Morgenandacht beim Zukunftskongress
Landessuperintendentin Oda-Gebbine Holze-Stäblein
Wer die Jahreslosung für das Jahr 2007 ausgewählt hat, muss prophetische Gaben gehabt haben. Ich kann mir jedenfalls für unser Vorhaben hier in Wittenberg keine passendere denken als dieses Wort Jesaja 43, 19a, das viele von Ihnen sicher schon kennen:
„Gott spricht: Siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?“
„Jetzt wächst es auf“: Frühlingsgrün kommt diese Losung auf den ersten Blick daher. Kein Wunder, dass den Illustratoren als Symbol für ihren Gehalt Pflanzliches eingefallen ist. Und ich gestehe, mir hat dieses Poster auf Anhieb gefallen: der sattblaue Himmel mit einem Frühlingsvollmond und darunter dieses endlose, bis über den Horizont reichende Saatfeld, genau so sattgrün, wie der Himmel blau ist. Da geht einem doch das Herz auf vor Lust auf einen solchen Frühling!
Haben wir es also mit dem Walten Gottes in der Natur zu tun in dieser Jahreslosung? Wir wollen sehen. Wir hören Jesaja 43, 16-17.
So spricht der Herr, der im Meer einen Weg und in starken Wassern Bahn macht, der ausziehen lässt Wagen und Rosse, Heer und Macht, dass sie auf einem Haufen daliegen und nicht aufstehen, dass sie verlöschen, wie ein Docht verlöscht:
Nein, es geht nicht um den Trost, den der winterliche Mensch aus dem Anblick eines grünen Saatfeldes schöpfen kann. Hier redet der Gott, der sich in der Geschichte als Sachwalter und Befreier, ja, als Schöpfer seines Volkes erwiesen hat. Am Schilfmeer war’s. Da hat er ihnen einen Weg durch das Meer gebahnt. Da hat er sie aus Todesnot gerettet und ihre Verfolger dem Verlöschen preisgegeben. Fast könnte man sagen: Sie alle sind wie Mose aus dem Wasser gezogen worden. Die Existenz des Gottesvolkes verdankt sich dieser Rettungstat am Anfang.
Aber jetzt sitzen sie in Babylon im Exil und sind selber wie verglimmende Dochte. Jetzt fragen sie: Was soll uns das, was war, wenn uns jetzt kein Retter erwächst? Der alte Glaube an die alten Heilstaten Gottes: Was soll er uns noch, wenn er uns jetzt nicht über Wasser hält?
Und wir? Was ist unser ‚Babylon’, unser Exil? Die Pegelstände des alten Glaubens sinken unaufhörlich. Es ist absehbar, dass wir bald auf dem Trockenen sitzen. ‚Aber das kann doch nicht sein’, sagen wir. Seit Jahrhunderten haben wir doch Glauben gesät und das Land bewässert. Ja, wir schwammen doch in einem Meer an Kirchlichkeit und religiöser Sitte.
Aber nun, da das Wasser des alten Glaubens fällt, kommt Erschreckendes zutage: Entfremdung, erbarmungswürdige Unkenntnis, Verwirrung der Geister, leere, hungrige Seelen bei vollen Tellern und Schränken und viel wunderliches Zeug, woran Menschen ihr Herz hängen und das sie zu ihrem Gott machen. Hat es in diesem Land wirklich mal eine Reformation, in dieser Stadt mal einen Martin Luther, einen Philipp Melanchthon gegeben? Es ist ja fast, als hätte Jahrhunderte lang die Kirche nicht gesät und bewässert, sondern leeres Stroh gedroschen!
Es ist etwas abhanden gekommen: Der Glaube, sagen wir und meinen vielleicht die Glut, die aus der Liebe kommt. Liebe zu Gott. Das Herzbrennen. Das Ergriffensein. Wir sind darüber traurig und auch wütend, auch voller Angst. Wie trocken soll es denn noch werden! Bleibt am Ende wirklich nichts als Bruchstücke von Erinnerungen, ein paar Scherben, die niemand mehr zuordnen kann: Ein Schilfmeer - ein Kreuz und ein Ostermorgen - „Ein feste Burg“ - ein paar heilige Namen, Räume und Gesten? Ein „Befiehl du deine Wege“ - ja wem denn? Und am Ende alles reduziert auf das unverwüstliche Weihnachten?
Unvermutet fällt Gott denen ins Wort, die in der Asche des verlöschenden Glaubens stochern und wenigstens Funken erzeugen möchten - wer mag denn an ganze Leuchtfeuer denken!
Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! (V.18)
Was für eine Zumutung! Will etwa Gott selber den Traditionsabbruch, der damals denen in Babylon und uns heute so zu schaffen macht? Sollen die großen, die „gefährlichen Erinnerungen“, aus denen immer wieder der Funke des Glaubens übersprang, gelöscht werden? Will er selbst seine Heilstaten ungeschehen machen?
Sicher nicht. Nichts von dem, was in der Vergangenheit dem Ursprungsgottesvolk Israel und uns als den Hinzugekommenen zur Rettung gedient hat, soll sein, als wäre es nie geschehen. Es gilt, was Paul Gerhardt so gesagt hat:
Alles vergehet, Gott aber stehet
ohn alles Wanken, seine Gedanken,
sein Wort und Wille hat ewigen Grund.
Sein Heil und Gnaden, die nehmen nicht Schaden,
heilen im Herzen die tödlichen Schmerzen,
halten uns zeitlich und ewig gesund.
(EG 449,8: Die güldne Sonne)
Das gilt. Aber vielleicht ist für uns jetzt anderes dran als uns immer wieder über den tiefen Brunnen der Vergangenheit zu beugen und das Wasser des Lebens nur aus ihm zu schöpfen. Vielleicht sagt Gott heute so: ‚Seid unbesorgt. Nichts geht verloren. Ich bewahre das Gestern für euch in meinem Gedächtnis. Das ist meine Treue, auf die könnt ihr euch verlassen. Ihr könnt die Dosis an Erinnerung und Tradition durchaus verringern; ihr kommt mit weniger aus. Ich brauche euch jetzt für das Heute und Morgen.’ Und nun der Vers, der wie ein Diamant in der Mitte des Abschnitts funkelt, diese Jahreslosung:
Denn siehe, ich will Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?
Drängend, fast ungeduldig kommt das Wort daher. ‚Wo habt ihr denn eure Augen? Schaut doch mal genau hin! Ihr steht doch schon längst mit euren Füßen auf einem Boden, aus dem es hervorschießt und sprosst und wächst!’ Aus der Tiefe, von unten lässt Gott Neues wachsen. Und die folgenden Verse nehmen unsere Augen mit in eine Zukunftsschau, eine Vision Gottes, nehmen uns mit in seinen Traum von dem, was sein soll.
Auch in die Wüste setze ich einen Weg, in die Einöde Ströme, das Wild des Feldes wird mich verehren, Schakale und Strauße (Übersetzung Martin Buber); denn ich will in der Wüste Wasser und in der Einöde Ströme geben, zu tränken mein Volk, meine Auserwählten; das Volk, das ich mir bereitet habe, soll meinen Ruhm verkündigen.
(V. 20-21)
Vision ist fast zu wenig für das, was hier steht. Augenweide und Ohrenschmaus ist das! Wo Wüste war, wird Weg sein. Wo Trockenheit war, wird Wasser strömen. Wir können es hören, das Rauschen von Bächen und Flüssen! Wo ungestillter Durst war, da werden Mensch und Tier satt. Da lebt, ja, da blüht das Land und mit ihm das Gottesvolk auf! Da werden die ausgedörrten Münder, die rissigen Lippen so feucht und fröhlich, dass man wieder singen, rühmen und Gott loben kann. - Damals, am Schilfmeer, als er einen Weg durch das Wasser bahnte, das war schon groß. Aber was kommen soll, ist fast noch größer: Eine Wüste zum Ort machen, an dem das Leben blüht! - Das ist noch nicht das wieder gefundene Paradies; aber schon werden Wildtiere und Gottesvolk in einem Atemzug genannt: Das lässt ahnen, dass es diesem Gott um den Schalom, den Frieden aller Kreatur geht.
Übersetzt man die Poesie dieser Vision in die Prosa der Geschichte, so kann man sagen: Dies ist eine Art Marschbefehl aus dem Exil in die neue Freiheit, der Auftakt zum Nach-Hause-Kommen. Dieser Weg ist wohl kein Triumphmarsch gewesen, und der Aufbau des Landes und der Stadt Jerusalem war voll von den „Mühen der Ebene“. Gottes Verheißungen und Visionen sind Anschubfinanzierungen, nicht mehr und nicht weniger.
Was ist unser Weg ins Freie, unsere ‚blühende Landschaft’? Wovon dürfen wir träumen? In diesem Vers der Jahreslosung ist vieles anders als früher: Der Heilige Geist kommt diesmal nicht wie damals, Pfingsten, Feuerflammen gleich vom Himmel. Der Heilige Geist trägt diesmal Grün; viele Halme bilden ein Feld, und es wächst zwar von unten nach oben, aber es wird kein Kirchturmbau von Babel daraus. Über Menschenmaß hinaus geht es nicht, und das hat Jesus Christus gesetzt. Da wächst ein Gemeinschaftswerk heran, eine Kirche mit horizontaler Weite statt Vertikalkultur. Da fließen die Sehnsüchte nach Gott zusammen in einer Kirche, in der uns das Herz aufgeht. Es wird noch Türme geben, deutende Zeigefinger nach oben. Aber genau so deutlich wird die Kreuzform unserer alten Kirchen zum Zeichen werden: ein liegender Mensch mit ausgebreiteten Armen, zum Himmel geöffnet. Das Leiden ist in dieses Leben hineingezeichnet als ein Ort Gottes, mit einem Namen und einem Gesicht und erreichbar. - Diese Kirche wird nicht mehr viel Blattgold aufzutragen haben. Pomp und circumstances werden bescheiden ausfallen. Ein eher erdfarbenes Gottes- und Menschenhaus wird sie sein, eine begehbare Hütte Gottes bei den Menschen.
Wir werden an der Kirche von morgen in den nächsten Tagen arbeiten, phantasieren, träumen und um sie streiten. Und in alledem gilt schon jetzt: Jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? Wir selber, ja, auch wir, wie wir hier versammelt sind, sind Sprösslinge, und vielleicht ist diese ganze Versammlung eine Art Versuchsfeld, und Gott ist sehr gespannt auf das, was uns gelingen wird. Es liegt was in der Luft. Nicht Frust, sondern neue Lust und Liebe, Christen und Kirche zu sein, neue Wege zu gehen. Wir spüren es an der Ungeduld um uns und in uns. Auch an der Aufmerksamkeit und den Diskussionen, die die Leuchtfeuer entfachen. Es lässt uns und andere nicht kalt, was mit dieser Kirche sein wird, und das ist fast eine protestantische Liebeserklärung. Und allen, die uns den Wandel noch nicht zutrauen, sollten wir sagen: Haltet uns nicht auf; der Herr hat Gnade zu unserer Reise gegeben! (1. Mose 24, 56)
Das letzte Wort hat Angelus Silesius. Es stammt aus dem 17. Jahrhundert, aber es könnte von heute sein:
Blüh auf, gefrorner Christ, der Mai steht vor der Tür.
Du bleibest ewig tot, blühst du nicht jetzt und hier!
Amen