"Dass der Mensch mehr ist als seine Taten. Das christliche Menschenbild im Licht der Rechtfertigungsbotschaft" - Vortrag bei der Bundeskonferenz der Gefängnisseelsorge in Berlin
Wolfgang Huber
I. Sola gratia
In den letzten Jahrzehnten schien es oft so, als sei die christliche Religion „aus der Mode gekommen“, als sei die christliche Botschaft irrelevant geworden in der modernen Gesellschaft. Sprechen die Kirchen überhaupt noch die Sprache der Menschen? – so wurde gefragt. Benutzen sie nicht viel zu große Worte? Können die Menschen überhaupt noch verstehen, was gemeint ist, wenn mit den Worten der reformatorischen Theologie beispielsweise von den vier „sola“ gesprochen wird: solus Christus – allein Christus; sola fide – allein durch den Glauben; sola scriptura – allein die Heilige Schrift; sola gratia – allein durch die Gnade.
Doch wer genau hinschaut, wird zu einer anderen Diagnose kommen.
Ein Beispiel: Allein Christus. Wer hätte vor wenigen Jahren gedacht, dass laut Zeitungsberichten eine Umfrage den Papst als führenden deutschen Intellektuellen kürt. Das Magazin Cicero hat in seiner jüngst veröffentlichten Liste der 500 führenden deutschen Intellektuellen Papst Benedikt XVI. an die erste Stelle gesetzt. Und was ist seine Botschaft? Gewiss können manche Äußerungen des Papstes kontroverse Reaktionen auslösen. Aber an einem gibt es keinen Zweifel: Wie kaum ein Papst vor ihm stellt Benedikt XVI. Jesus Christus in den Mittelpunkt seines Denkens und Redens – und das nicht nur in seinem jüngst erschienenen Buch über Jesus von Nazareth. Bei meinem Besuch in Rom in der letzten Woche konnte ich mich im persönlichen Gespräch davon überzeugen, wie ernst er es damit meint. Und es besteht begründeter Anlass zu der Hoffnung, dass er damit auch gehört wird. Wir als evangelische Christen können uns darüber nur freuen. „Solus Christus“ – es scheint, als sei das gar nicht so irrelevant für die moderne Welt, wie man gemeint hat.
Ein weiteres Beispiel: Allein die Bibel. Wer hätte vor wenigen Jahren gedacht, dass die Veröffentlichung einer Bibelübersetzung zu großer Aufregung in den Medien führt, gerade in den außerkirchlichen? Aber genau das ist geschehen. Ebenso wie vor vierzig Jahren eine öffentliche Debatte darüber entbrannte, ob die damals geplante Revision der Lutherübersetzung der Sprachkraft des Reformators gerecht werde, und ebenso, wie vor knapp zwei Jahren der Streit darüber, ob Evangelische sich an einer Bibelübersetzung beteiligen könnten, wenn dabei die Gefahr bestand, den Rang des Urtextes zu relativieren, wird auch jetzt wieder öffentlich und mit Leidenschaft über eine Übertragung der Bibel diskutiert. Die „Bibel in gerechter Sprache“ nimmt für sich in Anspruch, dem biblischen Urtext treu zu bleiben und gleichzeitig die Anliegen der Geschlechtergerechtigkeit, der Gerechtigkeit im Hinblick auf den jüdischen-christlichen Dialog und der sozialen Gerechtigkeit aufzunehmen. Das hat zu einem enormen Medienecho geführt und die Feuilletons der großen Tageszeitungen zu ausführlichen Debatten darüber veranlasst, was die Bibel für unsere Gesellschaft und den persönlichen Glauben des Einzelnen bedeutet. Der Rat der EKD hat aus diesem Anlass seinen Respekt für die Kraft und die Leidenschaft bekundet, mit denen das Vorhaben einer „Bibel in gerechter Sprache“ begonnen und in einem jahrelangen Prozess vorangebracht wurde. Er bedauert jedoch, dass diese Anstrengung durch die der Übersetzung zugrunde liegenden problematischen Grundsätze und Kriterien fehlgeleitet und so weithin um ihre Früchte gebracht wurde. Er hat daher festgestellt: „Die ‚Bibel in gerechter Sprache’ eignet sich nach ihrem Charakter und ihrer sprachlichen Gestalt generell nicht für die Verwendung im Gottesdienst.“ „Sola Scriptura“ – es scheint, als sei das gar nicht so irrelevant für die moderne Welt, wie man gemeint hat.
Und schließlich ein letztes Beispiel, das uns mitten in das Thema des heutigen Tages führt: Allein durch die Gnade. Selten ist in der Öffentlichkeit das Wort „Gnade“ so oft in den Mund genommen worden wie in den letzten Wochen. Die Diskussion um die möglichen Hafterleichterungen und die eventuelle frühzeitige Entlassung des ehemaligen RAF-Terroristen Christian Klar. Auch die Diskussion um die Haftentlassung von Brigitte Mohnhaupt ist in diesen Zusammenhang gerückt, obwohl es sich in diesem Fall bei der Aussetzung der Haftvollstreckung nicht um einen Gnadenerweis handelte. Doch die Frage nach der vorzeitigen Entlassung von Christian Klar aus der Haft hat das Thema der Gnade zu Recht wieder in die öffentliche Debatte gebracht.
Inzwischen hat Bundespräsident Horst Köhler seine Entscheidung getroffen und von einem Gnadenerweis abgesehen. Gegner und Befürworter einer Begnadigung Klars haben sich zum Teil vehement zu Wort gemeldet und gefordert, Klar dürfe keinesfalls vorzeitig begnadigt werden – oder umgekehrt: die Begnadigung Klars sei überfällig. Dabei ist es interessant, welch unterschiedliche Bedeutungen dem Wort „Gnade“ beigelegt werden. Viele haben die Bedingungen formuliert, unter denen Gnade erwiesen werden kann. So viele Bundespräsidenten hatten wir noch nie. Aber einer hatte zu entscheiden. Dass man meinte, die Bedingungen angeben zu können, unter denen er zu einem Gnadenerweis berechtigt oder sogar verpflichtet sei, macht deutlich, dass das Wort „Gnade“ in einem solchen Fall nur analog verwendet wird. Denn für Gottes Gnade gilt, dass sie „freie Gnade“ ist und in keinerlei „Verdienst und Würdigkeit“ ihre Grundlage hat. Gerade diese Gnade aber ist, wie ich noch zeigen will, ein unentbehrlicher Bezugspunkt für all unser Reden und Handeln. Denn sie bildet den entscheidenden Bezugspunkt für die Humanität unserer Rechtsordnung – gerade in den Bereichen von Strafrecht und Strafvollzug. „Sola Gratia“ – es scheint, als sei das gar nicht so irrelevant für die moderne Welt, wie man gemeint hat.
II. Rechtfertigung aus Gnade
In der Formel „Sola gratia“ kommt zum Ausdruck, welche zentrale Stellung in reformatorischer Sicht der Rechtfertigung allein aus Gnade und allein im Glauben zukommt. Zu ihr zurückzuführen, war der Sinn der Reformation Martin Luthers. Der Ruf hin zu diesem Kern führte zum reformatorischen Aufbruch. Dessen Sinn bestand deshalb, wie man immer wieder in Erinnerung rufen muss, nicht darin, eine neue Kirche zu gründen, sondern die eine Kirche neu auf ihren Auftrag zu verpflichten – nämlich die Botschaft von Gottes Gnade zu verkünden.
Manche werden sich an die Szene in Eric Tills Lutherfilm erinnern, in der dieser Ansatz vor Augen gestellt wird. Es ist die Szene, in welcher der junge Mönch Martin Luther einen Selbstmörder beerdigt. Am Grab eines Menschen, der sich selbst das Leben genommen hat, verkündet er, dass keiner von uns das Recht hat, einen Menschen, auch wenn er so gegen Gott aufbegehrt, außerhalb des Wirkungsbereichs der Gnade Gottes zu sehen. Deshalb ist die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders auch, ja gerade am Grab eines Selbstmörders zu verkündigen. Deshalb gehört es zu den praktischen Folgen der reformatorischen Rechtfertigungslehre, dass man Selbstmörder nicht außerhalb des Friedhofs beisetzt. Auch sie haben ihren Ort dort, wo die Auferstehung von den Toten verkündigt wird.
Die Filmszene ist nicht an einem historischen Ereignis orientiert; aber sie verdichtet in einer im wahrsten Sinn des Wortes einleuchtenden Weise, worum es in der Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Gnade geht. Martin Luther hat sich diese Botschaft nach langen inneren Kämpfen durch das Studium des Römerbriefs erschlossen. Durch ihn wurde ihm deutlich, dass die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht die Gerechtigkeit ist, die wir selbst durch unsere Taten erwerben, sondern die Gerechtigkeit, die Gott selbst uns beilegt und schenkt. Deshalb gilt: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ Der Spannungsboten, in dem Luther diese Einsicht in immer neuen Variationen zur Sprache bringt, ist groß. Eine denkbar knappe Formulierung findet er bereits in der Heidelberger Disputation von 1518: „Die Sünder sind deshalb schön, weil sie geliebt werden, sie werden nicht deshalb geliebt, weil sie schön sind.“
Zwölf Jahre später, im Jahr 1530, tritt in Augsburg der Reichstag zusammen, um über die „Überwindung des Zwiespalts im heiligen Glauben“ zu beraten. Die evangelischen Reichsstände legen dafür ein Dokument vor, das nach ihrer Auffassung diesen Zwiespalt überwinden kann: Die Augsburgische Konfession. Sie ist entscheidend von Philipp Melanchthon geprägt und erweist sich schon bald als das entscheidende Bekenntnisdokument der evangelischen Kirchen.
Im Augsburgischen Bekenntnis wird eine Auffassung vom Menschen vertreten, nach welcher der Mensch „gerecht aus Glauben“ ist. „Ebenso lehren sie, dass die Menschen vor Gott nicht durch eigene Kräfte, Verdienste oder Werke gerechtfertigt werden können, sondern dass sie geschenkweise um Christi willen durch den Glauben gerechtfertigt werden, wenn sie glauben, dass sie in der Gnade aufgenommen und dass die Sünden vergeben werden um Christi willen, der durch seinen Tod für unsere Sünden Genugtuung geleistet hat. Diesen Glauben betrachtet Gott als vor ihm selbst geltende Gerechtigkeit.“
Vor den Jahren der Reformation hatte die philosophische Anthropologie das Bild vom Menschen bestimmt. Man war davon überzeugt, ihn erschöpfend definiert zu haben, wenn man ihn als ein rationales, vernunftbegabtes Wesen betrachtete. Weil man seine Vernunftbegabung so hoch schätzte, war man davon überzeugt, dass er auch durch eigenes Handeln wie durch eigene Buße zu seinem Heil beitragen könne. Gottes Gerechtigkeit verstand man dabei als den Maßstab, an dem sich das menschliche Handeln ausrichten, als die Instanz, vor der es sich rechtfertigen und Gnade erflehen musste. Luther jedoch entdeckte, dass die biblische Rede von Gottes Gerechtigkeit eine Macht Gottes meint, die den Menschen erneuert, eine Gabe Gottes, die den Menschen in einen Stand versetzt, den er von sich aus gerade nicht erreichen kann.
Luthers Neuentdeckung der Rechtfertigung allein aus Gnade und allein im Glauben knüpfte unmittelbar an die Theologie des Apostels Paulus an. Sie führte unausweichlich zu einer tiefgreifenden Neudefinition dessen, was den Menschen zum Menschen macht. In einem kühnen Griff stellte Luther der Definition des Menschen als Vernunftwesen, als animal rationale, die andere Definition entgegensetzte, nach welcher der Mensch gerecht ist aus Glauben („hominem iustificari fide“, so die Disputatio de homine 1537). Einer an der Substanz des Menschen orientierten Definition, welcher die Vernunftnatur des Menschen als ausreichendes Merkmal galt, trat eine Definition entgegen, die den Menschen als Beziehungswesen sah und ihn von den Beziehungen her definierte, die sein Leben bestimmen. Unter ihnen stand die Beziehung zu Gott obenan: eine Beziehung, die der Mensch nur verfehlen kann, solange er sich auf seine eigenen Kräfte verlässt, die aber gelingt, wenn er sich seine Anerkennung als Person von Gott schenken lässt.
Dieselbe Stadt Augsburg, die seit 1530 als Symbol für die Trennung der Konfessionen gilt, ist vor einigen Jahren zum Ort eines ökumenischen Neuaufbruchs geworden. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre – oder genauer: die Gemeinsame Offizielle Feststellung zu dieser Gemeinsamen Erklärung – wurde am 31. Oktober 1999 dort unterzeichnet; und den 450. Jahrestag des Augsburger Religionsfriedens von 1555 haben wir vor zwei Jahren dort festlich begangen.
Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die zwischen dem päpstlichen Einheitsrat und dem Lutherischen Weltbund ausgehandelt wurde, war und ist bis heute umstritten. Und ihre unmittelbaren ökumenischen Auswirkungen dürfen nicht überschätzt werden; denn diese Wirkungen können sich erst entfalten, wenn die Kirchen in der wechselseitigen Anerkennung ihrer Ämter weiterkommen. Die Unterzeichnung der Vereinbarung zur wechselseitigen Anerkennung der Taufe, die wir vor zehn Tagen im Magdeburger Dom feierlich begangen haben, ist ein Schritt auf diesem Wege. Weitere Schritte müssen gegangen werden und ich würde mich freuen, wenn das Tempo auf dem Weg zum Ziel schneller sein könnte, als es derzeit ist. Dieses Bestreben hat auch meine Gespräche mit Papst Benedikt XVI. und Kardinal Kasper in der vergangenen Woche in Rom bestimmt.
Aber unterschätzen soll man die Bedeutung des Dokuments von 1999 auch nicht. Es bleibt ein bemerkenswertes historisches Datum, dass evangelische und katholische Kirche die Unterschiede in der Auffassung von der Rechtfertigung des Menschen durch Gott nicht mehr als kirchentrennend betrachten. Das ist 1999 in Augsburg vollzogen und bestätigt worden. Es wurde „ein Grundkonsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre formuliert ..., in dessen Licht die entsprechenden Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts heute den Partner nicht mehr treffen.“
Das hat auch erhebliche praktische Folgen. Gemeinsam können evangelische und katholische Christen für ein Bild vom Menschen eintreten, nach welchem die Würde der menschlichen Person nicht einfach eine am Menschen aufweisbare Qualität, ein Resultat seiner genetischen Ausstattung oder ein Ergebnis seines eigenen Handelns ist. Würde hat der Mensch darin, dass er von Gott zu seinem Ebenbild berufen ist. Würde hat er darin, dass Gott ihn an seiner Gerechtigkeit teilhaben lässt. Deshalb ist der Mensch mehr, als er selbst aus sich macht. Auch wenn wir seine genetische Ausstattung bis ins letzte entschlüsseln können, haben wir damit noch nicht den Menschen als Menschen erfasst. Weder mit seinen Taten noch mit seinen Untaten ist er einfach gleichzusetzen. Allein das macht seine Würde wirklich unantastbar. Aber es verpflichtet uns zugleich dazu, auch die Würde desjenigen noch zu respektieren, der gegen alle Würde verstoßen hat. Ein solches Menschenbild verpflichtet dazu, auch mit denjenigen Stufen des menschlichen Lebens respektvoll und achtsam umzugehen, in denen Menschen noch nicht, nicht mehr oder nur in eingeschränktem Maß die Möglichkeit haben, als Personen von ihrer Freiheit einen eigenständigen Gebrauch zu machen: mit den verschiedenen Stufen des vorgeburtlichen Lebens ebenso wie mit Behinderung, Krankheit und Alter. In gleicher Weise sind Unschuldsvermutung und faires Verfahren auch gegenüber dem möglichen Straftäter praktische Konsequenzen aus der Unterscheidung zwischen der Person und ihren Taten. Denn der Mensch ist mehr als seine Taten.
III. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde
Doch bevor wir uns den Konsequenzen aus diesem Ansatz für den Bereich des staatlichen Strafens und des staatlichen Strafvollzugs zuwenden, wollen wir genauer betrachten, wie das reformatorische Verständnis der Menschenwürde – als einer dem Menschen ohne sein eigenes Verdienst zugesprochenen, unantastbaren, von Gott her verbürgten Beziehung – zu verstehen ist. Die christliche Vorstellung davon, dass der Mensch zu Gottes Ebenbild berufen ist, hat sich in der Neuzeit im Gedanken der unantastbaren Würde des Menschen einen Ausdruck verschafft, der auf allgemeine Anerkennung drängt. Das ist mit Gewissheit der wichtigste Beitrag des christlichen Glaubens zum neuzeitlichen Menschenbild. Es ist zugleich der entscheidende Grund dafür, warum man gerade aus reformatorischer Perspektive die Entwicklung der Moderne nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Verfalls, der Auflösung von Glaubensüberzeugungen, des Verdunstens von Werten betrachten kann; man muss vielmehr zugleich anerkennen, dass bestimmte, im christlichen Glauben angelegte Überzeugungen erst in der Moderne zur Klarheit gekommen sind, teilweise gegen den Widerstand der Kirchen selbst, die einige Zeit brauchten, bis sie merkten, dass sie hier ihrem eigenen Erbe begegneten.
Was mit dem Gedanken der Menschenwürde gemeint ist, will ich an einer kleinen Begebenheit verdeutlichen. Der französische Bischof Jacques Gaillot erzählt von einem Mann, der im Pariser Gare du Nord eine Obdachlosenzeitung verkauft. Ein Reporter kommt des Weges und sagt: "Nicht wahr, diese Aufgabe gibt Ihnen die Würde zurück." Der Mann schüttelt den Kopf, lächelt und sagt: "Meine Würde? Die habe ich nie verloren."
Die Schilderung dieser kurzen Begebenheit am Gare du Nord fasst die beiden entscheidenden Gegenpositionen für den Umgang mit der Würde des Menschen in eindrucksvoller Kürze zusammen. Während der Reporter die Menschenwürde wie eine Ausstattung ansieht, die verloren gehen und wieder erworben werden kann, hat der Obdachlose in all seiner Armut den Sinn dafür bewahrt, dass niemand ihm die Menschenwürde rauben kann.
Der eine fragt nach einer Würde, die der Mensch durch den Gebrauch seiner Freiheit, durch menschliche Leistung also, erwirbt. Diese Würde bleibt stets ein gefährdetes Gut; Abstürze sind nie ausgeschlossen. Je tiefer ein Mensch gefallen ist, desto bescheidener erscheinen die Schritte, mit denen er wieder etwas von seiner Würde zurückerobert. Diese Vorstellung von einer Würde, die erworben und verloren, gesteigert und gemindert werden kann, findet an der Selbsteinschätzung der Starken in der Gesellschaft ebenso einen Anhalt wie am beschädigten Selbstbewusstsein derer, die an den Rand gedrängt sind.
Doch so sehr eine Leistungsgesellschaft auch dazu verführt, die Würde vom Erfolg abhängig zu machen, so sehr zerstört sie damit die Würde selbst. Deshalb ist die Gegenposition so wichtig. Ihr Sprecher – der Obdachlose, der Zeitungen verkauft – sagt, seine Würde könne nicht verloren gehen. Sie ist in einer solchen Weise mit ihm verbunden, dass sie ein unzerstörbares Gut darstellt. Sein Verständnis menschlicher Würde ist dadurch bestimmt, dass keine weltliche Macht zu einer abschließenden Definition dessen befugt ist, was den Menschen zum Menschen macht.
Dies entspricht der Perspektive des christlichen Glaubens. Denn ihm erschließt sich der unveräußerliche Charakter der Menschenwürde daraus, dass die menschliche Person durch ihre Beziehung zu Gott konstituiert wird.
Gewiss ist dies nicht die einzige Möglichkeit, den Würdebegriff zu verstehen. Im Gegenteil liegt eine der Stärken dieses Begriffs gerade in seiner universalen Gültigkeit und damit in seiner Begründungsoffenheit für unterschiedliche weltanschauliche Zugänge. Deshalb braucht jedoch eine christliche Interpretation nicht zurückgehalten zu werden. Im Gegenteil: Sie ist schon deshalb gefordert, weil die Unverfügbarkeit der Menschenwürde durch die Beziehung zu Gott am konsequentesten ausgesagt wird.
Der Verzicht auf eine theologische Erschließung der Menschenwürde wäre geradezu verhängnisvoll, weil die gleiche und unantastbare Würde jeder menschlichen Person aus der profanen Vernunft allein nicht einsichtig gemacht werden kann. Vielmehr liegt der profanen Vernunft die Abstufung der Menschenwürde deshalb so nahe, weil sie in der empirischen Beobachtung viele Belege findet. Die Menschen in aller Unterschiedlichkeit der Lebensformen wie der Lebenschancen als gleich zu betrachten, ist nur möglich, wenn man sich an einem Widerlager orientiert, von dem her sich solche Unterschiede relativieren.
Für den christlichen Glauben ist die Universalität der Menschenwürde deshalb radikal gedacht, weil sie sich weder aus bestimmten Eigenschaften noch aus bestimmten Leistungen des Menschen ableitet. Es ist eine Würde, die dem Menschen von Gott zuerkannt wird. Sie gilt universal, also auch für den, der sich für ihre Begründung und Herleitung auf andere Quellen als die Quellen des Glaubens beruft. Zu den Konsequenzen dieser Würde gehört, dass der Mensch in keiner Phase seines Lebens nur unter dem Gesichtspunkt seiner Nützlichkeit oder Brauchbarkeit betrachtet werden kann; er darf deshalb niemals bloß als Mittel zum Zweck angesehen werden. Sondern er ist, wie es bei Immanuel Kant heißt, stets zugleich als „Zweck in sich selbst“ anzusehen. Die Berufung auf diese „Selbstzweckformel“ hat das Nachdenken über die Menschenwürde in Deutschland lange Zeit geleitet; auch wenn sie inzwischen von manchen kritisch eingeschätzt wird, kann man nicht sagen, dass ihr ein vergleichbar plausibles Konzept zur Seite gestellt worden wäre.
Kein Zweifel: Der universale Charakter der Menschenwürde ist erst dann wahrgenommen, wenn sie nicht nur auf alle Menschen im eigenen Land, sondern auf alle Menschen überhaupt bezogen wird. Die Menschenwürde ist das entscheidende Widerlager gegen ein Verständnis wirtschaftlicher Globalisierungsprozesse, in dem der Mensch nur als Produktions- und Konsumfaktor in den Blick tritt. Wer vom Begriff der Menschenwürde aus denkt, findet sich nicht damit ab, dass der Anspruch jedes Menschen auf Bildung auf den Gedanken reduziert wird, eine Gesellschaft müsse um ihrer Konkurrenzfähigkeit auf dem globalisierten Weltmarkt willen die in ihr vorhandenen Bildungsreserven heben. Ein evangelisches Verständnis der Menschenwürde beharrt auf deren Begründung aus der Gottesbeziehung nicht deshalb, damit auf neue Weise ein kirchlicher Herrschaftsanspruch aufgerichtet wird. Wir beharren auf der Begründung der Menschenwürde aus der Gottesbeziehung, weil wir überzeugt sind, gerade so der Unantastbarkeit wie der Unteilbarkeit der Menschenwürde zu dienen.
Die christlichen Kirchen können nicht für sich reklamieren, dass in ihnen der Gedanke der gleichen Menschenwürde aller stets bewusst gewesen oder widerstandslos akzeptiert worden wäre. Die Idee der Menschenwürde musste vielmehr oftmals gerade gegen den Widerstand von Theologie und Kirche durchgesetzt werden. Erst die Erfahrung massivster Menschenrechtsverletzungen im 20. Jahrhundert hat hier zu einer Neuorientierung geführt, in der zugleich eine wichtige reformatorische Einsicht ökumenische Geltung erlangte. Sie sagt: Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Taten. Deshalb kann man auch seine Zukunft nicht allein aus seiner Vergangenheit, aus seiner Geschichte ableiten. Weder seine Zukunft vor Gott noch seine Zukunft vor den Menschen.
IV. Strafe und Strafvollzug im Licht von Rechtfertigung und Menschenwürde
Der wichtigste Beitrag des Christentums zur Ethik des Rechts aber liegt, so können wir als Folgerung aus dem Bisherigen festhalten, in der Unterscheidung zwischen der Person und ihren Taten. „Der Gerechte lebt aus Glauben“ heißt es beim Apostel Paulus. Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, ist nicht durch menschliches Handeln zu erwirken; sie ergibt sich nicht aus der Erfüllung des Gesetzes. Sondern die Gerechtigkeit Gottes ist eine Macht, durch die Gott dem Menschen eine Anerkennung zukommen lässt, die er niemals von sich aus erwirken kann. Das ist der Sinn der Rechtfertigungsbotschaft. In ihrer rechtsethischen Bedeutung ist sie exemplarisch in der Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin zusammengefasst. Dass kein Mensch ein für allemal auf seine Schuld festgelegt ist, wird durch die Aufforderung an die Umstehenden verdeutlicht: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“ (Johannes 8,7). Jeder, der den Stein werfen will, wird selbst von ihm getroffen.
Der rechtsethische Kern der Rechtfertigungsbotschaft lässt sich auch so zusammenfassen: Kein Mensch kann seine endgültige Anerkennung als Person durch seine Taten erwirken und damit auch nicht durch seine Untaten verwirken. Der Mensch ist mehr, als er selbst aus sich macht. Durch das, was er selbst macht oder unterlässt, verfügt er nicht über sein Personsein. Das Recht hat seinen entscheidenden Maßstab darin, dass es die Personwürde des Menschen respektiert und dazu hilft, dass Menschen einander in dieser Würde anerkennen und achten.
Dieser Grundgedanke hat in alle modernen Rechtssysteme Eingang gefunden, so weit sie sich von einem radikal gefassten Gedanken menschlicher Würde bestimmen lassen und deshalb das Recht auf gleiche Anerkennung und Achtung als das grundlegende Recht betrachten. Bei Ronald Dworkin beispielsweise heißt es in diesem Sinn: Anerkennung und Achtung verdienen die Menschen „nicht kraft ihrer Herkunft oder bestimmter Merkmale oder Verdienste oder Vortrefflichkeit ..., sondern einfach deswegen, weil sie menschliche Wesen sind, die die Fähigkeit haben, Pläne zu machen und Gerechtigkeit zu üben.“ Am Grundsatz der Achtung des Menschen als Menschen, also an dem Respekt vor dem voraussetzungslosen Recht, Rechte zu haben, trennen sich Rechtssysteme von Gewaltsystemen. Immanuel Kant formuliert diesen Grundsatz in einprägsamer Kürze: „Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinem Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden anderen verbunden.”
Die rechtsethische Folgerung heißt: Der Angriff auf die Würde – also auf Leben und Integrität – eines anderen Menschen ist ein Angriff auf die elementaren Grundlagen des Rechts; er muss deshalb eine Reaktion der Rechtsgemeinschaft hervorrufen. Aber Anerkennung und Achtung gebühren jedem Menschen – auch dem noch, der die Würde anderer missachtet hat. Auch wer sich selbst würdelos verhalten hat, behält den Anspruch auf Achtung seiner Würde. Darin zeigt sich die humane Qualität einer Rechtsordnung. Sie steht nirgendwo mehr auf dem Prüfstand als im Bereich des Strafrechts, des Strafprozesses wie des Strafvollzugs.
Hat man diesen Zugang des christlichen Glaubens zur Sphäre des Rechts erst einmal gedanklich mit vollzogen, nimmt es wunder, wie lange die christliche Theologie sich ein scheinbar unproblematisches Verhältnis zur Rechtsautorität des Staates bewahrt und diese allermeist als Strafautorität gedeutet hat. Dagegen, dass die Strafautorität des Staates auch die Todesstrafe einschloss, wurde zwar in der Geschichte der christlichen Theologie immer wieder Protest eingelegt, über lange Zeit jedoch ohne jeden durchgreifenden Erfolg. Auch die Reformation drang noch nicht zu einer Konzeption menschlicher Würde vor, der gemäß das staatliche Strafhandeln an der personalen Integrität des Menschen eine notwendige Grenze findet. Erst mit der anthropologischen Wende der Aufklärungszeit kamen neue Überlegungen auf. Eher beschämend ist es, wie zögerlich sie in der Theologie Resonanz fanden.
Nun jedoch bahnte sich auch in der Theologie die Abwendung von einer Sühnetheorie der Strafe an; ihr gegenüber wurde nun auch theologisch der Gesichtspunkt der Besserung – oder wie man heute lieber sagt: der Resozialisierung - des Straftäters hervorgehoben. Aber unberücksichtigt blieb weithin eine andere Frage: Was muss geschehen, damit der Rechtsfriede für die Opfer strafbaren Handelns wieder hergestellt wird? Und was ist notwendig, damit die Gesellschaft im Ganzen vor der Gefahr einer Wiederholung der Straftat geschützt wird? Diesen beiden Fragen kann sich auch eine theologische Theorie der Strafe nicht entziehen. Deshalb hat sich schließlich auch diejenige Position nicht durchsetzen können, die das staatliche Strafhandeln ausschließlich an der Resozialisierung des Straftäters ausrichtet.
In der Strafrechtstheorie wie in der Rechtsethik gehören vielmehr diejenigen Konzeptionen, die den Sinn staatlichen Strafens aus einem einzigen Strafzweck abzuleiten versuchen, insgesamt der Vergangenheit an. Vergeltung, Generalprävention und Spezialprävention sind die Kurzbezeichnungen für die wichtigsten derartigen Strafzwecke. Eine einseitige Orientierung an einem dieser Strafzwecke überwindet man dann an ehesten, wenn man vom Grundvollzug staatlichen Strafhandelns ausgeht und nach seinen legitimen Aufgabenstellungen fragen. Legitim aber ist nur diejenige Strafe, die sich im Rahmen des Rechts begründen lässt, das heißt, die um der Freiheit willen notwendig ist. Wer die Legitimität der Freiheitsstrafe darlegen will, muss also zeigen können, dass der Entzug der Freiheit um der Freiheit willen geboten ist.
Eine solche Begründung ist im Blick auf die drei grundlegenden Funktionen nötig, die im staatlichen Strafen miteinander verbunden sind. Das staatliche Strafrecht droht Strafen an; es verhängt Strafen; es vollstreckt Strafen. Anders gesagt: Das Strafrecht verbietet, verurteilt und vollstreckt. Man muss nach der Legitimation und den Grenzen dieser drei Schritte fragen. Die klassischen Straftheorien sind schon deshalb unzureichend, weil sie sich in aller Regel nur auf einen dieser drei Schritte beziehen. Demgegenüber ist es nötig, alle drei Schritte miteinander in den Blick zu nehmen. Das kann ich hier nur in aller Kürze andeuten.
Das Strafrecht definiert die vom Staat von Rechts wegen verbotenen Handlungen. Es bezieht sich dabei auf diejenigen – und nur auf diejenigen – Rechtsgüter, deren Bewahrung um eines relativ ungefährdeten Zusammenlebens der Bürgerinnen und Bürger willen gewährleistet werden muss. Das Strafrecht definiert also diejenigen Rechtsgüter, deren Verletzung ein ungefährdetes Zusammenleben in Frage stellt: Leben, körperliche Integrität, Freiheit der Meinungsäußerung, des Zusammenschlusses und der Betätigung des eigenen Willens, Eigentum und so fort. Das Strafrecht hat diese Rechtsgüter zu sichern. Neben die individuellen Rechtsgüter treten dabei im Rahmen des modernen Leistungsstaats auch staatliche Leistungen der Daseinsvorsorge, die gegebenenfalls ebenso durch strafrechtliche Verbote gesichert werden müssen. Unter diesem Gesichtspunkt treten politische Straftaten oder Angriffe gegen öffentliche Versorgungseinrichtungen in den Blick.
Dabei hat das Strafrecht rein subsidiären Charakter. Wo immer der Zweck eines möglichst ungefährdeten Zusammenlebens durch andere Mittel – sei es durch außerrechtliche Mittel oder durch die Mittel des bürgerlichen oder öffentlichen Rechts – zu erreichen ist, hat das Strafrecht sich zurückzuhalten. Es ist sozusagen die ultima ratio der Staatsordnung.
Wie ist, so fragen wir in einem nächsten Schritt, das staatliche Verurteilen einschließlich der Strafzumessung zu rechtfertigen? Häufig wird gesagt: Die Verurteilung im Einzelfall soll der gesetzlichen Drohung zur allgemeinen Wirksamkeit verhelfen. Doch es gibt wichtige Strafverfahren, für die eine generalpräventive Wirkung nur schwer vorstellbar ist. Wie kann man mit diesem Argument beispielsweise die Fortsetzung von Verfahren wegen KZ-Verbrechen legitimieren? Kann man unter diesem Gesichtspunkt erklären, warum die Verfahren wegen DDR-Kriminalität durchgeführt und mit rechtskräftigen Urteilen abgeschlossen werden mussten, statt solchen Urteilen mit einer allgemeinen Strafbefreiung zuvorzukommen?
Eine Wiederholung der Straftaten war in beiden Fällen nicht zu befürchten – Gott sei Dank. Dennoch haben viele in der Verjährung von NS-Verbrechen ebenso eine Gefährdung des Rechtsfriedens gesehen wie in einer Amnestie für alle Formen der DDR-Regierungskriminalität. Solche Empfindungen sind nur dann nicht auf Rachegefühle oder Vergeltungswünsche zurückzuführen, wenn sie eine zwingende Begründung im Gedanken der Rechtssicherheit haben. Sie waren offenbar erforderlich, damit das Vertrauen in das Recht keinen Schaden nahm. Es wäre mit der Würde der Opfer, dem Schmerz von Hinterbliebenen, aber auch dem allgemeinen Rechtsbewusstsein nicht vereinbar, wenn die Sanktion für verübte Verbrechen in einem bestimmten Einzelfall nicht ausgesprochen und vollzogen würde. Tötungsdelikte und Sexualverbrechen, aber auch Folter und Erpressung sind dafür besonders massive Beispiele. Sie zerstören Menschenleben oder verletzen die menschliche Integrität so tief, dass auch das Rechtsvertrauen schweren Schaden leidet, wenn das rechtmäßige Urteil über solche Handlungen nicht ausgesprochen und vollzogen wird.
Die Orientierung des Rechts an der Würde der menschlichen Person muss im Fall des Strafrechts in zwei Richtungen zur Geltung gebracht werden: im Blick auf die Opfer ebenso wie im Blick auf die Täter. Es besteht eine Wechselbeziehung zwischen der Wahrung der Würde der Opfer durch die verlässliche Anwendung des Rechts und der Wahrung der Würde der Täter durch die entsprechende Qualität von Strafprozess und Strafvollzug. Im einen wie im andern Fall gilt, dass in der Anwendung des Strafrechts das Vertrauen in die Rechtsgemeinschaft und die Wahrung der Personwürde miteinander zum Ausgleich gebracht werden müssen.
Das leitet bereits zum dritten Schritt staatlichen Strafens zuwenden: dem Vollzug der im Urteil verhängten Strafe. Was rechtfertigt den Strafvollzug? Er ist ebenfalls an dem bisher zugrunde gelegten Maßstab, nämlich dem relativ ungefährdeten Zusammenleben der Menschen, zu orientieren. Und auch er ist daran zu messen, dass er diese Aufgabe mit der Achtung vor der Personwürde der Bestraften in Übereinstimmung bringt. Der Strafvollzug kann deshalb nicht an Gesichtspunkten der Vergeltung oder der Rache ausgerichtet sein. Der Gedanke der Schuldentsprechung kommt eher strafbegrenzend als strafbegründend ins Spiel. Sowohl der Gedanke der Sühne als auch derjenige der Wiedergutmachung dagegen scheiden bei der Bemessung und Gestaltung der Strafe aus. Denn die Sühne ist, theologisch betrachtet, aus den Möglichkeiten staatlichen Strafens ausgeschlossen. Die Wiedergutmachung aber kann nicht durch die Verbüßung einer staatlichen Strafe erfolgen, sondern kann - zumindest ansatzweise – allenfalls in einen Täter-Opfer-Ausgleich einbezogen werden. Er aber kann nur in Gang kommen, wenn zu allererst auf der Seite des Opfers eine innere Bereitschaft vorhanden ist. Von keinem Opfer kann wider seinen Willen ein Täter-Opfer-Ausgleich oder auch nur die Beteiligung daran erzwungen werden. Der Strafvollzug selbst aber ist insgesamt unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung zu organisieren. Integration, nicht Segregation ist sein Ziel.
Dass staatliches Strafhandeln nach wie vor auf das Mittel der Freiheitsstrafe zurückgreift, ist ohne Zweifel Ausdruck eines Dilemmas: des Dilemmas nämlich zwischen Freiheit und Sicherheit. Die schwer zu lösende Aufgabe besteht darin, für das Sicherheitsbedürfnis freiheitsverträgliche Lösungen zu finden und für die Gestaltung der Freiheit die notwendigen Sicherheitsvoraussetzungen zu schaffen.
Aus diesem Dilemma erklärt sich, warum Vorschläge zu alternativen Formen der Kriminalitätsbekämpfung bisher noch nicht weitergekommen sind. Angesichts dieses Dilemmas haben Vorschläge dazu, völlig auf die Freiheitsstrafe zu verzichten, sich bisher nicht durchsetzen können. Dabei muss man zugeben: Im Blick auf die Resozialisierung von Straffälligen ist die Haftstrafe ein sehr zwiespältiges Mittel; volltönende Behauptungen sind oft durch die Realität überhaupt nicht gedeckt. Mit der Haftstrafe verbindet sich vielmehr die Gefahr einer weiteren Kriminalisierung mindestens ebenso wie die Hoffnung auf Resozialisierung. Weit eindeutiger ist die Notwendigkeit der Haftstrafe in der Vorstellung begründet, dass die Sicherung der Gesellschaft vor der Straftäterin oder dem Straftäter eine solche Beschränkung ihrer Bewegungsfreiheit notwendig macht.
Solange die Kriminalitätsbewältigung die Freiheitsstrafe einschließt, können die Opfer oder ihre Hinterbliebenen ihren Frieden mit dem Recht nur schwer finden, wenn diese Strafe im Fall von schweren Kapitalverbrechen nicht angewandt wird. Auch wenn sie vom Vergeltungsgedanken für sich selbst Abstand genommen haben, auch wenn sie im Verbüßen einer Haftstrafe keine Wiedergutmachung des Leids erblicken, das ihnen zugefügt wurde, müssten sie in einer Verschonung von dieser Strafe genau in ihrem Fall einen Akt der Willkür erblicken, mit dem sie sich in der Regel nur schwer abfinden können. Das gehört zu den untergründigen Themen, die auch in der öffentlichen Debatte über das Gnadengesuch von Christian Klar immer wieder angeklungen sind.
V. Gefängnisseelsorge – eine wichtige kirchliche Aufgabe
Die Debatte über Christian Klar hat die Aufmerksamkeit wieder auf die Freiheitsstrafe – insbesondere die lebenslange Freiheitsstrafe – und ihre Folgen gelenkt. Das wird bei Ihnen als Gefängnisseelsorgerinnen und Gefängnisseelsorgern ein geteiltes Echo auslösen. Denn im Gefängnis ist es wie im wirklichen Leben: Der Blick auf die „Prominenten“ erschließt nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit. Und sie sieht beunruhigend aus: Schimmelbefall, bröckelnder Putz, feuchte Wände – so klingt beispielsweise die Beschreibung der Justizvollzugsanstalt Tegel in Berlin. Seit Jahren klagen Häftlinge über den miserablen Zustand des über hundert Jahre alten Gefängnisses. Der Aufenthalt in manchen Zellen sei inzwischen gesundheitsgefährdend, erklären Fachleute. Tegel ist kein Einzelfall. Auch in den anderen Berliner Haftanstalten wird über den schlechten baulichen Zustand geklagt. Zudem ist die medizinische Versorgung in die Kritik geraten. Die Gefängnisse sind überbelegt. Für einen menschenwürdigen Strafvollzug müssen sich die Verhältnisse ändern. Ich glaube, das stimmt nicht nur für Berlin.
Zur Würde des Menschen gehört die Möglichkeit, Seelsorge in Anspruch zu nehmen. Auch im Strafvollzug. Gefängnisseelsorge ist deshalb in einem unmittelbaren Sinn Dienst an der Menschenwürde. Seelsorgerinnen und Seelsorger in den Justizvollzugsanstalten sind sowohl für die Gefangenen als auch für die Bediensteten ansprechbar.
Wer in der Gefängnisseelsorge arbeitet, begegnet Gefangenen, die sich oft schwer damit tun, das Schuldhafte ihres Handelns anzuerkennen. Er wird zum Gesprächspartner der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Justizvollzug, muss aber zugleich das Vertrauen der Gefangenen bewahren, die ihm vielleicht den einzigen Ansprechpartner haben. Und er erlebt eine Gesellschaft, die mit ihrem Bedürfnis nach Vergeltung oftmals nach Sündenböcken sucht. Seelsorgerinnen und Seelsorger begegnen im Gefängnis Menschen, mit denen andere nichts zu tun haben wollen.
Wenn Seelsorger in den Gefängnissen arbeiten, dann wollen sie die Schwere menschlicher Schuld nicht verharmlosen. Aber sie wollen auch nicht neue Feindbilder aufbauen. Sie wollen der gleichen Würde jedes Menschen dienen. Sie wollen Menschen dabei helfen, sich ihrer Schuld zu stellen und einen neuen Anfang zu wagen. Sie stehen den Familien der Inhaftierten bei, die mit der Belastung der Trennung und einer möglichen sozialen Abgrenzung leben müssen. Seelsorgerinnen und Seelsorger versuchen, Brücken zu schlagen aus der abgeschlossenen Welt hinein in Kirchengemeinden, in Kirche und Gesellschaft.
In der noch immer wichtigen Denkschrift der EKD „Strafe – Tor zur Versöhnung“ heißt es: „Gefängnisseelsorge steht unter demselben Auftrag wie alle kirchliche Arbeit schlechthin.“ Das aber heißt: Die Gefängnisseelsorge – wie jede Seelsorge – muss sich am Handeln Jesu orientieren. Ich bin mir der Schwierigkeiten bewusst, die damit verbunden sind. Aber zu der Profilierung von Gemeindearbeit, für die wir im Zukunftsprozess der EKD so deutlich eintreten, wird bestimmt auch eine stärkere Vernetzung zwischen der Arbeit in den Ortsgemeinden und der Seelsorge in Justizvollzugsanstalten gehören. Denn die Definition des Gefängnisses als einer „totalen Institution“ werden wir ja aus der Perspektive der Kirche gerade nicht bestätigen wollen.
„Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr habt mich besucht.“ bzw. „Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.“ Die Zuwendung zu Menschen im Gefängnis hat im Evangelium einen klaren Ort; über die Gründe, deretwegen Menschen inhaftiert sind, wird in diesem Zusammenhang nichts gesagt. Aus dieser Perspektive danke ich Ihnen herzlich für Ihren Dienst, der einen wichtigen Teil kirchlicher Arbeit darstellt. Auch Ihr Arbeitsfeld war Gegenstand von oft mühevollen Strukturentscheidungen mit oft mühseligen Folgen. Auch für die Zukunft kann man das nicht ausschließen. Aber Sie sollen wissen, dass Ihre Arbeit wertgeschätzt wird und dass Sie auch in den Leitungsgremien unserer Kirche viele Fürsprecher haben. Sie ist eine der Formen, in denen die Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Gnade konkrete Gestalt annimmt. Der Mensch ist mehr als seine Taten.