Predigt über Markus 2,18-22 am 2. Sonntag nach Epiphanias im Berliner Dom

Hermann Barth

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Und die Jünger des Johannes und die Pharisäer fasteten viel; und es kamen einige, die sprachen zu Jesus: Warum fasten die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer, und deine Jünger fasten nicht?

Und Jesus sprach zu ihnen: Wie können die Hochzeitsgäste fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist? Solange der Bräutigam bei ihnen ist, können sie nicht fasten.

Es wird aber die Zeit kommen, daß der Bräutigam von ihnen genommen wird; dann werden sie fasten, an jenem Tage.

Niemand flickt einen Lappen von neuem Tuch auf ein altes Kleid; sonst reißt der neue Lappen vom alten ab, und der Riß wird ärger.

Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche, sonst zerreißt der Wein die Schläuche, und der Wein ist verloren und die Schläuche auch; sondern man soll neuen Wein in neue Schläuche füllen.

Herr, heilige uns in deiner Wahrheit. Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.

Liebe Gemeinde!

Wodurch fallen Christenmenschen heute auf? Wer freut sich über uns? Wer stößt sich an uns? Wer wundert sich über uns? Bei wem lösen wir Fragen aus? Oder fallen wir überhaupt nicht auf, weil wir uns kaum oder gar nicht unterscheiden von Menschen, die nicht an Gott glauben und Jesus nicht nachfolgen? Das sind in etwa die Fragen, mit denen uns der heutige Predigttext konfrontiert. Wobei vielleicht noch ausdrücklich dazu gesagt werden sollte: Es geht nicht um ein Auffallen-Wollen, am Ende gar ein Auffallenwollen um jeden Preis, es geht darum, ob wir auffallen so, wie wir sind.

Dieser Gottesdienst und diese Predigt hätten ihr Ziel schon halbwegs erreicht, wenn die Fragen sich bei uns festhaken und unser Herz unruhig machen. Es mag sich aber auch begeben, daß wir über die Fragen hinaus zu Antworten finden - seien es Antworten, die ich zu geben versuche, seien es Antworten, die jedem für sich selbst einfallen. Wir vertrauen darauf, daß der heilige Geist in diesem Gottesdienst am Werk ist. Wo und wie - das haben wir nicht in der Hand. Der heilige Geist ist immer für eine Überraschung gut.

I.

Die ersten drei Kapitel des Markusevangeliums sind voll von Geschichten und Szenen, in denen Jesus und seine Jünger in ihrer Umgebung Aufsehen erregen, anecken, stutzig machen. Ich werfe zuerst einen Blick auf einige dieser anderen Geschichten. Denn der Verfasser dieses Evangeliums hat sie offenkundig ganz absichtsvoll nebeneinander- und zusammengestellt.

Da ist zunächst die Geschichte von der Heilung eines Gelähmten, den seine vier Freunde wegen der Menge der Leute nicht zu Jesus hintragen konnten. Sie decken kurzerhand das Dach auf und lassen den Kranken auf seinem Bett herab, direkt vor Jesus. Als der, so fährt die Geschichte fort, "ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben." Dieser Zuspruch erregte bei einigen Schriftgelehrten Anstoß, und sie "dachten in ihrem Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?" Es liegt offen am Tage, was die theologischen Fachleute an Jesu Worten aufregt: Darf der das überhaupt? Wer hat ihn autorisiert, an Gottes Stelle zu handeln? Wer hat ihm die Vollmacht gegeben?

Von anderer Art ist das Ärgernis, das Jesus damit hervorruft, daß er sich im Haus des Levi, eines Zöllners, also eines Menschen, der mit den römischen Unterdrückern gemeinsame Sache macht und dessen Wohlstand auch auf manchen kleinen und großen Betrügereien fußt, mit ihm und seinesgleichen an einen Tisch setzt. Wieder sind es die Schriftgelehrten, die sich ereifern. Sie nehmen Jesu Jünger beiseite und fragen spitz: "Ißt er mit den Zöllnern und Sündern?" Weiß er denn nicht, mit wem er sich da einläßt? Dieses Sprichwort kennt doch jeder: Sage mir, mit wem du ißt und in wessen Gesellschaft du dich begibst, und ich sage dir, wer du bist.

Und schließlich noch die atemberaubende Geschichte, wie Jesus am Sabbat durch ein Kornfeld geht und seine Jünger anfangen, Ähren abzureißen. Es sind dieses Mal die Pharisäer - man kann’s gegen das verbreitete Klischee nicht häufig genug sagen: gerade nicht Heuchler, sondern solche, die mit Ernst Juden sein und die Gebote Gottes besonders ernst nehmen wollen -, die Pharisäer also sind es, die dazwischengehen und, weil das Ährenabreißen als Erntearbeit gilt und darum die Sabbatruhe verletzt, Jesus zur Rede stellen: „Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?“ Warum hältst du sie nicht dazu an, den Geboten Gottes gehorsam zu sein? Die Antwort Jesu ist geeignet, die Pharisäer nur noch mehr in Rage zu bringen: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“ Da ist sie wieder: diese unerhörte, noch nicht dagewesene, anmaßend wirkende Vollmacht, mit der Jesus an Gottes Stelle handelt und mit Gottes Autorität auslegt, was die Gebote besagen und was sie nicht besagen: Nicht einfach: "Ich lege euch das heute so aus", sondern: „Ich aber sage euch ...“.

II.

Mitten unter solchen Geschichten nun die Szene, von der der Predigttext seinen Ausgang nimmt: Es geht ums Fasten. Das Fasten war ein Trauerritus, ja mehr als das: eine Bußhandlung, angesichts der bis in die Gegenwart andauernden Untreue des Volkes Israel. Neben festen Fastenzeiten für alle wie am großen Versöhnungstag gab es individuelle Verzichtleistungen, die sich die Frommen freiwillig auferlegten. Darin ließen sich die Pharisäer und auch die Jünger Johannes des Täufers von niemandem übertreffen. Es mußte auffallen, daß demgegenüber die Jünger Jesu gar nicht fasteten. So kamen Leute zu Jesus und fragten ihn: „Warum fasten die Jünger des Johannes und die ... Pharisäer, und deine Jünger fasten nicht?“

Ich höre in dieser Frage keinerlei kritischen Unterton. Da nimmt niemand Anstoß. Da empört sich keiner. Da sind nur welche, die genau hinsehen und einen markanten Unterschied wahrnehmen und sich wundern und deshalb Fragen stellen. Selbst auferlegte zusätzliche Fastenzeiten galten üblicherweise als Anzeichen besonderer, exzellenter Frömmigkeit. Aber die Jünger Jesu hatten einen anderen Maßstab, und darum legten sie ein abweichendes Verhalten an den Tag. Das ist sozusagen die elementare Form, aufzufallen, und vielleicht eine der wirkungsvollsten. Die schlichte Tatsache des abweichenden Verhaltens fällt auf und motiviert zum Fragen. Wer hingegen Anlaß zu Ärgernis gibt, provoziert zwar die heftigere Reaktion, aber stört, vielleicht sogar zerstört die Hörbereitschaft. Ich sage es schon an dieser Stelle: Wir müssen heute im kirchlichen Leben und unserer christlichen Existenz all das stärken und betonen, was die Menschen in unserer Umgebung neugierig macht und zum Nachfragen drängt: Warum sind die so? Warum sind die anders?

Auch in dieser Szene tritt Jesus auf wie einer, der redet und handelt an Gottes Stelle. „Wie können die Hochzeitsgäste fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist?“ Das ist ja nicht irgendein Vergleich. Bei den Propheten war das Bundesverhältnis zwischen Gott und Israel in das Bild des Verlöbnisses gefaßt worden, Israel traf der Vorwurf, eine untreue Braut zu sein. Die Zeit des Heils aber, wenn Gottes Liebe stärker  ist als menschliche Untreue und er seine Braut trotz allem heimführt, wurde bei den Propheten als Hochzeit dargestellt. Jesus knüpft an diese Vorstellungen erkennbar an. Der Bräutigam ist da. Das heißt: Jetzt ist die Zeit des Heils. Jetzt sind Freudenlieder dran, nicht Trauergesänge. Jetzt wird gefeiert, nicht gefastet.

Man kann die Zeitansage Jesu auch so wiedergeben: Ich schaffe ein Neues, mit mir fängt eine neue Ära an. Viele, die ihn hörten und sahen und erlebten, spürten dieses Neue, aber zugleich auch die Verunsicherung, wie sich das Neue und das Alte zueinander verhalten. Darum hat der Verfasser des Markusevangeliums ja auch die beiden Klugheitsregeln angehängt:

Niemand näht einen Flicken aus neuem Stoff auf ein altes, schon zerschlissenes Kleidungsstück. - Niemand füllt jungen Wein in alte Schläuche.

Man kann sich gut vorstellen, daß beide Worte in ihrer bildhaften, einprägsamen Redeweise schon lange als Spruchweisheiten im Umlauf waren und auf ganz verschiedene Themen bezogen wurden. Hier nun auf Jesus: Was mit ihm kommt, das ist kein abgewetztes, dünn gewordenes, löchriges Gewand, sondern neuer, kräftiger Stoff; es ist nicht alter, abgestandener Wein, sondern etwas Frisches, das noch im Gären begriffen ist. So etwas Neues aber kann nicht schiedlich-friedlich mit dem Alten koexistieren.

III.

Jesu Worte und seine Taten machten neugierig, sie sorgten für Aufsehen und Aufregung, ja, weit mehr als das: sie trugen ihm Anfeindung, gar tödliche Feindschaft ein. Die letzte der Geschichten, die das Markusevangelium in diesem Zusammenhang erzählt, handelt von einer Heilung am Sabbat. Von Anfang an sind die Feinde auf dem Plan: „Sie lauerten darauf, ob er auch am Sabbat den Kranken heilen würde, damit sie ihn verklagen könnten.“ Und nachdem die Heilung geschehen ist, heißt es lapidar: „Und die Pharisäer gingen hinaus und hielten ... Rat ..., wie sie ihn umbrächten.“

Im Evangelium steht: „Der Jünger ist nicht über dem Meister und der Knecht nicht über seinem Herrn“ (Matth 10,24; vgl. Joh 13,16; 15,20). Gemessen an diesem Maßstab muß gelten: Wenn wir Christen heute kein Ärgernis mehr geben, ja, wenn wir durch unsere Worte und Taten nicht einmal mehr Fragen auslösen, dann ist höchste Alarmstufe, dann stimmt etwas nicht mit unsrer Jüngerschaft. Es muß ja nicht gleich tödliche Feindschaft sein, die wir uns einhandeln - obwohl es durchaus nachdenklich machen darf, wenn die biblische Botschaft nicht mehr wehzutun scheint, sondern als Kitt der Gesellschaft, als Reservoir für Werte vereinnahmt werden kann. Gewiß, es kann nicht um ein querulantisches Auffallenwollen gehen. Und niemand kann einen Auftrag unseres Meisters dafür reklamieren, ein Verfolgter oder gar ein Märtyrer sein zu wollen. Aber zwischen dem Verfolgtwerden um des Evangeliums willen und dem Verschwinden in der Durchschnittlichkeit ist sehr viel Platz.

IV.

Darum noch einmal: Wodurch können Christenmenschen heute auffallen - und nicht nur: Wodurch könnten sie, sondern: Wodurch fallen sie tatsächlich auf?

1) Fangen wir mit ganz alltäglichen Dingen an - so wie sie in der Epistel, in den Mahnungen des Apostel Paulus aus dem Römerbrief stehen: „Nehmt euch derer in Not an. Übt Gastfreundschaft ... Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.“ Kleine Gesten vielleicht nur, aber sie bleiben nicht unbemerkt. Und dann eine der Perlen der ganzen Bibel: „Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.“ Das ist die kürzeste und gehaltvollste Beschreibung von Anstand, die ich kenne. Anständig sein und anständig mit anderen umgehen - das fällt heutzutage auf. Und es wird gefragt: Wo lernt man das?

Aber der Apostel beläßt es nicht bei den elementaren Regeln für das menschliche Zusammenleben, die jedem Menschen gewissermaßen ins Herz geschrieben sind. Was täten wir Christen Besonderes, wenn wir dabei stehenblieben? Mit Jesus ist umstürzend Neues in die Welt gekommen: „Vergeltet niemand Böses mit Bösem ... Laß dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Das ist Fleisch vom Fleisch und Geist vom Geist der Bergpredigt Jesu. Wer sich von diesem Geist bewegen läßt, der ist wie die Stadt, die auf dem Berge liegt und nicht verborgen bleiben kann: ob in den gewöhnlichen Alltagssituationen oder in den Brennpunkten der Weltpolitik. Dieser Geist wirkt so einleuchtend und grundvernünftig und plausibel, wenn wir die Verhältnisse im Nahen Osten und die dort üblichen Methoden im sogenannten Krieg gegen den Terrorismus ansehen, und er ist doch eine Zumutung, die das bisher Gängige auf den Kopf stellt - neuer Stoff, der sich mit dem alten Kleid nicht verträgt, neuer Wein, der auch neue Schläuche braucht.

2) Vor einiger Zeit las ich in einem Nachruf auf eine theologische Autorin - der Name tut hier nichts zur Sache, denn es kommt auf das Verallgemeinerungsfähige an - folgenden Gedanken:

Wenn man von einer Person sagt, sie sei umstritten gewesen, dann klingt das noch im Respekt wie eine Distanzierung. Aber wenn man von einem Christen und speziell von einem Theologen sagt, er sei nicht umstritten gewesen, dann kann man auch gleich sagen, er sei gar kein Christ und gar kein Theologe gewesen. Wer Gottes Wort in dieser Welt weitersagt, kann gar nicht anders leben als in zwei Dimensionen: im Zuspruch wie im Einspruch. Und wer über die Nachfolge Jesu schreibt, der muß auch im Widerspruch leben - zumindest im Widerspruch zu den von sich Eingenommenen und Selbstzufriedenen und Bequemen. Und erst recht muß im Einspruch und Widerspruch leben, wer die politischen Dimensionen der Nachfolge Jesu sichtbar macht. Es ist ja oft so, daß ganz fromme Menschen ganz radikal sind. Manchmal wünscht man sich, das müßte nicht immer so sein. Aber noch mehr wünschte man sich, daß die Kritiker dieser frommen Radikalen nicht so von Haß erfüllt wären (in Anlehnung an den Nachruf von Robert Leicht auf Dorothee Sölle).

3) In der neuesten Ausgabe des evangelischen Magazins „chrismon plus“ steht eine wunderbare Reportage über den Jugendhof Seehaus. Auf diesem ehemaligen Landgut in Württemberg lernen jugendliche Straftäter, wie es die journalistische Sprache flapsig ausdrückt, „putzen, schreinern und beten, vor allem aber: wie man dem Tag Struktur gibt.“ Der Jugendhof nimmt 14- bis 20jährige Straftäter auf, die zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt sind. Sie erhalten eine Schul- und Berufsausbildung. Vorgesehen ist, daß sie - sofern es sich einrichten läßt - auch dem Opfer ihrer eigenen Tat begegnen und nach Wegen des Ausgleichs suchen. Initiator, Finanzier und zugleich Leiter der Einrichtung ist Tobias Merckle, über den die Reportage schreibt: Er „wollte lieber Straftätern helfen als eine Yacht kaufen“. Von seiner Mutter lernte er: „Reichtum ist eine Leihgabe Gottes, mit der man Sinnvolles anfangen muß.“ Leider oder glücklicherweise - je nach dem - sind wir, vermutlich alle, keine Millionenerben wie Tobias Merckle. Unsere Möglichkeiten, „auf Gutes bedacht zu sein gegenüber jedermann“, sind andere, aber deswegen nicht geringer. Beides gehört zusammen: das Handeln der vielen in kleinen, unscheinbaren Situationen und der Weg eines Tobias Merckle, der Schlagzeilen macht. Jeder bekommt seine Möglichkeiten, sich als Christ - als einer, der anderen zum Christus wird - zu zeigen. Und da ist derjenige, der über viel Vermögen verfügt, prinzipiell nicht anders dran als jemand in kleinen Verhältnissen.

4) Jesus hat vor allem deshalb Aufsehen erregt und Anstoß gegeben, weil er in der Vollmacht Gottes redete und handelte. Er hat damit die verwunderte, ja empörte Rückfrage provoziert: Darf der denn das? Im Sinne des Neuen Testaments sind wir „Botschafter an Christi Statt“. Machen wir etwas daraus? Trauen wir uns, die Vollmacht in Anspruch zu nehmen, die uns verheißen ist? Nahezu alle Beispiele, auf die ich mich beziehen kann, reizen zum Widerspruch. Das gilt gewiß auch für die Fälle, in denen sich Christenmenschen dafür einsetzen, daß die Strafverbüßung auch für den Mörder und Gewalttäter nicht die Endstation bleibt, sondern mit der frohen Botschaft ernst gemacht wird: Christus ist für uns gestorben, als wir noch Sünder waren, also: Christus ist auch für den Mörder und Gewalttäter gestorben. In den letzten Tagen gingen Meldungen durch die Zeitungen, wonach Entscheidungen über die Haftentlassung von Brigitte Mohnhaupt und über die Begnadigung von Christian Klar anstehen, beide zum harten und gewaltentschlossenen Kern der einstigen RAF zählend. Ich denke aber auch an die jüngste Kontroverse um Magnus Gäfgen, den Mörder des 11jährigen Jakob von Metzler. Es geht darum, ob ihm die Möglichkeit gewährt werden soll, sich in einer Stiftung zugunsten von Verbrechensopfern zu engagieren. Mich hat die Frage nachdenklich gemacht, ob hinter den Einwänden und Vorwürfen gegen diese Bemühungen nicht in Wahrheit eine uneingestandene Sehnsucht nach der Todesstrafe steckt: Wenn wir den Kerl schon nicht hängen können, soll er wenigstens den bürgerlichen Tod erleiden. Worauf kommt es für einen Straftäter mehr an: für nicht wiedergutzumachende Schuld auf die Vergebung Gottes zu hoffen und aktiv Schritte der Reue und Umkehr zu gehen oder ein auferlegtes Strafübel nur passiv an sich geschehen zu lassen? Ich habe auch erhebliche Anfragen an die Initiative zugunsten von Magnus Gäfgen - so vor allem, ob es einer eigenen, neuen Stiftung bedarf und ob es nicht bereits Stiftungen mit gleicher Zielsetzung gibt, in denen sich Magnus Gäfgen quasi unbemerkt als einer unter vielen anderen engagieren kann. Und doch: So kompliziert jeder Fall liegen und so sehr man sich in dem Willen zur Umkehr immer wieder täuschen mag - wer dem Ruf nach Vergeltung trotzt und der heilenden Wirkung der Vergebung Gottes Raum schafft, der ist doch wohl im Prinzip auf der richtigen Spur.

5) Auch das war ein Handeln aus der Vollmacht Gottes, daß Jesus mit den Zöllnern und Sündern zu Tisch saß und daß er feierte, statt zu fasten. Er hat sich damit nicht nur Freunde gemacht. In der heutigen Spaßgesellschaft scheint es auf den ersten Blick schwer vorstellbar, mit der Losung "Feiern statt Fasten" bei irgendwem anzuecken. Das gilt aber nur so lange, wie Christen lediglich die Mechanismen der Spaßgesellschaft bedienen und gewissermaßen ohne Sinn und Verstand feiern. Das hat überhaupt nichts zu tun mit dem Grad der Ausgelassenheit. Es hat aber sehr viel zu tun mit einem Bewußtsein davon, warum wir ein fröhliches Herz haben können im Angesicht der "großen Schrecken, die alle Welt bedecken". Wer nicht wegsieht, sondern hinsieht, wie soll der auf fröhliche Gedanken kommen - außer mit der zynischen Einstellung: "Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot" (Jesaja 22,13)? Wo nehmen Menschen die Freiheit her, zu feiern, statt zu fasten, Freudenlieder wie dieses herrliche "Jesus ist kommen, Grund ewiger Freuden" statt Trauergesänge anzustimmen? Die Quelle unserer Freude ist am letzten Ende nicht von dieser Welt. Gebe Gott, daß auch dieser Gottesdienst mit seinen biblischen Worten, seinen Liedern, seiner Musik, seiner Abendmahlsfeier, seinem Segenszuspruch die Gewissen tröstet, die Herzen fröhlich macht und den Mund singen läßt.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Weiter: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es ein Lob - darauf seid bedacht!

Amen.