„Woran du aber dein Herz hängst, das ist dein Gott“. Vortrag auf dem Kongress christlicher Führungskräfte „Mit Werten in Führung gehen“ in Leipzig

Wolfgang Huber

I.
Eine Umfrage bringt es an den Tag: Achtzig Prozent der Berufstätigen in Deutschland erwarten von ihren Vorgesetzten, dass sie ethische Werte vertreten. Nur wer das tut, ist ein glaubwürdiger Chef. Nur ein Fünftel also bringt diese Erwartung nicht zum Ausdruck. Legen diese zwanzig Prozent auf ethische Orientierung keinen Wert? Wohl kaum. Eher spricht daraus enttäuschte Hoffnung.
Die Hoffnungen der Menschen sind groß. Unternehmensethik ist ein Schlüsselthema unserer Zeit. Viele bemühen sich darum. Die großen Schlagzeilen, die sich an Prozesse in Düsseldorf oder Braunschweig anschließen, dürfen uns nicht den Blick verstellen. Viele Menschen versuchen, auch im wirtschaftlichen Handeln der Liebe zum Nächsten Raum zu geben und der Verantwortung für den Mitmenschen gerecht zu werden.

Aber immer wieder gibt es Situationen, in denen das nicht gelingt. Warum? Weil anderes wichtiger ist. Weil anderes zu unserem Gott wird. „Woran du nun ,sage ich, dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott.“

Martin Luther stellt mit diesem Satz aus dem Großen Katechismus die Führungsfrage. Sich der mit diesem Satz ausgesprochenen Wahrheitsfrage zu stellen, ist für jeden Menschen in Führungsverantwortung unausweichlich. Übrigens sind auch Medienschaffende und öffentliche Entertainer Menschen in Führungsverantwortung. Sie haben nämlich eine Vorbildfunktion, ob ihnen das bewusst ist oder nicht. Deshalb habe ich zu Dieter Bohlens Ausfälligkeiten in „Deutschland sucht den Superstar“ gesagt: „Wer Menschen verachtet, beleidigt Gott.“

Die Frage, woran ich mein Herz hänge, wer also mein Gott ist – diese Frage stellt sich für alle Menschen. Sie stellt sich auf besondere Weise für Menschen in Führungsverantwortung – sei es in der Kirche, sei es in Unternehmen, sei es in Parteien oder Gewerkschaften. Sie alle sind dazu gerufen, Führungsverantwortung zum Wohle der Menschen ausüben. Sie tun das dann am besten, wenn sie nicht nur in ihrem persönlichen , sondern auch in ihrem beruflichen Leben Gott die Ehre geben. 

Es gibt dafür keine bessere Grundorientierung als das Erste Gebot: „Ich bin der Herr, dein Gott; du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Und es gibt keine bessere Auslegung als diejenige, die Martin Luther in seinem Großen Katechismus gefunden hat: „Was heißt: ‚einen Gott haben’, beziehungsweise was ist ‚Gott?’ Antwort: Ein ‚Gott’ heißt etwas, von dem man alles Gute erhoffen und zu dem man in allen Nöten seine Zuflucht nehmen soll. ‚Einen Gott haben’ heißt also nichts anderes, als ihm von Herzen vertrauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, dass allein das Vertrauen und Glauben des Herzens etwas sowohl zu Gott als zu einem Abgott macht. Ist der Glaube und das Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht, und umgekehrt, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zusammen, Glaube und Gott. Worauf du nun, sage ich, dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott.“

Übrigens macht Luther den Sinn des Glaubens an den einen Gott gleich an der Gegenüberstellung mit einer Haltung deutlich, in der wir unser Herz an Geld und Gut hängen. „Es ist mancher, der meint, er habe Gott und alles zur Genüge, wenn er Geld und Gut hat; er verlässt sich darauf und brüstet sich damit so steif und sicher, dass er ahf niemand etwas gibt. Sieh, einer solcher hat auch einen Gott: der heißt Mammon. ... Das ist ja auch der allgemeinste Abgott auf Erden.“

So schreibt Luther im Jahr 1529 – ziemlich weitsichtig, finde ich. Noch andere Mächte nennt er ausdrücklich, die leicht zum Abgott werden können: „große Gelehrsamkeit, Klugheit, Gewalt, Gunst, Verwandtschaft und Ehre“. Doch in dieser eindrucksvollen Liste hat die Vergöttlichung von Geld und Gut, die Verehrung des Mammon, einen besonderen Rang. Aus guten Gründen, wie wir wissen; denn dem Menschen ist das Hemd näher als der Rock. Wir werden umso egoistischer, je näher es an den eigenen Geldbeutel geht. So nah, dass für manche der Kontoauszug zur Bibel, der Quartalsbericht zur Offenbarung, die Lektüre der Aktienkurse zur täglichen Andacht und das Portemonnaie zum Hausaltar wird. Für keinen Bereich brauchen wir dringender eine nüchterne Religionskritik als für diesen.

Doch wer aus der Kritik an einer Haltung, die das Geld zum eigenen Gott macht, auf eine grundsätzliche Distanz zur Wirtschaft schließt, unterliegt einem Fehlschluss. Im Gegenteil: Es geht gerade darum, Wirtschaft als menschliche Tätigkeit zu achten und die Verantwortung ernst zu nehmen, die sich daraus ergibt. Es geht darum, Gott Gott und das Geld Geld sein zu lassen. Der eine ist der Herr, das andere ist ein Mittel. Und es geht darum, auf diesem Hintergrund die Führungsverantwortung wahrzunehmen, die sich in jedem Bereich menschlichen Handelns stellt: in der Wirtschaft wie in der Kirche, aber auch in der Politik wie in den Medien.

II.
Ich frage zunächst so herum: Was kann die Kirche von der Wirtschaft lernen?

Kann die Kirche denn überhaupt von der Wirtschaft lernen? Und soll sie es? Der Widerspruch dagegen ist deutlich zu hören. „Das Evangelium wird zur Ware“ – mit diesen Worten hat Joachim Perels die jüngsten Reformanstrengungen innerhalb der EKD kritisiert. Woran stören sich Perels und andere Kritiker?

In dem Impulspapier der EKD mit dem Titel „Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“ zählen wir das „Lernen von wirtschaftlichem Denken“ ganz explizit zu den „Aufbrüchen in der evangelischen Kirche“. Im Anschluss an ein Zitat aus dem 1. Thessalonicherbrief sagen wir: „Unternehmerische, betriebswirtschaftliche und marketingorientierte Methoden und Einsichten werden auch in den Kirchen aufgegriffen gemäß dem paulinischen Grundsatz, alles zu prüfen und das Gute zu behalten.“ Das drückt sich an manchen Stellen auch bewusst in der Sprache aus, die wir verwenden. So ist beispielsweise die Rede von einem „Marktverlust im Bereich des Kerngeschäfts“, von „Qualitätsmanagement“ oder von „Benchmarking für alle Bereiche kirchlichen Handelns“.

Aber es geht nicht nur um Worte, es geht um die Sache. Es geht nicht nur darum, solche Begriffe zu verwenden, sondern sie anzuwenden. Wenn es beispielsweise um die bewusste Gestaltung der Vielfalt evangelischer Gemeindeformen geht, wird eben nicht nur darauf hingewiesen, dass diese oder jene Form „ein Schatz der evangelischen Kirche“ ist, sondern auch ein ganz konkretes Ziel formuliert: „Geht man davon aus, dass gegenwärtig etwa 80 Prozent der Gemeinden rein parochialer Struktur sind, dass es etwa 15 Prozent Profilgemeinden (z.B. City-, Jugend- oder Kulturkirchen) gibt und nur etwa 5 Prozent der Gemeinden auf netzwerkorientierten Angeboten beruhen (z.B. Akademiegemeinden, Tourismuskirchen oder Passantengemeinden), dann sollte es ein Ziel sein, diese Proportion [bis zum Jahr 2030] zu einem Verhältnis von 50 Prozent zu 25 Prozent zu 25 Prozent weiterzuentwickeln“.

Dass eine solche Sprache manchem in der evangelischen Kirche fremd ist, kann ich nachvollziehen. Doch solche Überlegungen machen das Evangelium nicht zur Ware. Man kann die von uns vorgeschlagene stärkere geistliche Ausrichtung unserer Kirche nicht gegen eine Pflicht ausspielen, die Jesus selbst so beschreibt: „Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.“ Oder zu deutsch: Bleibt der Wahrheit des Evangeliums verpflichtet. Und lernt, wo ihr könnt, wie ihr das Evangelium unter die Leute bringt. Man kann auch nicht die geistlichen Fundamente kirchlichen Wirkens in einem Widerspruch dazu sehen, dass der Einsatz der Mittel, die der Kirche zur Verfügung stehen, rational erfolgt und die Wirksamkeit des Mitteleinsatzes überprüft wird. Die Frage ist doch berechtigt, ob uns denn eine Ignoranz gegenüber den in der Wirtschaft geläufigen Methoden von Führung und Steuerung weiterbringt. „Prüft alles und behaltet das Gute.“ Wer prüfen will, muss wenigstens zur Kenntnis nehmen, was anderswo geschieht. 

Joachim Perels bemerkt in seiner Kritik am Impulspapier der EKD: „Das Papier orientiert sich in starkem Maße an Kriterien, die Beraterfirmen an Industrieunternehmen oder staatliche Einrichtungen anlegen, um deren Effizienz zu steigern.“ Schon das ist nicht richtig. Die Orientierung an solchen Kriterien ist nämlich kein Selbstzweck, sondern wird in den Dienst von Zielen gestellt, die sich aus dem Auftrag der Kirche ergeben: die geistliche Profilierung, die an der Verkündigung des Evangeliums ihr Maß hat; die Schwerpunktsetzung, die wir brauchen, wenn dieses Evangelium die Menschen erreichen soll; die Beweglichkeit in den Formen, wenn wir den Menschen in ihrer Lebenssituation gerecht werden wollen; die Außenorientierung, die unserem missionarischen Auftrag entspricht. Deshalb ist es falsch, aus der Übernahme solcher Kriterien zu schließen (und ich zitiere noch einmal Joachim Perels), dass „der Wert kirchlicher Arbeit, dessen theologisch zu begründender Inhalt – die Verkündung des Evangeliums – nicht in den Blick genommen wird.“

Alles Planen in der Kirche hat davon auszugehen, dass das Evangelium, die frohe Botschaft Gottes, für uns Menschen unverfügbar ist. Gott selbst es ist, der seine Kirche und ihre Arbeit schützt und erhält. Gottes Geist wirkt, wo und wann er will. Wen der Geist Jesu ergreift und wie das geschieht, hat niemand von uns in der Hand. Aber, es ist schlichtweg verfehlt, aus dieser Einsicht zu schließen, wir Christen könnten die Hände ruhig in den Schoß zu legen und auf eigenes Handeln zu verzichten. „Und mag die Welt auch noch so brausen, wir wollen hier im Stillen hausen.“ Das ist nicht gerade eine überzeugende Folgerung aus der Botschaft von der Rechtfertigung des gottlosen Menschen.

Das  Gleichnis von den anvertrauten Pfunden gehört für mich zu den für diesen Zusammenhang wichtigsten biblischen Texten (Matthäus 25,14-30). Es spricht genau genommen, von den anvertrauten „Talenten“. Dass mit diesem Wort in unserer Sprache nicht mehr eine Maßeinheit, sondern eine Gabe, eine Begabung bezeichnet wird, hat in diesem Gleichnis seinen Grund. Sie kennen dieses Gleichnis: Vor einer längeren Reise vertraut ein wohlhabender Herr seinen drei Knechten eine bestimmte Menge Geld an; die Knechte verfahren damit sehr unterschiedlich. Derjenige, der fünf Zentner Silber hatte, „handelte mit ihnen und gewann fünf weitere dazu.“ Auch der mit zwei Zentnern gewann zwei dazu. Der Knecht aber, der einen Zentner Silber erhalten hatte, vergrub ihn und gab ihm dem zurückgekehrten Herrn ohne Vermehrung wieder zurück. Während er von seinem Herrn als unnütz verstoßen wird, machen die anderen dem Herrn große Freude und er betraut sie mit weiteren Aufgaben.

Führung heißt zunächst: mit den eigenen Gaben etwas anfangen. Lassen Sie uns etwas aus dem machen, was uns anvertraut ist! Lassen Sie uns unsere Gaben, unser Geld und unsere Fähigkeiten einsetzen! Wir wollen nicht nur das, was wir in unserer Kirche heute haben, bewahren, sondern wir wollen es vermehren, wollen wachsen – auch gegen den Trend. Dabei geht es nicht um Selbstbehauptung, sondern um die Verkündigung des Evangeliums. Es geht darum, zukünftigen Generationen möglichst gute Voraussetzungen für diese Verkündigung des Evangeliums zu vererben. Das können wir nur, wenn wir diese Voraussetzungen heute strukturell sichern. Wir wollen mit den uns anvertrauten Talenten „wuchern“. Wir wollen das Evangelium unter die Leute bringen und, wie die Barmer Theologische Erklärung gesagt hat, „die Botschaft von Gottes freier Gnade ausrichten an alles Volk“. Deshalb wollen wir den „Marktverlust im Bereich des Kerngeschäfts“ wieder wettmachen; wir wollen, dass Menschen vermehrt in unsere Gottesdienste kommen. Ja, wir wollen ein aktives „Qualitätsmanagement“, damit jeder Christ und jede Christin den Gottesdienst der eigenen Gemeinde von ganzem Herzen und mit ganzem Verstand im Freundeskreis empfehlen kann, weil dieser Gottesdienst mit Liebe und Sorgfalt vorbereitet und gefeiert wird. Ja, wir wollen ein tragfähiges „Benchmarking in allen Bereichen kirchlichen Handelns“, um durch vergleichbare Kennziffern für vergleichbares Handeln die wirklich notwendigen Kosten kirchlicher Leitungsstrukturen zu ermitteln. Das alles wollen wir – und dafür brauchen wir Menschen, die wissen, wie so etwas geht.

Aber Sie wissen selbst, dass wir hier offenkundig ein Spannungsfeld betreten, wenn wir uns auf das Verhältnis zwischen dem Kirche und dem christlichen Menschenbild auf der einen Seite und der Wirtschaft auf der anderen Seite einlassen. Jeder Christ, der in der Kirche oder in der Wirtschaft Verantwortung wahrnimmt, weiß das aus dem eigenen Leben und Erleben – und die, die beides tun, wissen es am besten.

III.
Und damit komme ich zu der anderen Seite meiner Frage: Was kann die Wirtschaft von der Kirche lernen?

Auch im Bereich der Wirtschaft gibt es Menschen, die schon diese Frage für unsinnig halten, weil sie es ablehnen – oder aufgegeben haben – , von der Kirche lernen zu wollen. So wie im Blick auf politisches Handeln gesagt wurde, mit der Bergpredigt könne man keine Politik machen, sagen sie, dass man mit der Nächstenliebe nicht wirtschaftlich erfolgreich sein kann. Sie kennen vermutlich alle die berühmten Sätze von Adam Smith, nach denen wirtschaftliches Handeln durch das Interesse der Menschen an wirtschaftlichem Gewinn geleitet sein soll und nicht durch höherwertige Werte, wie zum Beispiel den der Nächstenliebe. Smith nennt das Beispiel des Bäckers, der nur deswegen für uns gute Brötchen backt, weil er selbst etwas davon hat, und nicht, weil er dies aus Nächstenliebe tut. Diese These von Adam Smith ist oftmals zur Legitimation einer reinen Interessenorientierung, sprich: der Legitimierung von Egoismus, Gier und Neid herangezogen worden. Das kann dazu führen, dass Geld und Reichtum nicht mehr als Mittel, sondern eben als Selbstzweck in der Wirtschaft gefeiert werden. Seinen Ausdruck findet dieses Denken heute in der Fixierung auf wirtschaftliches Wachstum als solches, das allein die Probleme, vor denen wir stehen, lösen soll.

Das christliche Menschenbild ist realistisch genug um anzuerkennen, dass Menschen durch mehr als nur durch Liebe angetrieben sein müssen, wenn sie dauerhaft gute Leistungen bringen sollen und wollen. Doch das heißt eben, dass nach Verbindungen zwischen Leistungsmotivation und Nächstenliebe, zwischen Eigennutz und Gemeinwohl gesucht werden muss. Wirtschaftliches Handeln kommt ohne Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft, ja Empathie nicht aus. Das kann man unschwer erkennen, wenn man sich mit den Bemühungen von Unternehmen um ihre Corporate Identity beschäftigt. Es gibt nach meiner festen Überzeugung kein Unternehmen, das nur auf Grundlage des Eigeninteresses der Beteiligten überleben könnte. Unternehmen, die nur auf kurzfristige Gewinnerzielung setzen, sind ganz schnell auf der Verliererseite. Und kein Unternehmen in der Welt kann wirklich überleben, wenn es alle schlechten Charaktereigenschaften der Menschen in sich selbst freisetzt oder gar noch kultiviert: dann zerfällt es, weil sich das Vertrauen zersetzt, das für dauerhafte Arbeitsprozesse unabdingbar ist.

Und deshalb kommt es ganz besonders auf die Werte an, die die Führungskräfte in den Unternehmen vertreten und mit denen sie diese leiten. Die  von Ulrich Hemel unlängst veröffentlichte Ethik für Manager vertritt dazu folgende Grundthesen: Persönliche Verantwortung ist für Unternehmer und Manager unverzichtbar. Ethische Orientierung enthält einen langfristigen Mehrwert auch für den wirtschaftlichen Erfolg. So wie Professionalität, etwa im Bereich von Strategie und Wertschöpfung, in sich selbst eine eminent ethische Forderung ist, so ist auch umgekehrt ein ausgeprägtes ethisches Bewusstsein Teil der unternehmerischen Professionalität.

In diesen Wochen haben wir uns an das Seebeben im Indischen Ozean vor zwei Jahren erinnert. Die erschütternden Folgen des Tsunami haben uns damals gelehrt, dass aus wirtschaftlichen Beziehungen auch moralische Verpflichtungen erwachsen. Die Tatsache, dass wir in einer globalisierten Welt leben, ist uns nicht nur in ihrer ökonomischen Bedeutung vor Augen getreten. Sondern wir haben gespürt: Das hätte uns allen passieren können. Deutlicher hätte man es kaum vor Augen führen können: Wer global handeln will, muss auch global fühlen. Wir brauchen in unserer Welt nicht nur eine Globalisierung der Märkte, sondern auch eine Globalisierung des Herzens, nicht nur eine Globalisierung wirtschaftlichen Denkens, sondern auch eine Globalisierung der Solidarität.

Das elementarste moralische Gebot tritt uns in solchen Situationen anschaulich vor Augen. Es ist die „Goldene Regel“, die Regel der Wechselseitigkeit. Sie ist weltweit verbreitet; in der biblischen Fassung lautet sie: „Was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“ (Matthäus 7, 12). Es handelt sich um eine praktische Handlungsanweisung, die aus dem Geist der Wertschätzung für den anderen Menschen entspringt. Wertschätzung des andern Menschen bedeutet: Dieser Mensch, jeder Mensch, ist für mich mehr als nur von ökonomischem Wert. Er hat vielmehr eine Würde, die über allen ökonomisch messbaren Wert hinausgeht. Oder, um ein oft zitiertes Wort Jesu für unser Thema abzuwandeln: Der Mensch ist nicht um der Wirtschaft willen da, sondern die Wirtschaft ist um des Menschen willen da. So einfach setzt sich das Gebot der Nächstenliebe in einen Grundansatz unternehmerischen Handelns um.

Die Online-Untersuchung „Perspektive Deutschland“ hat gezeigt, dass Mensche, die im Glauben verwurzelt sind, ihr Leben und an die gesellschaftlichen Probleme mit einem besonders ausgeprägten Maß an Zuversicht bewältigen. In ihrer Lebenshaltung verbinden sich Zuversicht, Leistungsbereitschaft und prosoziales Verhalten. Nur in einer Randbemerkung will ich darauf hinweisen, dass darin für die Personalführung ohne Zweifel günstige Voraussetzungen liegen.

Ebenso nachdrücklich ist allerdings zu betonen, dass eine Überforderung der Menschen und eine einseitige Bevorzugung der besonders Leistungsfähigen vermieden werden muss. Der Arbeit sind durch den Sonntag und durch andere Regelungen Grenzen gesetzt, die zum Wohle des Menschen einzuhalten sind. Deshalb überlegt die Evangelische Kirche in Deutschland derzeit, ob sie Klage einreicht gegen die Aushöhlung des Sonntagsschutzes, wie sie gegenwärtig am rücksichtslosesten in Berlin betrieben wird. Wir sagen deutlich: Es ist nicht im Wohle der Menschen, zehn oder mehr Sonntage im Jahr verkaufsoffen zu gestalten und dabei auch die Adventssonntage nicht auszusparen!

Ich halte es für falsch, eine Ökonomisierung der Kultur zu betreiben; stattdessen brauchen wir eine Kulturalisierung der Ökonomie. Wirtschaftliches Handeln muss wieder als kulturelles Handeln begriffen werden, das Sinn und Verstand erhält durch die ihm zugrunde liegenden geistigen – und geistlichen – Entscheidungen. Wo nur noch gerechnet wird und wo nur noch Zahlen alles dominieren, ist eine sinnvolle Orientierung menschlicher Arbeit nicht mehr möglich. Wer dies tut, muss sich von Martin Luther daran erinnern lassen, dass er in der Gefahr steht, gegen das erste Gebot zu verstoßen. Denn „woran du aber dein Herz hängst, das ist dein Gott“ – und wer sein Herz an die Zahlen hängt, für den werden diese Zahlen zu Göttern.

Das gilt gerade angesichts der gewaltigen Herausforderungen vor denen wir heute stehen. Dazu gehört vor allen Dingen die Frage, in welche Richtung sich die Weltwirtschaft in Zukunft entwickeln wird. Wird sich das europäische und insbesondere deutsche Modell einer sozial verantworteten Wirtschaft, die im Kern nach wie vor auf persönlicher Zurechenbarkeit von Verantwortung, sei es im Kapitalbesitz oder bei Managern basiert, als überholt erweisen? Oder wird sich das wirtschaftliche Handeln immer mehr und immer deutlicher abhängig von den großen, die Welt umkreisenden Finanzkapitalfonds? Wird die Wirtschaft einen Realbezug zu den Menschen, zu dem Land, zu den Räumen und Zeiten behalten, in denen sie sich vollzieht? Oder wird sie immer abstrakter sein und das Maß des Menschlichen nur als einen Faktor, als ein notwendiges Übel, berücksichtigen? Werden wir weiterhin politisch, kulturell und vom christlichen Glauben her Wirtschaft gestalten können? Oder werden wir uns von ihr gestalten lassen? Dies sind nur einige Fragen, die uns alle heute bewegen. Sie können nur beantwortet werden, wenn sich die Effizienz unseres Wirtschaftssystems mit einer klaren Wertorientierung verbindet, und zwar im gesamten Wirtschaftssystem wie in den einzelnen Unternehmen und bei den einzelnen Mitarbeitern. Eine neue Synthese von Effizienz und Sinn wird nicht nur langfristig klug, sondern auch von Vorteil für alle sein.

Schließen möchte ich mit einem erneuten Zitat aus dem Großen Katechismus. Luther beendet seine Auslegung des ersten Gebots mit den Worten:

„Darum lasset uns das erste Gebot gut lernen, damit wir sehen, wie Gott keine Vermessenheit und kein Vertrauen auf irgend ein anderes Ding dulden will und nicht Höheres von uns fordert als eine herzliche Zuversicht, die alles Gute von ihm erwartet. Wir sollen richtig und stracks unseres Weges gehen und von allen Gütern, die Gott gibt, keinen weiteren Gebrauch machen, als wie  ein Schuster Nadel, seine Ahle und Draht zur Arbeit gebraucht und sie nachher weglegt, oder wie ein Gast die Herberge, die Verpflegung und das Lager nur für die zeitweiligen Bedürfnisse benützt. So halte es jeder in seinem Stand nach Gottes Ordnung, und lasse nur nichts davon seinen Herrn oder Abgott sein. ... Wo das Herz gut mit Gott im reinen ist und dieses Gebot gehalten wird, da folgt die Erfüllung aller anderen von selbst.“
Wenn jeder in seinem Beruf Nadel, Ahle und Draht auf diese Weise recht gebraucht, gehen wir wirklich „mit Werten in Führung“.