Predigt über Matthäus 16,13-19 in der Reformationsfeier in der Stiftskirche in Landau/Pfalz

Hermann Barth

Da kam Jesus in die Gegend von Cäsarea Philippi und fragte seine Jünger und sprach: Wer sagen die Leute, daß der Menschensohn sei?

Sie sprachen: Einige sagen, du seist Johannes der Täufer, andere, du seist Elia, wieder andere, du seist Jeremia oder einer der Propheten.

Er frage sie: Wer sagt denn ihr, daß ich sei?

Da antwortete Simon Petrus und sprach: Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn!

Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.

Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.

Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.

Nein, liebe Gemeinde,

nein, es ist kein Mißverständnis und kein Versehen, daß ich - ausgerechnet für die Reformationsfeier - diesen Abschnitt aus dem Matthäusevangelium als Predigttext ausgewählt habe. Denn dieser Text ist gar nicht der biblische Kronzeuge des römisch-katholischen Papsttums, für den er immer wieder gehalten wird. Seine Verheißung, daß selbst die Pforten der Hölle die christliche Gemeinde nicht überwältigen werden, gilt allen Kirchen und so auch uns, den Kirchen der Reformation. Und sie ist eine gute Grundlage, die heute fälligen Reformen in unserer Kirche anzupacken. Denn wer keine Angst um seine Zukunft hat, dem fällt es leichter, nicht am Gewohnten zu kleben, sondern Neuland zu betreten. Im Geist des Vertrauens Vertrautes verlassen - das ist ein gutes Leitwort für den Prozeß der Veränderung, in dem die evangelischen Kirchen in Deutschland sich bereits seit geraumer Zeit befinden.

I.

Die römisch-katholische Kirche sieht in der Verheißung an Petrus, wonach Jesus Christus auf diesen Felsen seine Gemeinde, also die Kirche, bauen wolle, die Gründungsurkunde für den Stuhl Petri und das Petrusamt. Das findet seinen augenfälligsten Ausdruck darin, daß diese Verheißung in großen Lettern die Kuppel des Petersdoms in Rom schmückt: Tu es Petrus, et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam - „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen.“ Wir brauchen uns nicht lange bei der Frage aufzuhalten, wer oder was hier eigentlich mit dem „Felsen“ gemeint ist: Ist es das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem Sohn Gottes, das Petrus unmittelbar zuvor ablegt? So ist die Stelle vom 3. Jahrhundert an häufig ausgelegt worden: Der rechte christliche Glaube ist dann das Fundament, auf dem die Kirche erbaut wird. Oder ist es Jesus Christus selbst? Viele - auch der eine und die andere hier im Gottesdienst - haben als Konfirmationsspruch das Wort des Apostels Paulus erhalten: „Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“ (1. Kor 3,11). Oder ist es am Ende doch die Person des Jüngers Petrus, wie es die heutige wissenschaftliche Bibelauslegung, sowohl auf evangelischer wie auf römisch-katholischer Seite, weithin versteht? Wir können, wie gesagt, all diese Fragen und den Streit um ihre Beantwortung auf sich beruhen lassen. Denn eines ist sicher: Von der Verheißung an Petrus zum römischen Papstamt führt kein direkter Weg. Das Matthäusevangelium denkt weder überhaupt an ein Petrusamt noch macht es irgendwelche Andeutungen darüber, daß es eine ununterbrochene Nachfolge in einem solchen Amt geben solle. Überdies sagt Matthäus über den Jünger Petrus nichts, was nicht für alle anderen Jünger auch gilt. Dieses letzte Argument verwendet Luther in seiner Auseinandersetzung mit der römischen Kirche von Anfang an. 1520 schreibt er (in „Von dem Papsttum zu Rom“):

Von den Worten des Matthäus her hat man „die Schlüssel allein St. Petrus zugeeignet, aber derselbe Matthäus hat im 18. Kapitel dieses irrige Verständnis widerlegt, wo Christus zu allen insgesamt sagt: ‚Fürwahr, ich sage euch: Was ihr werdet binden auf Erden, soll gebunden sein im Himmel, und was ihr werdet auflösen auf Erden, soll gelöst sein im Himmel.’ Hier ist es klar, daß Christus sich selbst auslegt und in diesem 18. Kapitel das vorhergehende 16. erklärt, nämlich daß St. Petrus an Stelle der ganzen Gemeinde, und nicht um seiner Person willen, die Schlüssel gegeben sind“ (M. Luther: Ausgewählte Schriften. Hg. von K. Bornkamm und G. Ebeling, Bd. 3, 1982, S. 44).

Das Papstamt bleibt - auch nach bald 500 Jahren - eines der schwierigsten Hindernisse auf dem Weg zur Einheit oder - sagen wir bescheidener - zur Kirchengemeinschaft zwischen Rom und Wittenberg. Das gilt auch angesichts des Wirkens des gegenwärtigen Papstes Benedikt XVI. und seiner Vorgänger. Man kann es ja als protestantischer Christ nicht leugnen und sich in vielem nur von Herzen darüber freuen: Benedikt XVI., aber auch Vorgänger wie Johannes Paul II. oder Johannes XXIII. verleihen dem christlichen Glauben eine weltweite Ausstrahlung. Vor Millionen Augen und Ohren haben sie den Geist der Liebe und die Kraft der Hoffnung - einer Hoffnung über den Tod hinaus - bezeugt und vorgelebt. Für die Orientierung in einer unübersichtlich gewordenen Welt - wenn es um die Prüfung der Gründe für den Gebrauch militärischer Gewalt oder um den Widerstand gegen alle Formen der "aktiven Sterbehilfe" geht - haben sie helle und weithin sichtbare Leuchtfeuer angezündet. Und dennoch: Die Autorität des Papstamtes ist nicht einem Benedikt XVI. oder Johannes Paul II. oder Johannes XXIII. vorbehalten. Sie wird jedem verliehen, der auf den Stuhl Petri gewählt wird. In der Geschichte des Papsttums aber gibt es nicht nur Lichtgestalten. Der Papst bleibt Mensch, von Irrtum und Selbstüberschätzung bedroht. Als protestantischer Christ brauche ich nicht nur kein Papstamt, ich will es auch nicht. Ich verzichte gern auf seine positiven Möglichkeiten, denn ich scheue seine Gefährdungen.

II.

Ob jedoch evangelische oder römisch-katholische oder orthodoxe Kirche - die Verheißung Jesu Christi gilt ihnen allen: „Die Pforten der Hölle sollen die Kirche nicht überwältigen.“ Keine Kirche könnte eine solche Zuversicht auf irgendwelche menschlichen Fähigkeiten und Qualitäten gründen. Es ist allein der Beistand und die Zusage Gottes, die es möglich machen, so von der Kirche zu reden und damit alle Ängste um die Zukunft der Kirche zu verjagen. Luther hat einmal mehr den Nagel auf den Kopf getroffen:

„Wir sind es doch nicht, die da die Kirche erhalten könnten, unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen, unsere Nachkommen werden’s auch nicht sein, sondern der ist’s gewesen, ist’s noch und wird’s sein, der da spricht: ‚Siehe, ich bin bei euch bis an der Welt Ende’“ (aus: Wider die Antinomer [1539], WA 50, S. 468-477, dort 476,31ff).

Was ist konkret damit gemeint, daß „die Pforten der Hölle die Kirche nicht überwältigen“ werden? Wir brauchen dazu nur auf die Verfolgungszeiten der Kirche zu sehen. Sie kehrten über die Jahrhunderte in immer neuen Gestalten wieder, und viele von ihnen waren die Hölle. Noch nicht einmal hundert Jahre ist es her, daß die stalinistische Gewaltherrschaft in Osteuropa die Kirchen zu bedrücken begann und unzählige Christen als Märtyrer sterben ließ. In der Sowjetunion dauerte das - mit kleinen Unterbrechungen - von 1917  bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts an. Diese lange Zeit ist es auch, die mich dieses Beispiel - und nicht die NS-Diktatur - wählen läßt. Man mag es sich nicht ausmalen, was den bekennenden Christen im Herrschaftsbereich der Nazis zugestoßen wäre, hätte die NS-Herrschaft auch über Jahrzehnte Bestand gehabt. Unter der stalinistischen Gewaltherrschaft jedenfalls wurde die Kirche aus der Öffentlichkeit verdrängt, die Gläubigen mußten auf allen möglichen Gebieten Nachteile hinnehmen, Kirchengebäude wurden weggenommen und zweckentfremdet. Aber nach der Wende zeigte sich etwas schier Unglaubliches: Die Kirche lebte, die Hölle, durch die sie hindurch gegangen war, hatte sie nicht verschlungen, das Blut der Märtyrer war auch in diesem Fall der Samen einer neuen Blüte. Es fällt mir schwer, über solche Vorgänge zu reden. Denn ich gehöre zu einer Generation, die aus eigener Anschauung noch nichts erlebt hat, was für die Kirche auch nur annähernd so etwas wie die Hölle bedeutet hätte. Wir sind weithin Gutwetterchristen, die der Bewährungsprobe von eisiger Kälte und sengender Hitze noch nie ausgesetzt waren. Gott sei Dank! Niemand sehnt sich danach, die Hölle zu durchleben oder in ihr umzukommen. Aber wenn es uns zustieße - gebe Gott, daß wir im Vertrauen auf den Beistand Gottes standhaft bleiben und unseren Glauben tapfer bekennen.

Damit ist nicht von ferne zu vergleichen, ja, damit hat es nicht das Geringste zu tun, daß sich die Kirche unter veränderten Rahmenbedingungen selbst verändern muß und daß dabei manches von dem, an das wir uns über Jahrzehnte gewöhnt hatten, nicht erhalten bleibt. Jesus Christus hat Petrus - und in ihm uns - nicht verheißen, daß es für die Kirche je eine Art Besitzstandswahrung gibt. Gewiß - die Veränderungen, die derzeit vielen Gemeinden und einer großen Zahl von kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zugemutet werden, tun weh, aber sie sind nötig, um  uns an eine gewandelte Situation anzupassen. Aber weil uns Jesus Christus die Angst um die Zukunft der Kirche nimmt, sind wir frei, ohne Gefühle der Panik über die heute fälligen Reformen nachzudenken und sie ins Werk zu setzen.

III.

In einer ganzen Reihe von evangelischen Landeskirchen haben solche Reformprozesse stattgefunden oder sind sie noch im Gange. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat es vor ein paar Monaten unternommen, diese Reformanstrengungen zu bündeln. Unter dem Titel „Kirche der Freiheit“ hat er in einem Impulspapier „Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“ dargestellt. Dieser Text steht und fällt damit, daß er die Erneuerung der evangelischen Kirche unter den Grundsatz rückt: „Geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität: Wo evangelisch draufsteht, muss Evangelium erfahrbar sein.“ Mit anderen Worten: Die evangelische Kirche soll nicht alles Mögliche machen, sondern sich konzentrieren auf dasm worauf es wirklich ankommt. Nehmen wir den Predigttext als Probe aufs Exempel. Er faßt den Auftrag der Kirche zusammen in dem einen Satz: „Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.“ Was heißt das konkret? Ich werde immer nervös, wenn mir jemand sagt. „Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen.“ Gewiß - es gibt die Fälle, wo die Stimme des Gewissens sich nicht von ungefähr meldet. Aber es gibt, gerade im Protestantismus, auch die geradezu pathologische Neigung, sich zu überfordern, sich ohne Rücksichtnahme auf das Maß des Menschenmöglichen für alles verantwortlich zu fühlen und darum mit einem notorisch schlechten Gewissen herumzulaufen. „Kirche der Freiheit“ sind wir dann, wenn wir die Mitmenschen von dieser Sorte des schlechten Gewissens befreien. Wir haben keinen schöneren Auftrag als den, die Gewissen freizusprechen und so zu trösten und aufzurichten.

Die EKD hat mit dem Impulspapier nicht überall Begeisterung ausgelöst. Ich brauche nur an die Berichterstattung des hiesigen „Kirchenboten“ zu denken. Aber Kritik darf nicht nur sein, sie ist ein unerläßlicher Teil jedes Reformprozesses, und jeder kann und soll sich selbst ein Urteil bilden über das Impulspapier aus Hannover. Die kritischen Reaktionen haben sich lange bei seinen Aussagen über die wünschenswerte Größe und Zahl der Landeskirchen aufgehalten. Dieser Streit lohnt sich nicht. Mir reicht die Feststellung, daß es in einem Vierteljahrhundert jedenfalls keine 23 evangelischen Landeskirchen mehr geben wird. Aber es gibt in dem Impulspapier andere Themen und Aussagen, die zu diskutieren und über die zu streiten sich lohnt. Ich muß mich hier mit ein paar Andeutungen begnügen:

Stichwort 1: Vielfalt der Gemeindeformen

Die Parochie, also die durch ihr Gebiet definierte Gemeinde, bleibt das Standbein der evangelischen Kirche. Aber eine größere Vielfalt von Gemeindeformen ist ein sinnvoller Weg, die Wachstumskräfte unserer Kirche zu stärken. Es gibt schon erste Ansätze: Profilgemeinden, Gemeinden bei Gelegenheit, Richtungsgemeinden; auch die Wiederentdeckung von Kommunitäten und klosterähnlichen Gemeinschaften gehört hierher.

Stichwort 2: Qualitätssteigerung

Es ist das Wehen des Geistes, das letztlich über Wirkung und Erfolg kirchlicher Arbeit entscheidet. Aber der heilige Geist ist nicht dazu da, unsere Nachlässigkeit, Faulheit oder Lieblosigkeit zu kompensieren. „Das heimliche Schweigegebot über die ... Qualität kirchlicher Angebote muss ... aufgebrochen“ werden.

Stichwort 3: Ziele setzen

Der Rückgang – also daß die Zahl der Gemeindemitglieder abnimmt, der Gottesdienstbesuch sinkt, die Taufen und Trauungen fortschreitend weniger werden – diese Art von Rückgang ist für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert, jedenfalls in bestimmten Regionen, kein unentrinnbares Geschick. Es gibt Gemeinden, die vormachen, daß es möglich ist, sich ehrgeizige Ziele zu setzen und tatsächlich gegen den Trend zu wachsen.

Veränderungen bringen es unweigerlich mit sich, daß hier und da Gewohntes aufgegeben werden muß. Das ist nicht leicht – um so mehr dann, wenn man verunsichert ist. Wer ängstlich in die Zukunft blickt, klammert sich an das, was ihm vertraut ist. Darum ist die Verheißung des Predigttextes so wichtig: Die Pforten der Hölle werden die Kirche niemals überwältigen. Das schafft Zuversicht und Gelassenheit. Und das macht frei, Gewohntes loszulassen und Neues zu wagen. Über der heutigen Reformationsfeier steht als Leitwort ein Zitat aus dem Impulspapier der EKD: „Im Geist des Vertrauens Vertrautes verlassen“. Aber das ist der Sache nach keine Erfindung aus Hannover. So hat die evangelische Kirche schon lange geredet und gesungen, die Böhmischen Brüder im 16., Klaus Peter Hertzsch aus Jena im 20. Jahrhundert:

“Es tut Gott nicht gereuen, was er vorlängst gedeut’, sein Kirche zu erneuen in dieser fährlichn Zeit ...“. Drum: „Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt ...“.

Amen.