"Dietrich Bonhoeffer – ein evangelischer Heiliger?" - Vortrag im Ateneo Sant’Anselmo, Rom

Wolfgang Huber

1.

„Ungeheures Getriebe auf den Straßen, Autos in rasendem Tempo, Ausschreier, bei deren Rufen man an furchtbare Hilferufe denkt“ – so beschreibt der achtzehnjährige Dietrich Bonhoeffer im April 1924 Rom. Und dann taucht in dieser Beschreibung zum ersten Mal das Wort „heilig - santo“ auf. Es ist zwar nicht das „Santo subito“, das ich selbst vor zwei Jahren beim Requiem für Papst Johannes Paul II. auf Roms Straßen hörte, aber doch immerhin „Santo“. Bonhoeffer schreibt in sein Tagebuch: „Kinder mit ihrem ‚Santo’. Ein Kind wirft eine Kupfermünze in die Luft, ruft ‚Santo’, lupft die Mütze und hofft auf einen guten Ausgang des Wurfes. Je nach der oben liegenden Seite gehört die Münze ihm oder dem Mitspieler.“

Dietrich Bonhoeffer, der junge evangelische Theologiestudent, hatte von seinen Eltern die Möglichkeit zu einer italienischen Reise erhalten. Daraus wurde nicht nur deshalb ein Bildungserlebnis, weil Geschrei und Verkehr in Rom sogar den verwirren konnten, der, wie Bonhoeffer ausdrücklich vermerkt, aus Berlin kam. „Das Schlimmste“, so fügte er vor 83 Jahren hinzu, „sind die Autos in den engen winkligen Straßen.“ Ein Bildungserlebnis war diese Reise vielmehr deshalb, weil der junge Protestant zum ersten Mal dem katholischen Ritus und in ihm der katholischen Kirche begegnete. Von einem Gottesdienst in Trinità dei Monti mit 40 Novizinnen bemerkt er, „dass der Ritus nicht mehr nur Ritus war, sondern Gottesdienst in wahrem Sinn.“ Von diesem Erlebnis bleibt ihm  „ein unerhört unberührter Eindruck tiefster Frömmigkeit.“ Und es ist dieser Tag, an dem ihm zum ersten Mal „etwas Wirkliches vom Katholizismus aufging“. Und dann heißt es: „Ich fange, glaube ich, an, den Begriff ‚Kirche’ zu verstehen.“ Tage lang ging er nicht nur nach St Peter, wo er die Gottesdienste der Karwoche erlebte, sondern auch nach Sta Maria Maggiore, nicht so sehr aus kunstgeschichtlichem Interesse, sondern „um kirchliches Leben zu beobachten“.

„Ich fange an, den Begriff ‚Kirche’ zu verstehen.“ Die beiläufig klingende Bemerkung ist in Wahrheit eine Weichenstellung. Die Wirklichkeit der Kirche wird, in Rom beginnend, für lange Zeit zum bestimmenden Thema der Theologie Dietrich Bonhoeffers. Wenige Jahre später wird der Einundzwanzigjährige der Theologischen Fakultät in Berlin eine Doktorarbeit vorlegen, die den Titel trägt: „Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche.“ Und seine erste akademische Vorlesung wird bald darauf den Titel tragen: „Das Wesen der Kirche“. Die Kirche ist für Bonhoeffer das Vorzeichen vor der Klammer jeder richtigen Theologie. Mit den vierzig Novizinnen und ihrem Gesang in Trinitá dei Monti hat das begonnen. Und mit dem „Santo“ der Kinder.

Der Begegnung mit dem römischen Katholizismus verdanken wir eine der markantesten Ausarbeitungen eines evangelischen Kirchenverständnisses im 20. Jahrhundert. Das mag ein Grund dafür sein, in Rom über Dietrich Bonhoeffer zu sprechen, dessen hundertsten Geburtstag wir im vergangenen Jahr und dessen sechzigsten Todestag wir im Jahr zuvor begangen haben. Aber ein „evangelischer Heiliger“? Als ich diesen Gedanken an Dietrich Bonhoeffers 100. Geburtstag in seiner Geburtsstadt Breslau zum ersten Mal vortrug, erntete ich gleich Widerspruch. Albrecht Schönherr, selbst ein Schüler Bonhoeffers und mein Vorgänger im Berliner Bischofsamt, konterte mit einem Zitat aus einem der Briefe Bonhoeffers, der von einem Gesprächspartner berichtete: „Er wollte ein Heiliger werden“ – und von sich selbst sagte: „Ich wollte glauben lernen“. Die Rede von Dietrich Bonhoeffers als einem evangelischen Heiligen geschehe, so wollte Schönherr damit sagen, wider dessen eigenen Willen. Freilich fragte ich mich, als ich diesen Einwand hörte, ob wohl jemand, der selbst ein Heiliger sein will, das wohl jemals werden wird.

Dabei war ich keineswegs der erste, der Bonhoeffer als einen Heiligen bezeichnete. Rechtzeitig vor der 95. Wiederkehr von Dietrich Bonhoeffers Geburtstag vor nunmehr sechs Jahren, wandte sich ein mutiger und weitsichtiger Historiker, Klemens Klemperer, an den Heiligen Stuhl mit der Anregung, Dietrich Bonhoeffer selig oder gar heilig zu sprechen. Freundlich war die Antwort aus dem Vatikan; doch sie erklärte zugleich unumwunden, dass dies nicht möglich sei.

Aber der Ökumenische Heiligenkalender führt ihn selbstverständlich unter den Heiligen an  und behauptet, nach evangelischem wie nach anglikanischem Brauch sei ihm der 9. April, der Tag seines Todes, als Gedenktag gewidmet. Christian Feldmann ordnet Dietrich Bonhoeffer in seinem Hausbuch großer Gestalten und Heiligen für jeden Tag ebenfalls – und zwar ökumenisch konkurrenzlos – dem 9. April zu. Ihm folgt am 10. April Pierre Teilhard de Chardin. Am 7. und 8. April gehen ihm Johann Hinrich Wichern und Abraham Lincoln voraus. Eine Reihe von großen Gestalten und Heiligen mit eigener Spannweite ist das. Über dem Westportal von Westminster Abbaye finden wir Dietrich Bonhoeffer als einen unter zehn herausragenden Glaubenszeugen des 20. Jahrhunderts. Dort steht er neben Maximilian Kolbe, Janani Luwum, Martin Luther King, Oscar Romero, Esther John und anderen; 1998 wurden diese Statuen enthüllt.

Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Aber war Bonhoeffer ein Märtyrer, ein Heiliger? Dass er ein Gerechter unter den Völkern sei, hat die Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust in Jerusalem, Yad Vashem, seit 1986 kontinuierlich bestritten, vor wenigen Jahren sogar mit höchstrichterlicher Bestätigung.

Als entscheidendes Kriterium gilt nach dem Gesetz des Staates Israel über Yad Vashem, dass jemand sein Leben aufs Spiel gesetzt habe, um Juden zu retten. Bei Diplomaten allerdings genügt es, dass sie gegen die Anweisungen ihrer Regierung verstießen, auch wenn dadurch ihr Leben nicht gefährdet war. Ein Diplomat war Dietrich Bonhoeffer nicht; dieser mildernde Umstand lässt sich für ihn nicht geltend machen. In bestimmten Fällen freilich kann auch der öffentliche Widerspruch gegen die Verfolgung der Juden als Grund dafür gelten, in diese Kategorie aufgenommen zu werden. Bonhoeffer rechnete, wie sein Aufsatz über die Kirche vor der Judenfrage vom April 1933 bezeugt, schon unmittelbar nach dem Beginn des nationalsozialistischen Regimes damit, dass es notwendig sei, um der Rechte der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger willen „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“. Aber in der Sprache der Zeit schien er vorauszusetzen, dass es überhaupt so etwas wie eine Judenfrage gab. So legen die Richter von Yad Vashem ihm diese frühe Äußerung eher zum Nachteil aus. Er, der erklärte, „nur wer für die Juden schreit“, dürfe „auch Gregorianisch singen“, wird in das Licht der Zweideutigkeit gerückt, was den Umgang des Nazi-Regimes mit dem europäischen Judentum betrifft. Bonhoeffer, von dem man weiß, dass sein Widerstand vor allem durch die Verbrechen gegen die „schwächsten und wehrlosesten Brüder (und Schwestern) Jesu Christi“ motiviert war, soll vor dem Kriterium versagen, ein Gerechter unter den Völkern zu sein.

Die Familie, die Internationale Bonhoeffer-Gesellschaft oder die Herausgeber seiner Werke haben nie eine Anstrengung unternommen, ihn als Gerechten unter den Völkern, als Märtyrer oder gar als Heiligen anerkannt zu finden. Und auch wenn bei der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstags die Frage ausdrücklich aufgenommen wurde, geschah das nicht, um ihm einen „Nimbus theologischer Unangreifbarkeit“ zu verleihen oder ihn mit der „Aura eines großen Widerstandszeugen“ zu umgeben. Sondern es geschieht, um größere Klarheit in der Würdigung Bonhoeffers wie in den Kategorien christlicher, in diesem Fall insbesondere evangelischer Erinnerungskultur zu gewinnen.

2.

Dietrich Bonhoeffer wollte nie ein Heiliger werden; aber Heiligkeit war ein Grundthema seiner Theologie. Denn die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, als sanctorum communio war nicht nur sein erstes theologisches Thema, dem er als Einundzwanzigjähriger seine Doktorarbeit widmete; dieses Thema war ihm vielmehr - wie wir sahen: in Rom beginnend -  bleibend wichtig.

In dem Buch, das die theologischen Einsichten der Zeit in Finkenwalde zusammenfasst, in der Nachfolge also, trägt ein ganzes Kapitel die Überschrift Die Heiligen. "Heilig ist allein Gott" - so heißt der Grundsatz dieses Kapitels. Er allein kann sich deshalb auch ein Heiligtum in dieser Welt schaffen. Gottes Rechtfertigung des Sünders in Jesus Christus ist der Dreh- und Angelpunkt jeder Rede von Heiligkeit. Deshalb hat diese Rede ihren Ort in der Gemeinschaft der Heiligen und zwar als einer sichtbaren Gemeinschaft. "Christus als Gemeinde existierend" - das ist der einzige Zusammenhang, in dem von der Heiligung und der Heiligkeit des Menschen überhaupt die Rede sein kann. Alles andere ist menschlicher Selbstbetrug. „Es ist der trügerische Hochmut und die falsche geistliche Sucht des alten Menschen, der heilig sein will außerhalb der sichtbaren Gemeinde der Brüder. Und noch zugespitzter: Heiligung außerhalb der sichtbaren Gemeinde ist Selbstheiligsprechung.“

Und doch hatte Bonhoeffer im späteren Rückblick den Eindruck, sein Buch Nachfolge stehe am Ende eines Weges, auf dem er „glauben lernen wollte, indem er selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte“. Davon nahm er Abschied, als er die „tiefe Diesseitigkeit des Glaubens kennen und verstehen“ lernte. Mehr und mehr sei dies in den letzten Jahren der Fall gewesen, so bekennt er in seinem Brief an Eberhard Bethge vom 21. Juli 1944, vom Tag nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler. Die Entgegensetzung von Diesseitigkeit und Heiligkeit wird in diesem – bekannten und häufig zitierten – Brief folgendermaßen erläutert: „Nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus ... Mensch war. Nicht die platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven, sondern die tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist, und in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist, meine ich. ... Ich erinnere mich eines Gespräches, das ich vor 13 Jahren in Amerika mit einem französischen jungen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach die Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: ich möchte ein Heiliger werden ( – und ich halte für möglich, dass er es geworden ist – ); das beeindruckte mich damals sehr. Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: ich möchte glauben lernen. ... Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zu Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder Gesunden – und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist metanoia und so wird man ein Mensch, ein Christ.“

Auf seinen ersten Aufenthalt in den USA im Jahr 1930/31 weist Bonhoeffer damit zurück, auf jene Zeit, von der er im Rückblick auch sagen konnte, in ihr sei er noch von einem „wahnsinnigen Ehrgeiz“ bestimmt gewesen – in der Zeit vor jenem Ereignis, das sein Leben „verändern, ja umwerfen“ sollte: der Begegnung mit der Bergpredigt. Es war die große Befreiung, durch die er erfuhr, „dass das Leben eines Dieners Jesu Christi der Kirche gehören muss“. Es war der Schritt, durch den ihm klar wurde, „dass ich eigentlich erst innerlich klar und wirklich aufrichtig sein würde, wenn ich mit der Bergpredigt wirklich anfinge, Ernst zu machen“. Es war die Zeit, in der Bonhoeffer die „Restauration der Kirche ... aus einer Art neuen Mönchtums“ erwartete, „das mit dem alten nur die Kompromisslosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christ gemeinsam hat“.

Doch über diese Haltung ging Bonhoeffer nach der Finkenwalder Zeit noch einen entscheidenden Schritt hinaus. Er entdeckte Jesus in Gethsemane, die Selbstentäußerung Gottes in die Ohnmacht der Welt, als den Schlüssel zum Verständnis des Glaubens.

Das Thema dieser Szene ist kein anderes als das Thema des ganzen Neuen Testaments. Jesus von Nazareth wird uns als der Sohn Gottes vor Augen gestellt, in dem sich Gottes Liebe zu uns Menschen offenbart. Aber dieser Jesus wird so gezeichnet, dass er ohnmächtig dem Leiden ausgesetzt ist. Verzweifelt wendet er sich an Gott und sucht nach Hilfe. Doch er bleibt ohne Antwort. Verzagt bittet er seine Gefährten um Beistand. Doch sie schlafen – schlafen in diesem Augenblick!

Dietrich Bonhoeffer kommentiert diese Szene als die „Umkehrung von allem, was der religiöse Mensch von Gott erwartet“. Wenn der Mensch aufgefordert wird, „das Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden, wird er dadurch selbst in diese „gottlose Welt“ hineingestellt.

In diesem knappen Gedankengang sind alle Grundmotive enthalten, die Dietrich Bonhoeffer in der Zeit seiner Gefängnisbriefe zu der kühnen Aussage veranlassen, wir lebten in einem religionslosen Zeitalter. In einer Theologie des Karfreitags hat seine These vom Ende der Religion ihren tiefsten Grund. Während der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Karfreitag spekulativ interpretierte und daraus eine philosophische Theorie über den Tod Gottes entwickelte, deutet Dietrich Bonhoeffer Jesu Weg ans Kreuz – und in ihm insbesondere die Gethsemane-Szene – existentiell und folgert daraus, der christliche Glaube sei nicht ein religiöser Vollzug, sondern ein Lebensakt, der durch das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben geprägt ist.

An Kühnheit ist diese Überlegung Dietrich Bonhoeffers der These Hegels durchaus ebenbürtig. Sie gewinnt zusätzliche Anziehungskraft daraus, dass Dietrich Bonhoeffers eigene Lebenssituation mit dieser Deutung der Gethsemane-Szene in einer Weise zur Deckung kommt, die ihr eine große authentische Kraft verleiht.

In der unmittelbaren Bedrängnis durch einen Prozess, der seine Freunde und ihn des Hochverrats überführen soll, im Warten auf das Attentat gegen Hitler, das vielleicht noch rechtzeitig kommt – rechtzeitig auch zur Rettung des eigenen Lebens – : in dieser äußersten Anspannung wendet Bonhoeffer sich der Frage zu, was die sein Leben bestimmende Frage sei. Mit einem Brief vom 30. April 1944 beginnt die Serie von brieflichen Äußerungen zum Ende der Religion, mit einem Brief vom 18. Juli 1944 endet sie, zwei Tage vor dem gescheiterten Attentat gegen Hitler, das allen bisherigen Hoffnungen des Inhaftierten ein Ende macht. In dem letzten Brief findet sich die Reflexion über die Gethsemane-Szene, die ich gerade zitiert habe. Aber was veranlasst ihn zu der kühnen Aussage über das Ende der Religion?

Dass diese Gedanken beunruhigend seien, räumt Bonhoeffer selbst ein. Aber er muss ihnen Raum geben. Sie stellen sich ein, weil er sich um eine Klärung der Frage bemüht, die ihn unablässig bewegt. Es geht, wie er in dem ersten Brief zu dieser Thematik sagt, um die Frage, „was das Christentum oder auch wer Christus für uns heute eigentlich ist“. Durch theologische oder fromme Worte kann man das nicht mehr sagen. Einen abgetrennten Raum der Innerlichkeit oder des Gewissens, in dem eine Antwort auf diese Frage gut aufgehoben wäre, gibt es nicht mehr. Damit ist die Zeit der Religion in ihrem neuzeitlichen Verständnis vorbei. Allerdings formuliert Bonhoeffer den Abschied vom religiösen Apriori weit grundsätzlicher, nämlich als einen Abschied von der religiösen Form des Christentums schlechthin.

Es ist immer wieder darüber gerätselt worden, wie Bonhoeffer dieses religiöse Apriori versteht, was also die Religion kennzeichnet, von der er sagt, sie sei an ihr Ende gekommen. Besonders irritierend ist, dass er gerade nicht nur eine neuzeitliche Ausprägung des Religionsverständnisses charakterisiert, sondern behauptet, dass es sich um ein Charakteristikum der ganzen neunzehnhundertjährigen Geschichte des Christentums handele. Dennoch muss man seine Auffassung historisch interpretieren. Er bezieht sich auf die Vorstellung von der Gottesbeziehung als einem besonderen Lebensbereich, der es mit der Innerlichkeit des Menschen zu tun hat. Er meint die Vorstellung von Gott als einem Lückenbüßer, der dann zur Erklärung herangezogen wird, wenn die Möglichkeiten menschlichen Erklärens – noch – an eine Grenze stoßen. Er hat die Tendenz im Blick, die Schwäche des Menschen und die Grenzen menschlicher Möglichkeiten dafür zu nutzen, die Notwendigkeit der Religion zu demonstrieren.

Diese Art von Religion, so ist Bonhoeffer überzeugt, verträgt sich nicht  mit der Mündigkeit des modernen Menschen. Wenn das stimmt, dann stellt sich unausweichlich die Frage, ob mit der Religion auch der christliche Glaube fällt. Dem tritt Bonhoeffer mit dem Gedanken entgegen, dass die Religion nur das Gewand des Christentums ist – ein Gewand, das zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich ausgesehen hat. Wer Christentum und Religion auf diese Weise unterscheidet, sieht sich mit der Frage konfrontiert, ob es ein religionsloses Christentum geben kann.

Damit meint Bonhoeffer ein Christentum, das in der Welt gelebt wird und sich auf die Weltlichkeit der Welt einlässt. Dies kann freilich kein verweltlichtes, säkularisiertes, seines Kern beraubtes Christentum. Es ist vielmehr ein Christentum, das auf seinen Kern zurückgeführt und auf die „Anfänge des Verstehens zurückgeworfen“ ist. Die grundlegenden Handlungsvollzüge des christlichen Glaubens werden wieder als „etwas Neues und Umwälzendes“ erfahren. Menschen werden für diesen Glauben einstehen, indem sie beten, das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten.

Man spürt es: Die Abkehr von der religiösen Gewandung des Christentums geschieht um seiner Substanz willen. Der Frieden Gottes und das Nahen seines Reiches sind entscheidend. Ein neuer Zugang zu Gerechtigkeit und Wahrheit tritt in den Blick. Eine Sprache sucht Bonhoeffer, die nach traditionellen Maßstäben vielleicht unreligiös ist, die aber befreiend und erlösend wirkt.

Hier schließt sich der Kreis. Denn diese Sprache findet Bonhoeffer, indem er an die Seite des leidenden Christus tritt. „Und zu der neunten Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ An diesen Vers aus der Karfreitagserzählung des Markusevangeliums knüpft Bonhoeffer an und macht die Ohnmacht Christi im Leiden und am Kreuz zum Dreh- und Angelpunkt des Gottesverständnisses. Darin sieht er den Unterschied des christlichen Glaubens zu den Religionen wie zum Religiösen. Zu einem neuen Verstehen gelingt der Durchbruch gerade dank der „Entwicklung zur Mündigkeit der Welt, durch die mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt wird“. Denn sie macht den „Blick frei für den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt“.

Auf diese Weise lernte Bonhoeffer bis zum Ende seines Lebens, in der vollen Diesseitigkeit des Lebens zu glauben. Er ließ sich auf das Inkognito des Widerstands ein. Er lernte den Blick von unten. Nun erst verstand er voll, was er damit gemeint hatte, dass er kein Heiliger werden wollte; er wollte glauben lernen.

Albrecht Schönherr, der bereits zitierte Schüler Bonhoeffers und langjährige Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, einer meiner Vorgänger in diesem Amt, hat also gute Gründe dafür dass er es auf diesem Hintergrund ablehnt, Dietrich Bonhoeffer einen evangelischen Heiligen zu nennen. Er kann dafür Bonhoeffers eigene Äußerungen, ja Bonhoeffers eigenen Lebensweg ins Feld führen.

3.

Doch aus dem zeitlichen Abstand tritt immer deutlicher das Vorbildhafte des Glaubens- und Lebenszeugnisses von Dietrich Bonhoeffer hervor.  Dazu, dies zu würdigen, gibt es auch im evangelischen Bekenntnis starke Gründe. Exemplarisch sind sie im Augsburgischen Bekenntnis von 1530 formuliert, das für den reformatorischen Aufbruch wie für das heutige Selbstverständnis reformatorischer Kirchen von grundlegender Bedeutung ist. In Artikel 21 der Confessio Augustana heißt es: „Vom Heiligendienst wird von den Unseren so gelehrt, dass man der Heiligen gedenken soll, damit wir unseren Glauben stärken, wenn wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und auch wie ihnen durch den Glauben geholfen worden ist; außerdem soll man sich an ihren guten Werken ein Beispiel nehmen, ein jeder in seinem Beruf. ... Aus der Heiligen Schrift kann man aber nicht beweisen, dass man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll. „Denn es ist nur ein einziger Versöhner und Mittler gesetzt zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus“ (1. Timotheus 2,5). ... Nach der Heiligen Schrift ist das auch der höchste Gottesdienst, dass man diesen Jesus Christus in allen Nöten und Anliegen von Herzen sucht und anruft. ...“

Die Folgerung für einen evangelischen Begriff des Heiligen ist eindeutig. Dass wir in einer Gemeinschaft der Glaubenden leben, schließt den Dank für Vorbilder im Glauben ein. Genau in diesem Sinn lässt sich auch nach evangelischer Auffassung innerhalb der Gemeinschaft der Heiligen von besonders hervorgehobenen Heiligen sprechen. Das Santo subito ist auch dem evangelischen Glauben dort zugänglich, wo jemand für andere in beispielhafter Weise den Glauben vorgelebt und so gezeigt hat, dass ihm Gnade widerfahren ist. Zwar ist uns das Gebet zu den Heiligen fremd, weil Christus selbst uns den Weg zu Gott bahnt und uns das Vater unser lehrt. Als evangelische Christen rufen wir die Heiligen nicht als Fürsprecher an, sondern halten uns an Christus als den einen Mittler zwischen uns Menschen und Gott. Dennoch können wir von einem evangelischen Heiligen dort reden, wo Lebenszeugnis und Glaubenskraft sich in einer Weise verbunden haben, dass dies zum Glauben und zum christlichen Handeln von Christen auch an anderem Ort, zu anderer Zeit und unter anderen Bedingungen ermutigt. Nicht um eine Imitation des Vorbilds geht es dann, sondern um ein Lernen im Glauben und ein Mündigwerden im Handeln. Sich vom Vorbild anderer inspirieren zu lassen, ist, so betrachtet, nicht mit einer Einbuße an Mündigkeit verbunden. Solche Vorbilder im Glauben und Handeln sind Zeugen einer besseren Welt, wie es der Titel eines im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland im Jahr 2000 herausgegebenen Sammelbands über christliche Märtyrer des 20. Jahrhunderts sagt.

Dietrich Bonhoeffer ist einer von ihnen. An Dietrich Bonhoeffer beeindruckt viele der innere Zusammenhang zwischen Lebensgeschichte und Theologie: die Verbindung zwischen einem Lebenslauf, der ihn zu einem Glaubenszeugen in einem besonderen Sinne des Wortes gemacht hat, und einem theologischen Werk, das auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch sehr viel an Anregungspotenzial und Orientierungskraft enthält. Auch in Zukunft werden sich sein Glaubenszeugnis und seine theologische Inspiration als Quelle der Ermutigung und als Herausforderung zu eigenem Denken und Handeln erweisen. Dies sei abschließend in zwei Hinsichten näher entfaltet.

4.

Zum einen fragen wir danach, wie und ob sich Bonhoeffers Gedanken aus der Mitte des 20. in den Beginn des 21. Jahrhunderts übertragen lassen. Einfach ist das nicht. Zwar hat die Vorstellung von der Mündigkeit des Menschen weiter an Boden gewonnen. Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sind hohe Güter. In modernen Gesellschaften bestimmt der Wunsch, im Erleben das eigene Leben zu entwerfen und zu besitzen, das Lebensgefühl vieler Menschen.

Doch dadurch, dass sie durch Aufklärung und Säkularisierung hindurchgegangen sind, ist auch in modernen Gesellschaften die Religion nicht verschwunden. Vielen Menschen ist in der Mitte ihres Lebens, in den Zeiten größten Glücks bewusst, dass ihnen dieses Leben als Geschenk des Schöpfers anvertraut ist. Und in Situationen der Ratlosigkeit und der Trauer suchen sie Zuflucht in der Sprache des Glaubens – selbst wenn sie sich diese Sprache nur auf Zeit leihen. Die Vorstellung von einer allgemeinen gesellschaftlichen Säkularisierung, die eine Ortlosigkeit der Religion zur Folge hat, taugt nicht zur Beschreibung der neuzeitlichen Entwicklung. Es gibt wichtige Zusammenhänge, in denen das Konzept der Säkularisierung seine unaufgebbare Funktion hat – vor allem der säkulare Charakter des Staates und seiner rechtlichen Ordnung sind hier zu nennen; als generelle Beschreibung der gesellschaftlichen Entwicklung taugt das Konzept der Säkularisierung nicht. Den pluralen Charakter der Gegenwartsgesellschaft, für den Religion eine wichtige Rolle spielt, kann man vom Konzept der Säkularisierung aus gerade nicht erklären. Dem Dialog mit anderen Religionen dient es nicht, wenn das Christentum seine eigene religiöse Gestalt negiert.

In anderen Gesellschaften, zum Beispiel in islamisch geprägten, führt der Kampf um die Modernisierung zu massiven Abwehrbewegungen nicht nur gegen den vermeintlich säkularen Charakter der Gesellschaft, sondern auch gegen die Säkularität der Rechtsordnung. Religiöser Fundamentalismus breitet sich aus. Die Zuwendung zur Religion, die zu den Kennzeichen des beginnenden 21. Jahrhunderts gehört, nimmt in solchen Zusammenhängen durchaus bedrohliche Züge an.

Aber der Fundamentalismus ist keineswegs die einzige Form, in der Menschen neu nach dem Sinn von Religion suchen. Im Gegenzug gegen eine verbreitete Ökonomisierung des Denkens wird in vielfältigen Formen neu nach der spirituellen Dimension menschlichen Lebens gefragt. Der christliche Glaube, der in den letzten Jahrzehnten gerade im Protestantismus weithin nur noch als eine Deutungsperspektive weltlicher Erfahrungen im Blick war, wird wieder in seinem transzendenten Bezug zum Thema. Die Kirche, die für viele nur noch als politische Akteurin und sozialethische Mahnerin erkennbar war, wird wieder als Raum für die Begegnung mit dem Heiligen wahrgenommen. Der religiöse Ritus, den Dietrich Bonhoeffer in Rom für sich als Gottesdienst im wahren Sinn entdeckt hat, gewinnt wieder an Bedeutung und Resonanz. Auch im Protestantismus entwickeln wir ein Gespür dafür, dass Ritenarmut keineswegs zu den besonderen Qualitätsmerkmalen unserer Tradition gerechnet werden kann.

Auf die Frage, was die wichtigste Aufgabe der Kirche sei, wurde lange Zeit geantwortet: der diakonische Einsatz für Alte und Kranke sowie das Eintreten für die Schwachen in der Gesellschaft. Auch wenn diese Antwort ihre Bedeutung behält, sagen inzwischen doch viele, die wichtigste Aufgabe der Kirche sei die Eröffnung eines Raums für die Begegnung mit dem Heiligen, die Botschaft von Gottes Zuwendung zu seiner Welt, die Sorge für die Seelen. Die religiöse Tiefenschicht des menschlichen Lebens wird wieder entdeckt. Und von der Kirche wird erwartet, dass sie bei der Auseinandersetzung mit dieser Tiefenschicht klare Orientierung und praktische Anleitung gibt.

Es ist eine berechtigte Erwartung, dass der christliche Glaube selbst in seiner spirituellen Kraft und in seinem unaufgebbaren Glaubenswissen wieder wahrgenommen und artikuliert wird. Es geht nicht darum, die Plausibilität des christlichen Glaubens durch eine christliche Apologetik, also durch allerlei Erklärungen und Rechtfertigungen des Glaubens, deutlich zu machen, deren Schwäche Bonhoeffer deutlich beschrieben hat. Vielmehr geht es darum, der systematischen Entleerung des Glaubens entgegenzuwirken und seine Bedeutung für Erfahrung und Wissen wieder neu zu entdecken. Das Glaubenswissen wird auch öffentlich auf neue Weise zum Thema. Menschen interessieren sich wieder für den Kanon an Wissen, den man braucht, um die Welt der Religionen wie den eigenen Glauben zu verstehen. Sie spüren auf neue Weise, dass solches Wissen für die humane Qualität des Zusammenlebens unverzichtbar ist.

Wenn solches Glaubenswissen wieder zur Geltung kommt, haben wir es dann mit einer religiösen oder einer nichtreligiösen Interpretation der biblischen Begriffe zu tun? Dabei von einer nichtreligiösen Interpretation zu sprechen, ist unter heutigen Perspektiven nicht mehr möglich. Gleichwohl kann man Bonhoeffers Ansatz, wie er ihn in der Auslegung der Gethsemane-Szene entwickelt, aufnehmen; die Radikalität seiner Fragestellung braucht man nicht abzuschwächen. Aber die Entgegensetzung von Glauben und Religion, die er seiner Überlegung zu Grunde legt, trifft die Wirklichkeit, wie wir sie heute wahrnehmen, nicht.

Religion begegnet auch heute in vielen Formen: als ein in den Privatbereich verbannter Restbestand frommer Gefühle, als ein Herrschaftsinstrument zur Beherrschung der Massen, als Ideologie, mit der Selbstmordattentäter zu Märtyrern gestempelt werden. Aber sie begegnet auch in ihrer erlösenden und befreienden Kraft – nicht nur, aber auch im Namen dessen, der ans Kreuz ging und dafür die äußerste Einsamkeit auf sich nahm: die Verstoßung durch die religiös Einflussreichen, die Verurteilung durch die politisch Mächtigen, den Verrat der engsten Gefährten.

Auch der Glaube, der sich an die Ehre des Gottes hält, der um der Menschen willen Leiden und Ohnmacht auf sich nimmt, ist Religion und artikuliert sich in religiösen Formen. Seine erlösende und befreiende Kraft sichern wir nicht dadurch, dass wir das bestreiten. Diese erlösende und befreiende Kraft lässt sich überhaupt nicht sichern. Sie lässt sich nur immer wieder neu erbitten, verkündigen und leben.

Bonhoeffers Absage an die Religion lässt sich nicht halten. Religion bleibt ein Teil unserer Lebenswirklichkeit. Und sie bleibt eine notwendige Gestalt des christlichen Glaubens. Es erweist sich als vermessen, den Glauben ohne diese religiöse Gestalt haben zu wollen. Trotzdem ist es möglich, Bonhoeffers Argumentation fruchtbar zu machen.

Die Stärke von Bonhoeffers Theologie im Ganzen hat damit zu tun, dass er keine Angst vor der Moderne hat. Es ist gerade die Beschäftigung mit dem modernen wissenschaftlichen Bewusstsein, das ihn zu seiner theologischen Religionskritik veranlasst. Die Moderne aber steht unter dem Vorzeichen des mündig gewordenen Menschen. Bonhoeffer erfasst mit diesem Begriff eine Grundhaltung, wie sie sich in Europa unter der Herrschaft des wissenschaftlichen Wahrheitsbewusstseins entwickelt hat. Die Mündigkeit des Menschen ernst zu nehmen, ist ein Gebot intellektueller Redlichkeit. Lücken des jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisstands zu nutzen, um in ihnen einem als Lückenbüßer verstandenen Gott noch eine Funktion zuzuweisen, ist demgegenüber intellektuell unredlich. Genau davon sieht Bonhoeffer ein zu seiner Zeit verbreitetes – auch in den Kirchen verbreitetes – Bewusstsein geprägt. Wer die vor allem in den USA neu aufbrechende Diskussion über eine Absage an naturwissenschaftliche Einsichten aus Gründen der Religion in den Blick nimmt, muss zugeben, dass die Lückenbüßer-Religion auch heute noch existiert. Dem christlichen Glauben wird sie nicht gerecht.

Auch wer in seinem theologischen Denken an Bonhoeffer geschult ist, hat keinen Grund zu leugnen, dass Religion im Leben der einzelnen wie auf dem Forum der Öffentlichkeit eine wachsende Rolle spielt. Auch das Faktum, dass der christliche Glaube mit innerer Notwendigkeit religiöse Gestalt annimmt, braucht man nicht unter Berufung auf Bonhoeffer zu bestreiten.

Klärungsbedürftig sind vielmehr zwei andere Fragen. Zum einen ist zu fragen, ob die neue Zuwendung zur Religion, die wir gegenwärtig erleben, auf Kosten der Mündigkeit geht. Das ist, wie unschwer zu erkennen, der Fall; aber es ist nicht zwingend. Es geschieht beispielsweise, wenn der Zugang zu wissenschaftlichen Einsichten über die Entstehung der Welt und die Entwicklung des Lebens im Namen des Bekenntnisses zu Gott als dem Schöpfer versperrt werden soll, wenn also der biblische Schöpfungsglaube mit einer kreationistischen Weltanschauung verwechselt wird. Und es geschieht ebenso, wenn der Glaube an Gott zur Rechtfertigung von Gewalt gegen Menschen missbraucht und damit Gott selbst als Waffe gegen andere Menschen eingesetzt wird. Solche Formen fundamentalistischer Religiosität breiten sich heute an vielen Stellen aus. Vor dem von Bonhoeffer eingeschärften Kriterium der Mündigkeit haben sie keinen Bestand.

Der Streit geht sodann um die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Wirklichkeit Gottes und der Religiosität des Menschen. Wenn Religion selbst zu einer letzten Wirklichkeit erklärt und die Wirklichkeit Gottes nicht mehr von der religiösen Aktivität des Menschen unterschieden wird, dann wird die Kirche zu einer „religiösen Gemeinschaft“, für die das „Religiöse“ – so Bonhoeffer schon in der Finkenwalder Zeit – der „höchste Wert“ ist. Theologie, die sich in den Dienst dieses höchsten Wertes stellt, wird dann mit innerer Notwendigkeit zur bloßen Auslegung des Religiösen, zur Hermeneutik menschlicher Religiosität.

Gerade in einer Zeit der Wiederkehr der Religion gibt es demgegenüber starke Gründe dafür, die Unterscheidung zwischen der Wirklichkeit Gottes und der menschlichen Religion ernst zu nehmen. Denn diese Unterscheidung ist um beider willen nötig – um Gottes Willen, weil ihm nur auf der Grundlage einer solchen Unterscheidung die Ehre gegeben wird, und um der Religion willen, weil sie nur so als das begriffen werden kann, was sie ist – nämlich eine menschliche Aktivität.

Dietrich Bonhoeffers Lebensthema war nicht die Religion, sondern die Kirche. Doch gerade deshalb sollte Bonhoeffers theologischer Impuls nicht länger gegen die Erfahrungen ins Feld geführt werden, die sich heute mit der Wiederkehr der Religion verbinden. Er kann vielmehr dabei helfen, mit diesen Erfahrungen so umzugehen, dass die christliche Wahrheit nicht von einer neuen religiösen Welle verschlungen wird, sondern ihr gegenüber in ihrer klärenden und orientierenden Kraft wirksam wird. Auch im Umgang mit der Wiederkehr der Religion bewähren sich der Respekt vor der Mündigkeit des Menschen und die Überzeugung, dass der Glaube ein Lebensakt ist, der den ganzen Menschen ergreift. Das ist das eine, was wir gerade heute – in einer Zeit der Wiederkehr der Religion – von Dietrich Bonhoeffer lernen können. Deshalb bleibt er auch unter unseren gewandelten Bedingungen ein Vorbild und Lehrer des Glaubens, ein „evangelischer Heiliger“.

5.

Zum anderen knüpfen wir noch einmal an das Selbstzeugnis an, das davon spricht, dass Bonhoeffer im Jahr 1932, im Alter von 26 Jahren also, die Bergpredigt in ihrer klaren Verpflichtung zu Frieden und Gerechtigkeit entdeckt habe wie nie zuvor. Diese Begegnung machte ihn, wie er in selbstkritischer Abgrenzung gegenüber vorausliegenden Phasen seines Lebens sagte, zum Christen. Und sie gab zugleich seiner ethischen Haltung eine Klarheit, die sich zwar schon angebahnt, aber noch nicht im Letzten durchgesetzt hatte. Die Verpflichtung auf Frieden und Gerechtigkeit wurde nun zum bestimmenden Grundmotiv.

Daraus zog Bonhoeffer auch persönlich Konsequenzen. Schon sein frühes ökumenisches Engagement im Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen wie in der Bewegung für Praktisches Christentum war von diesem Impuls geprägt. In der Nazizeit verzichtete er auf eine akademische Karriere, übernahm zunächst eine Auslandspfarrstelle in London und widmete sich dann der Ausbildung künftiger Pfarrer der Bekennenden Kirche. Er sprach sich so deutlich gegen die Rechtsbeugung des Nazi-Regimes aus, dass ein Schreibverbot die Folge war. In der Gewissheit, dass er den Kriegsdienst in Hitlers Armee verweigern würde, ließ er sich unmittelbar vor Beginn des Zweiten Weltkriegs zu einem Gastaufenthalt am Union Theological Seminary in New York einladen.

In den USA, wo er hätte bleiben können, hielt er es nicht aus; denn er wollte Verantwortung für die Zukunft Deutschlands nach dem Ende der Diktatur wahrnehmen – und dazu musste er in das Land des Diktators zurückkehren. Bonhoeffer verband ein weites ökumenisches Engagement mit einem sehr persönlichen Einsatz für Deutschland. Der Schritt in den Widerstand war unausweichlich. In der Militärischen Abwehr fand er zusammen mit seinem Schwager Hans von Dohnanyi einen Platz, von dem aus er sich der Konspiration gegen das verbrecherische Regime widmen und vor allem seine Kontakte ins Ausland zur Vorbereitung des erhofften Umsturzes widmen konnte. Daneben schrieb er an den Manuskripten für seine „Ethik“. Nichts von dem, was er in diesen Jahren tat, durfte in seinen Manuskripten erkennbar werden. Darin hätte eine inakzeptable Gefährdung für seine Mitverschwörer wie für sich selbst gelegen. Umso erstaunlicher ist es, wie klar man im Rückblick erkennen kann, was Bonhoeffer bewegte: dass christlich verstandene Freiheit in die Verantwortung führt, dass einzelne bereit sein müssen, diese Verantwortung stellvertretend wahrzunehmen, und dass diese Verantwortung die Bereitschaft zus Schuldübernahme einschließt. Das waren die Grundgedanken, von denen Bonhoeffer sich in seinem konspirativen Handeln leiten ließ. Eine Verwicklung seiner Gruppe in eine ungeklärte Devisenfrage führte zu seiner Verhaftung im April 1943; der Fund der von Hans von Dohnanyi gesammelten Belege für das Ausmaß des nationalsozialistischen Gewaltregimes zeigte dann, was man dieser Gruppe in Wahrheit vorwarf: das Aufdecken der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und den Versuch, ihnen ein Ende zu machen. Die Niederlage des NS-Regimes kam für Dietrich Bonhoeffer zu spät. Am 9. April 1945 wurde er im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet.

Verantwortung und Stellvertretung – das waren schon früh die Themen von Bonhoeffers Leben und seiner Theologie. So sehr ließ Bonhoeffer sich von diesen Themen bestimmen, dass er das Dasein für andere zum prägenden Begriff der Ethik und die Kirche für andere zum prägenden Begriff der Lehre von der Kirche werden ließ. In seiner Zeit im Finkenwalder Predigerseminar entwickelte und praktizierte er eine Spiritualität des Gemeinsamen Lebens. Bis heute ist dies eine der wichtigen Formen evangelischer Spiritualität.

Bonhoeffer ging aus dieser Spiritualität selbst den Weg der Stellvertretung. Er nahm den Weg in das Inkognito der Konspiration auf sich, weil er dem eigenen Land anders nicht dienen konnte. Er, der sich vom Geist der Bergpredigt bestimmen ließ, beteiligte sich an der Verschwörung, die auf den gewaltsamen Tod des Diktators gerichtet war, weil Untätigkeit bedeutet hätte, am Tod ungezählter Menschen schuldig zu werden. Doch das stellvertretende Handeln bis hin zu Gefängnis und Tod bedeutete nicht, dass Bonhoeffer sich von der Schönheit der Erde und der Kraft des Lebens abgewandt hätte. Vielmehr will er ja gerade einer Form der christlichen Religion den Abschied geben, die darauf angewiesen ist, die Schwächen der Menschen auszunutzen, statt ihnen in der Situation des Leidens beizustehen. Er will eine Gestalt des christlichen Glaubens fördern, die den Menschen in seinen Stärken wahrnimmt und ihm deshalb auch dann nahe ist, wenn er an seine äußerste Grenze kommt.

Bonhoeffer lässt von der Treue zur Erde leiten lässt, deretwegen ihm das Alte Testament so wichtig, ja unverzichtbar ist. Aus Treue zur Erde freut er sich an den Schönheiten des Lebens, an Landschaften wie an der Musik; ja rückblickend bekennt er, dass die Sonne Mexikos ihn beinahe zum Sonnenanbeter gemacht habe. Aus Treue zur Erde ist er seinen Nächsten nahe und ein treuer Freund seiner Freunde. Aus Treue zur Erde erfüllt ihn das späte Glück der Verlobung mit Maria von Wedemeyer mit einer Sehnsucht, die das Lesen seiner Briefe – wie ihrer Antwortbriefe – immer wieder zu einer ergreifenden Erfahrung macht.

Dass man in dieser Zuwendung zum Irdischen ein Heiliger – also ein Vorbild im Glauben – sein kann, verdeutlicht eine Szene, mit der ich schließen will: Auf der Fahrt von Buchenwald nach Flossenbürg, die seine letzte Fahrt werden sollte, teilte Bonhoeffer den Raum in dem engen, unförmigen, durch einen Holzvergaser angetriebenen Kastenwagen, in dem die ihrer Freiheit Beraubten zusammengepfercht waren, unter anderem mit dem Engländer Payne Best. Best war ein starker Raucher; er berichtet, in dieser Situation habe Bonhoeffer, der selbst, wie man weiß, auch ein passionierter Raucher war, in einer seiner Taschen einen kleinen Tabakvorrat entdeckt. Bonhoeffer habe darauf bestanden, diesen knappen Vorrat mit allen anderen zu teilen. Best schließt: „Er war eben ein guter Mensch und hatte etwas von einem Heiligen.“

Wenn man das schon zu Bonhoeffers Lebzeiten merken konnte, haben wir keinen Grund, es zu verschweigen. Allen Grund haben wir stattdessen, für das Leben und Wirken dieses evangelischen Heiligen zu danken und uns immer wieder an ihn zu erinnern.

Dazu wollte ich einen Beitrag leisten – hier in Rom, so Dietrich Bonhoeffer nicht nur die Wirklichkeit der Kirche entdeckte, sondern auch die Kinder beim „Santo“-Spielen beobachtete.