europa sonst noch sein mag: eine Wirtschaftsmacht, ein Kulturraum usw., das ist alles nachgeordnet gegenüber seiner Bedeutung für den Frieden. Dies ist, wie Sie alle wissen, nur im Blick auf die letzten fünfzig Jahre nahezu selbstverständlich. Wer sich die Historie auch nur oberflächlich betrachtet, weiß sehr rasch, dass Europa in den vergangenen dreitausend Jahren alles andere als ein friedlicher Kontinent war. Ich erinnere an Alexander, Hannibal und Cäsar, an die Völkerwanderung und die Kreuzzüge, an den Dreißigjährigen, den Siebenjährigen und den Hundertjährigen Krieg. Von Troja bis zum Kosovokrieg bestimmen und prägen blutige Konflikte, Kriege und Menschenrechtsverletzungen das Bild der Vergangenheit. Allein die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts haben Millionen Menschen das Leben gekostet und tiefe Wunden in viele Familien und in alle Kulturen gerissen. Der Erste Weltkrieg forderte 20 Millionen, der Zweite Weltkrieg sogar 60 Millionen Todesopfer. Die meisten von ihnen waren Europäer. Unzählige Menschen habe ihre Heimat verloren. Dazu kommen die Diktaturen des 20. Jahrhunderts, die uns, mit den Namen Hitler und Stalin verbunden, immer noch bedrückend vor Augen stehen. Erst 1989 brach die kommunistische Welt zusammen. Eine neue Perspektive für eine globalisierte, demokratische Welt eröffnete sich. Die Vision von dem friedlichen Nebeneinander und Miteinander der Völker und Kulturen könnte nunmehr für Europa und über den Kontinent hinaus Wirklichkeit werden. Die Kirchen begrüßen diese historische Entwicklung. Es kann und darf kein Zurück geben. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) wird den Prozess des friedlichen Zusammenwachsens des europäischen Kontinents auf jede ihr mögliche Weise fördern.
Die Fokussierung auf die Friedensthematik verbinde ich jedoch mit dem Hinweis auf die bereits angedeutete gegenseitige Verflochtenheit von in gleicher Weise ursprünglichen wie wesentlichen Aspekten: Denn es gibt ja nicht den Frieden an und für sich, also losgelöst von allen anderen Elementen. Sondern Frieden steht immer in einer konstitutiven Interdependenz mit der Einhaltung internationalen Rechts und mit der Schaffung von sozialer Gerechtigkeit. Ebenso sind Demokratie, Religionsfreiheit, die Fähigkeit zur Integration und die Wahrung der Menschenrechte für die Friedenssicherung von Bedeutung. Frieden nur als Abwesenheit von Krieg und als temporäre Freiheit von Waffengewalt zu verstehen, würde viel zu kurz greifen. Vielmehr ist der Friede ein dynamischer Prozess der Verhinderung und Zivilisierung von Gewalt durch Bindung an das Recht, der in einer mehrdimensionalen Konfiguration besteht, zu deren Eckpunkten die genannten Aspekte gehören. Also mindestens Recht, Gerechtigkeit, Demokratie und die Menschenrechte. Wie bringt man einen so komplexen Sachverhalt auf den Begriff? Die großen christlichen Kirchen schlagen seit einigen Jahrzehnten vor, die Rede vom "gerechten Frieden" als zentralen friedensethischen Leitbegriff zu verstehen. Mit ihm ist genau die aufgezeigte konstitutive prozessuale Interdependenz bezeichnet, so dass man auch etwas umständlich von einem Friedensprozess sprechen könnte, der von seinen Wurzeln her mit Recht und Gerechtigkeit verbunden ist. Die Kammer für Öffentliche Verantwortung, das älteste heute noch bestehende ständige Beratungsgremium der EKD, ist derzeit damit beschäftigt, die friedenspolitische Grammatik des Leitbegriffs vom gerechten Frieden auf den Punkt zu bringen. Anders gesagt, die Kammer arbeitet an einer neuen Friedensdenkschrift. Voraussichtlich 2007 oder 2008 wird diese Schrift erscheinen. Ohne der Kammer inhaltlich vorgreifen zu wollen, möchte ich in diesem Vortrag mit Bezugnahme auf den vorangestellten Bibeltext das Terrain abstecken, auf dem aus meiner Sicht vom Friedensthema im Hinblick auf die Zukunft Europas zu sprechen wäre.
Ich beginne mit dem Hinweis auf die Pax Romana. Sie war das grundlegende und seinerzeit zugleich alternativlose friedenspolitische Ordnungsmodell der Antike zur Zeit des Neuen Testaments. In der Gegenwart entspricht ihr sachlich wohl am ehesten das unilateral-hegemoniale Konzept der Pax Americana. Die konstruktive Idee hinter diesen beiden Konzepten ist, dass eine weltpolitische Supermacht aufgrund ihrer faktischen Konkurrenzlosigkeit durch überwältigende militärische, wirtschaftliche, wissenschaftliche und technologische Überlegenheit die Befriedung der Welt oder zumindest eines ganz bestimmten Teils dieser Welt garantiert. Recht wird dabei in den Dienst der Macht genommen, d.h. im Extrem nach Bedarf hingebeugt. Die friedenspolitische Alternative dazu ist in der Gegenwart eine multilaterale Weltordnung, die sich durch das Völkerrecht und seine Institutionen, vorrangig die Vereinten Nationen, aufbaut. Die EKD hat in allen friedensethischen Verlautbarungen der letzten Jahrzehnte eine klare Präferenz für eine multilaterale, auf dem Völkerrecht basierende Weltordnung zu erkennen gegeben. Dabei ist klar, dass eine solche als eine Rechtsordnung gedacht werden muss, in der Macht und Recht miteinander verbunden sind. Das Recht des Stärkeren muss dabei durch die Stärke des Rechts ersetzt werden, aber ein starkes Recht braucht auch Mittel und Wege zur Rechtsdurchsetzung. Eine internationale Ordnung, die im Notfall nicht auch auf militärische Instrumente zurückgreifen kann, wird nicht durchsetzungsfähig sein und deshalb keinen Bestand haben. In den Worten des früheren Außenministers Joschka Fischer: "Die militärischen Defizite Europas müssen daher, ganz unabhängig von dem amerikanischen Drängen, auch und gerade im eigenen europäischen Sicherheitsinteresse überwunden werden."
Europa muss in seinem Rahmen und auf seine Weise zu dieser durchsetzungsfähigen multilateralen Welt beitragen. Die Erweiterung der Europäisch Union am 1. 5. 2004 hat sie politisch, geographisch und wirtschaftlich grundlegend verändert. Sie vollzieht gegenwärtig einen Wandlungsprozess vom bisherigen Garanten für Frieden, Freiheit und Wohlstand im westlichen Teil Europas hin zu einem entscheidenden Stabilitätsfaktor für ganz Europa und in der künftigen globalen Ordnung des neuen Jahrhunderts. Es gibt eine selbstverständliche Bindung der Europäischen Union an die Vereinten Nationen, nicht zuletzt da alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch Mitglieder der Vereinten Nationen sind.
Im übrigen ist die durch den Amsterdamer Vertrag fortentwickelte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ja ausdrücklich festgelegt auf die in Art. 11 des EU-Vertrags genannten Ziele. Dazu gehört nicht nur (grundlegend) die Wahrung der gemeinsamen Werte "im Einklang mit den Grundätzen der Charta der Vereinten Nationen". Dazu gehört auch "die Wahrung des Friedens und die Stärkung der internationalen Sicherheit entsprechend den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen." Damit werden die in der UN-Charta enthaltenen Regelungen über Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens (Kap. VII) und die Kompetenzen des Sicherheitsrates ausdrücklich als verbindlich anerkannt."
Die Charta der Vereinten Nationen und ebenso die europäische Charta der Grundrechte - die zentraler Teil des EU-Verfassungsvertrages sein und mit Inkrafttreten des Verfassungsvertrages Rechtsverbindlichkeit erlangen soll –beruhen auf gleichen Prinzipien wie der Würde jedes Menschen, den Grund- oder Menschenrechten, der Gleichberechtigung von Mann und Frau usw., die eine große Affinität zu Grundsätzen der christlichen Ethik haben. Erstes Ziel der UN-Charta (Artikel 1) und auch des Verfassungsvertrages der EU (Artikel I-3) sind die Wahrung bzw. Förderung des Friedens.
"Frieden zu wahren, zu fördern und zu erneuern ist das Gebot, dem jede politische Verantwortung zu folgen hat. Diesem Friedensgebot sind alle politischen Aufgaben zugeordnet. In der Zielrichtung christlicher Ethik liegt nur der Frieden, nicht der Krieg", so formulierte dies in sehr ähnlicher Weise schon die Friedensdenkschrift der EKD von 1981. Man könnte von einem globalen Friedensauftrag der Charta der Nationen und einem entsprechenden Friedensauftrag der christlichen Kirchen sprechen und die ins Auge gefasste Ordnung als "Pax Globala" kennzeichnen. Sie wäre in ihrem Wesen multilateral und pluralistisch, sie würde durchgängig von Rechtsprinzipien und von dem Gedanken eines Primats der Politik vor dem Militärischen getragen. In ihrer konkreten Praxis wäre sie solidarisch, weil am Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit orientiert. Sie wäre zugleich subsidiär, weil sie regionalen Organisationen die Freiheit zugestehen würde, auf eigene Weise und mit eigenen Mitteln für Frieden und Sicherheit zu sorgen. Europäische Friedenspolitik wäre eine Komponente oder ein Baustein der Pax Globala, der Weltfriede Ziel und Konstruktionsprinzip der Ordnung Europas. So sieht dies im Kern auch Joschka Fischer: "Die EU hat nichts Geringeres als einen eigenen politischen Ordnungsmagneten geschaffen, der einen ganzen Kontinent auf der Grundlage eines realisierten 'Ewigen Friedens' zusammengeführt hat und zudem dabei ist, eine neue globale Macht auf der Grundlage von Demokratie, Recht und Freiheit zu schaffen."
III. Prinzipien der Pax Globala - Schritte zu einem gerechten Frieden
„Pax globala“ kann jedoch nur dann als von Europa ausgehender realer Frieden gedacht werden, wenn zu den Pfeilern der Politik und des Rechts soziale, zivilgesellschaftliche und kulturelle Komponenten hinzukommen. Deshalb sind die am Text der Apostelgeschichte aufweisbaren Merkmale Europas von Bedeutung. Vielleicht das Wichtigste vorweg: Wenn jemand uns ruft "Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!", dann müssen wir eben bereit sein, zu gehen und zu helfen. Sehr oft mag das Geforderte in sozialer Hilfe bestehen. Aber auch wirtschaftliche, technologische und wissenschaftliche Unterstützung könnte gemeint sein. Denn das alles ist für die Konstitution des Friedens wichtig. Ein Friede, der nicht bloß eine abstrakte Vision oder eine endzeitliche Utopie sein will, muss sich in konkreten zivilgesellschaftlichen, sozialen, kulturellen und religiösen Zusammenhängen verwirklichen lassen. Im Sinne des Konzepts vom gerechten Frieden ist er multidimensional.
Auch militärische Hilfeleistungen werden gelegentlich erbeten. Im Hinblick auf Mazedonien ereignete sich dies im Sommer 2000. Ich nenne weitere Stichworte aus den folgenden Jahren: Afghanistan 2001, Kongo und Libanon 2006. Die EU muss in solchen Fällen zu militärischen Hilfseinsätzen bereit und von den UN mandatiert sein. Aber Europa wird nur dann eine Friedensmacht sein, wenn es nicht zuerst und ausschließlich auf seine militärischen Fähigkeiten baut, sondern, wenn es sich in einem weiten und umfassenden Sinne zu einem Kontinent der Hilfsbereitschaft, der guten Nachbarschaftlichkeit sowie der kulturellen und religiösen Vielfalt und Freiheit entwickelt. Aus heutiger Sicht kann man kaum bestreiten, dass unser Kontinent auf einem guten Weg ist, dies alles zu erreichen. Damit ist freilich noch nicht die Frage beantwortet, welche friedenspolitische Rolle Europa in der Gegenwart und Zukunft einnehmen wird. Hierzu einige Aspekte, die ich im Anschluss an ein neueres Dokument der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) , der früheren Leuenberger Kirchengemeinschaft, als nachdrückliche Anregung beitragen möchte.
Die GEKE erinnert in ihrem Dokument zunächst an die von ihren Signatarkirchen eingegangene Verpflichtung zu "irdischer Gerechtigkeit und Frieden zwischen einzelnen Menschen und unter den Völkern" als Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen. Aus den konkreten politischen Maßnahmen, die von der Konferenz zum Zweck der Friedenssicherung vorgeschlagen werden, hebe ich fünf hervor:
a) Internationale Projekte und vertrauensbildende Maßnahmen: Sie sind nach Auffassung der GEKE "... ein wichtiges Element, Krieg zu verhüten [...] So verstanden, erfordert Sicherheit grundsätzlich Maßnahmen, die Fragen der Armut, Ungerechtigkeit, Umweltschäden, Regierungsgewalt, politische und wirtschaftliche Stabilität, usw. in angemessener Weise ansprechen." (a.a.O., 21)
b) Prävention im umfassenden Sinne: Alle Arten von Präventivmaßnahmen sind notwendig, "... um Fragen der Sicherheit anzusprechen und die Kapazitäten der Zivilgesellschaft zu stärken, um Frieden und Gerechtigkeit zu erleichtern [...] Unter keinen Umständen dürfen solche Präventivmaßnahmen ein bewaffnetes Eingreifen einschließen, das von den Einrichtungen der internationalen Gesetzgebung nicht gutgeheißen wird." (ebd.)
c) Spannungsabbau und Verbot sowie wirksame Verhinderung der Proliferation: "Internationale Verträge wie den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag, der die Parteien zu Reduzierung und Nichtankauf von Atomwaffen verpflichtet, als bindende Instrumente für die Vertragsparteien aufrechtzuerhalten, ist äußerst wichtig." (ebd.)
d) Militärische Lösungen als äußerste Möglichkeit zur Verhinderung von Genoziden und gravierenden Menschenrechtsverletzungen: "Wenn militärische Gewalt die einzig mögliche Antwort zu sein scheint, um solche Situationen zu entschärfen, verlangt sie eine legitime Autorität, um sie einzusetzen, und eine beschränkte Anwendung der Kriterien. Im gegenwärtigen Stand der internationalen Rechtsordnung ist der UN-Sicherheitsrat die von der internationalen Staatengemeinschaft beauftragte Einrichtung, militärisch gegen einen Staat in Situationen vorzugehen, in denen 'der internationale Friede und die Sicherheit bedroht sind'." (a.a.o., 22)
e) Legitimierung des Einsatzes bewaffneter Gewalt durch die Grundsätze und Regeln des Völkerrechts: "Auch aus diesem Grund sollte die Anwendung von bewaffneter Gewalt nur dann akzeptiert werden, wenn sie gemäß der Regeln und Entscheidungen des Völkerrechts stattfindet. Es stimmt, dass die Grundsätze des Völkerrechts durch Macht untermauert werden müssen, aber es ist noch wichtiger, dass diese Gewalt nach den Grundsätzen des Völkerrechts angewandt wird." (a.a.O., 23)
Diese fünf von der GEKE vorgeschlagenen konkreten Maßnahmen zur Friedenssicherung auf europäischer Ebene entsprechen den von der EKD schon seit 1994 vertretenen friedenspolitischen Prinzipien. Sie basieren auf dem Paradigma des gerechten Friedens und stehen in Einklang mit dem von der Friedensforschung vertretenen "zivilisatorischen Hexagon". Eine eigenständige europäische Friedenspolitik, die sich diese Grundsätze zu Eigen macht, weist über die Grenzen des eigenen Kontinents hinaus und kann Komponente und Baustein einer multilateralen Pax Globala sein.
IV. Folgerungen für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Vor einer Militarisierung Europas brauchen wir uns auf einer solchen Grundlage keineswegs zu fürchten, wie nicht zuletzt das aktuelle Friedensgutachten renomierter deutscher Friedens- und Konfliktforschungsinstitute betont: "Die Militarisierung Europas verliert einiges an Schrecken, wenn man sie auch als gleichzeitige Europäisierung des Militärs begreift, die es den EU-Staaten ermöglicht, in der Sicherheitspolitik ein hohes Maß an Transparenz und Vertrauen untereinander zu erhalten und auch jenseits der NATO zu agieren.“
Aus der Perspektive christlicher Friedensethik, deren oberster Maßstab das „Friedensgebot“ ist, begrüße ich einige Aspekte des potentiellen Verfassungsvertrages zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
- Die Betonung des „Friedens“ als vorrangiges Ziel und das Bekenntnis zum Schutz der Menschenrechte sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Vereinten Nationen (Art. I-3 Abs. 1 u. 4).
- Den Zwang zur Einstimmigkeit in wichtigen sicherheitspolitischen Fragen
(Art. I-41 Abs.4).
- Eine stärkere parlamentarische Einbindung gegenüber dem jetzigen Rechtszustand.
- Insbesondere die erstmalige Einbeziehung ziviler Mittel zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung oder Konfliktnachsorge in einem Verfassungstext (Art. I-41 Abs. 1; Art. III-309 Abs. 1).
Trotz dieser insgesamt positiven Einschätzung möchte ich einige Unzulänglichkeiten der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) und weiterer sicherheitspolitischer Beschlüsse ansprechen, zu deren Überwindung die Mitgliedstaaten aufgefordert bleiben.
1. Sicherheitsbegriff
Der Sicherheitsbegriff der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS), der der ESVP zugrunde liegt, ist nicht ausschließlich militärisch orientiert. „Keine der neuen Bedrohungen ist rein militärischer Natur und kann auch nicht mit rein militärischen Mitteln bewältigt werden“, so heißt es in der ESS. Wenn auch die militärische Dimension bei der Beschreibung der Hauptbedrohungen und der möglichen Antworten dominiert, so ist dieser Sicherheitsbegriff nicht verschlossen für einen Dialog mit dem multidimensionalen Konzept vom „Gerechten Frieden“ und seinen Grunddimensionen von Recht, Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechten. Dabei ist aus meiner Sicht darauf zu achten, dass mit „Sicherheit“ nicht nur die Sicherheit der EU-Bürger und ihrer Interessen gemeint ist.
Weiterhin frage ich mich, ob der Sicherheitsbegriff, der der ESVP zu Grunde liegt, im Sinne des Leitbilds vom „Gerechten Friedens“ nicht noch multidimensionaler und internationaler gefasst werden könnte. Anregend finde ich hierzu die Formulierung der vom UN-Generalsekretär eingesetzten Hochrangige Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel: „Jedes Ereignis und jeder Prozess, der zum Tod vieler Menschen oder zur Verringerung von Lebenschancen führt und der die Staaten als das tragende Element des internationalen Systems untergräbt, ist eine Bedrohung der internationalen Sicherheit.“ Die Entwicklungshilfeorganisation der Vereinten Nationen (UNDP) hat das m.E. ebenfalls beachtenswerte Konzept der „Menschlichen Sicherheit“ entwickelt. „Menschliche Sicherheit“ bezeichnet „einen Prozess, durch den die Wahlmöglichkeiten der Menschen erweitert werden, in ihrem Leben das zu tun und zu sein, worauf sie Wert legen.“ „Menschliche Sicherheit“ wird weiterhin gemessen an Indikatoren für ein langes und gesundes Leben, sowie angemessenen Bildungs- und Lebensstandards.
2. Zivile Mittel
Der europäische Frieden als möglicher Baustein einer Weltfriedensordnung ist in großem Maße auf zivile Mittel angewiesen. Die Politik sollte hierin im Zusammenspiel mit den Akteuren der europäischen Zivilgesellschaft, eine zentrale Aufgabe sehen. Ausgehend von den jahrzehntelangen Erfahrungen der christlichen Friedensdienste möchte ich sagen: Hier ist die EU schon ein Stück vorangekommen, hat aber noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft.
Der vielleicht wichtigste Bereich ist hier die zivile Konfliktvorsorge und Konfliktbearbeitung. Zivile Konfliktvorsorge und Konfliktvearbeitung muss vielfältige Formen annehmen, z.B. Polizei, Stärkung des Rechtsstaats, Katastrophenschutz und Stärkung der Zivilverwaltung als die vier Prioritäten des Europäischen Rates von Feira für die zivile Konfliktbearbeitung. Wahlbeobachtung, politischer Dialog, Sonderbeauftragte oder Sanktionen könnte man nennen. Nicht zuletzt sollte als Konfliktvorsorge auch Werte wie Recht, Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechten in Entwicklungspolitik und Kooperationsprogramme einbezogen werden.
Aufgrund der Multidimensionalität und Komplexität heutiger Konflikte wäre ein Mainstreaming der Mechanismen von zivilen Konfliktvorsorge und Konfliktbearbeitung auf alle allen einschlägigen Feldern der Politik sinnvoll.
Ziel muss es sein, Gewalt als Austragungsform von Konflikten zu verhindern oder durch Transformation in niedrigere Konfliktstufen zu vermindern, damit es erst gar nicht zu Phasen akuter Gewaltanwendung kommt, die eine Intervention von außen in Form von Peacekeeping, Peacemaking oder Peacebuilding erfordern.
Auch im Rahmen solcher Interventionen ist aus der Sicht christlicher Friedensethik zivilen Instrumenten der Vorzug zu geben.
Als letztes ziviles Mittel möchte ich die zivile Komponente von militärischen Einsätzen nennen, z.B. beim Wiederaufbau wie in Afghanistan im Rahmen der Provincal Reconstruction Teams. Bei der zivilen Komponente eines militärischen Einsatzes steht allerdings nach der Erfahrung der christlichen Friedensdienste und auch anderer Nichtregierungsorganisationen immer auch die Rolle der zivilen Helfer und somit auch der EU als ehrlicher Makler auf dem Spiel. Die Bedingungen für eine unabhängige und zivile Entwicklungskooperation können sich in diesem Rahmen verschlechtern, denn die meisten zivilen Projekte leben vom Vertrauen ihrer Partner, dass sie selber unabhängig und neutral sind und so auch wahrgenommen werden können. Viele internationale Verbände und auch das Diakonische Werk unsere Kirche haben davor gewarnt, dass die Instrumentalisierung ziviler Hilfe auch die Grundlage der Kooperation zerstören und die Helfer gefährden kann. Hier müssten zivile Mittel in größtmöglicher Unabhängigkeit vom militärischen Einsatz zum Tragen kommen und die Zusammenarbeit zwischen EU und Nichtregierungsorganisationen weiter gestärkt werden.
Die zivilen Mittel der Konfliktbearbeitung werden in der ESS und in Art. I-41 des Verfassungsvertrages zwar gleichberechtigt neben den militärischen Mitteln genannt, in Wirklichkeit sind die zivilen Mittel gegenüber den militärischen offenbar weit schlechter finanziert. Hier scheint mir eine bessere Balance von Nöten.
Um die in der EU zweifellos vorhandenen großen Potentiale zur zivilen Konfliktbearbeitung besser nutzen zu können, möchte ich heute Abend die Gründung eines EU-Instituts für Friedensforschung vorschlagen. Diese könnte im Verbund mit nationalen Instituten der Konflikt-, Präventions- und Friedensforschung die zivile Konfliktbearbeitung koordinieren, fördern und sichtbarer machen.
3. Militärische Mittel
Zum Schluss möchte ich noch auf die militärischen Kapazitäten in der ESVP zu sprechen kommen. Militärische Gewalt darf nur als ultima ratio nach den Regeln des Völkerrechts eingesetzt werden. Gleichwohl muss im Rahmen der ESVP eine militärische Kapazität der EU aber vorhanden sein.
3.1. Europäisierung der Militär- und Rüstungspolitiken
Die Kirchen sehen in der Europäisierung der nationalen Militär- und Rüstungspolitiken nicht nur finanzpolitisches Einsparpotential, sondern eine Möglichkeit zu mehr Transparenz und Kontrolle des Rüstungsmarktes. Transparenz muss sich dabei nicht nur zwischen den Mitgliedsstaaten der EU sondern auch im Verhältnis der EU zu den Bürgern entfalten. Dies ist leichter gesagt als getan, wenn man bedenkt, dass es die vielbeschworene europäische Öffentlichkeit noch nicht gibt. Öffentlichkeit ist aber zwingend notwendig, wenn es z.B. um Fragen des Rüstungsexports geht. Hier dürfen die auf nationaler Ebene erreichten strengsten Maßstäbe nicht aufgeweicht werden. Dies gilt nicht nur für Waffenbeschaffungswesen und Waffenhandel unter den Mitgliedsländern, sondern vor allem auch für die Beziehungen zu Ländern außerhalb des Binnenmarktes. Hier sind strenge gemeinsame Regelungen erforderlich.
3.2. Verhältnis zum Völkerrecht
Schließlich möchte ich noch einmal auf das Verhältnis zum Völkerrecht zurückkommen. Zwar bekennt sich die EU im Verfassungsvertrag (Artikel I-3) klar zur Einhaltung des Völkerrechts, aber in der aktuellen Diskussion bleiben Formulierungen, dass die EU „grundsätzlich ein Mandat der Vereinten Nationen anstreben“ sollte, m.E. dahinter zurück. Auch die kürzlich von einem Europaabgeordneten geäußerte Haltung, dass präemtive Militäreinsätze „nur bei klar erkennbaren Bedrohungen zulässig“ sind, scheint mir ohne UN-Mandat immer noch völkerrechtswidrig.
Ich sehe den europäischen Frieden als möglichen Baustein einer Pax Globala. Der europäische Frieden darf aber in seiner neuen Rolle als Baustein einer Weltfriedensordnung nichts von seinen bewährten Ambitionen und nichts von seinem spezifischen Charakter unter dem obersten Maßstab des Friedensgebotes verlieren.