Predigt am Sonntag Exaudi, im Berliner Dom über Johannes 14,15-19

Hermann Barth

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

Der heutige Sonntag steht zwischen zwei Festen des Kirchenjahres, die zwar beliebt sind, doch im allgemeinen nicht aus Gründen, die noch in einem inneren Zusammenhang mit ihrem ursprünglichen Sinn stehen. Unter den christlichen Feiertagen sind Christi Himmelfahrt und Pfingsten der Freizeitgesellschaft liebste Kinder. Sie eignen sich dafür, das Wochenende zu verlängern. Sie profitieren davon, daß sie am Beginn der "lieben Sommerzeit" liegen. Sie laden ein, alle unsere Sinne spazierenzuführen und 'Freude zu suchen an unsers Gottes Gaben'.

Auch dafür sind sie da. Gemeinsame freie Zeit ist etwas Wohltuendes und Lebenswichtiges, unter den heutigen Verhältnissen in Arbeitswelt und Familie noch mehr als in früheren Zeiten. Womit wir uns allerdings nicht zufrieden geben können, ist der Umstand, daß der ursprüngliche Sinngehalt dieser Feiertage in Vergessenheit gerät und vielen Menschen verlorenzugehen droht. Je stärker die allgemeinen Kenntnisse über den christlichen Glauben und das kirchliche Brauchtum schwinden, desto mehr kommt es darauf an, daß wenigstens wir selbst - noch oder wieder - darüber Bescheid wissen und uns dafür einsetzen, daß der Pegelstand dieser allgemeinen Kenntnisse zumindest nicht weiter sinkt. "Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist" - so steht es im 1. Petrusbrief (3,15). Und die Fähigkeit, Rechenschaft zu geben über die Hoffnung, die in uns ist, fängt an mit der Fähigkeit, Auskunft zu geben über das, was wir glauben und was wir feiern.

Der Predigttext, der in diesem Jahr für den Sonntag Exaudi vorgesehen ist, kommt da gerade recht. Er steht im 14. Kapitel des Johannesevangeliums und ist dort - wie schon das heutige Evangelium - Teil einer großen Redekomposition. In diesen sogenannten Abschiedsreden wendet sich der Jesus des Johannesevangeliums am Vorabend seines Todes an den Jüngerkreis:

(15) Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten.

(16) Und ich will den Vater bitten, und er wird euch einen andern Tröster geben, daß er bei euch sei in Ewigkeit:

(17) den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein.

(18) Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; ich komme zu euch.

(19) Es ist noch eine kleine Zeit, dann wird mich die Welt nicht mehr sehen. Ihr aber sollt mich sehen, denn ich lebe, und ihr sollt auch leben.

I.

Jesus bereitet seine Jünger mit diesen Worten auf die Situation vor, in der er nicht mehr unter ihnen sein wird, jedenfalls nicht mehr in der Weise, wie unter den Verhältnissen dieser Welt Menschen beieinander sind: "Es ist noch eine kleine Zeit, dann wird mich die Welt nicht mehr sehen." Mit seiner Himmelfahrt ist diese Zeit vollends, nämlich auch für die Jünger selbst, abgelaufen. Die Himmelfahrtsszene ist eine Szene des Abschieds und der Trennung. Die Jünger bleiben auf dem Ölberg zurück. Jesus nimmt in der Abschiedsrede des Johannesevangeliums in Gedanken vorweg, wie sich die Jünger fühlen werden: verwaist, verlassen, ohne Beistand, auf sich gestellt.

Unsere Lage, die objektive Lage der Jüngerinnen und Jünger von heute ist eine ganz andere als in der ersten Generation. Und doch - vom subjektiven Empfinden her, sozusagen nach der "gefühlten" Lage gibt es Gemeinsamkeiten. Gott scheint heutzutage vielen weit weg. Seine Unsichtbarkeit ist schwer auszuhalten. Was waren das - so wähnt man jedenfalls - noch für Zeiten, als Gott zum selbstverständlichen Inventar des vernünftigen Denkens gehörte und im Weltbild diese Welt und jene Welt, die irdische Zeit und die Ewigkeit ihren festen Platz hatten!? All diese Vorstellungen sind unsicher und strittig geworden. In biblischen Zeiten ließ Gott die Botschaft ausrichten: "Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen" (Jeremia 29,13f). Gilt diese Verheißung noch? Die Saat des Zweifels ist unter uns aufgegangen. Hat Gott sich zurückgezogen? Leben wir in einem Zeitalter der Gottesfinsternis? Mit einem Bild aus dem Predigttext gefragt: Sind wir Waisen Gottes?

So betrachtet sind die Geschichten von Christi Himmelfahrt überhaupt nicht abständig. Sie wenden sich, heute so gut wie einstmals, an Menschen, denen Gott - oder besser: die vertraute Weise, Gott zu begegnen und Gottes Nähe zu erfahren - abhanden gekommen ist. An Menschen also, denen es so vorkommt, als seien sie von Gott im Stich gelassen und darum auf sich gestellt. Die Geschichten von Christi Himmelfahrt verfolgen - wenn auch auf unterschiedlichen Wegen - alle das gleiche Ziel: uns in einer solchen Situation dessen gewiß zu machen, daß Gott sich nicht zurückgezogen hat, sondern unser Beistand bleibt.

Das Matthäusevangelium bringt das im Abschiedswort Jesu auf die knappe Formel: "Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende" (28,20). In diesem kurzen Satz steckt eine große Kraft, und jedes Mal, wenn er erklingt, wird seine Kraft freigesetzt. Er ist ein kräftiges Gegenmittel, wenn Unsicherheit und Zweifel uns befallen und Herz und Verstand angreifen. Am besten wirkt dieses Medikament, wenn es von anderen verabreicht wird. Denn niemand kann sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen. Wer von der Frage geplagt ist, ob Gott sich zurückgezogen hat und ferngerückt ist, wird weder große Neigung haben, nach einer Zusage Gottes zu greifen, noch ihr viel zutrauen. In dieser Situation sind wir aufeinander angewiesen. Dann werden Mitmenschen und Glaubensgeschwister gebraucht, die auf andere achthaben, sie aufrichten und ihnen gegenüber für Gottes Zusage einstehen.

In der Himmelfahrtsgeschichte des Lukas kündigt Jesus - etwas anders als in der Version des Matthäus - die bleibende Gegenwart Gottes in Gestalt des Geistes an: "Ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein" (Apostelgeschichte 1,8). Ganz ähnlich läßt das Johannesevangelium - ohne daß dieses eine ausdrückliche Himmelfahrtsgeschichte kennt - Jesus in den Abschiedsreden sprechen: "Ich will den Vater bitten, und er wird euch einen andern Tröster geben: ... den Geist der Wahrheit ... Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen". Mit dem Hinweis auf die Gabe des Geistes kommt neben Christi Himmelfahrt auch das Pfingstgeschehen in unseren Blick.

II.

Niemand darf erwarten, daß einzelne Texte des Neuen Testaments bereits eine fertige theologische Vorstellung vom Pfingstgeschehen enthalten. Diese Vorstellung bildete sich erst im Lauf der Jahrhunderte - und die Entwicklung ist, wenn wir insbesondere auf die stürmische Entwicklung der Pfingstkirchen und -gemeinden blicken, eigentlich bis heute nicht abgeschlossen. Der Besuch des Papstes in Brasilien hat die weltweite Aufmerksamkeit auf die Pfingstbewegung gelenkt, und viele Berichte und Kommentare spiegelten die Unsicherheit in der Urteilsbildung über dieses Phänomen. Wo sich Kirchen und Gemeinden und einzelne Christen - ihrem Selbstverständnis nach - dem Wirksamwerden der Geistkraft Gottes überließen, war das schon immer beides: faszinierend, mitreißend, erhebend, aber zugleich beunruhigend, verunsichernd, unheimlich. Auf der einen Seite war das kreativ und lebendig, ein positives Gegenbild zu vielen Erstarrungen und Verkrustungen in unserer eigenen kirchlichen und gottesdienstlichen Tradition; aber auf der anderen Seite wirkt es so schrecklich unordentlich, alle Regeln und Grenzen wegspülend, nicht mehr einzufangen - und in diesem einerseits/andererseits bleibt es bei der Unsicherheit, ob die Gefühle der Distanz und der Befremdung nur der eigenen Ängstlichkeit geschuldet oder doch biblisch gut begründet sind.

Der Predigttext verbindet das pfingstliche Geschehen wie das Neue Testament insgesamt mit der Gabe des Geistes. Auch wenn man die anderen einschlägigen Aussagen des Johannesevangeliums (wie das Evangelium des heutigen Sonntags) hinzunimmt - eine Verwandtschaft mit dem Enthusiasmus der Pfingstbewegung ist nirgendwo zu spüren. Der Geist wird inhaltlich bestimmt als "Geist der Wahrheit". Schon das klingt eher nach Bändigung als nach Entfesselung der Kräfte. Ja, es heißt an einer späteren Stelle der Abschiedsreden Jesu: "Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. Er wird nicht aus sich selber reden, sondern was er hören wird, das wird er reden ... Von dem Meinen wird er's nehmen und euch verkündigen" (16,13f). Das ist nicht die Vorstellung von einem freien Schalten und Walten, nicht die Erwartung ungeahnter Entdeckungen und großer Überraschungen, vielmehr der Gedanke der Weiterführung und Vollendung des Wirkens Jesu. Ausdrücklich wird gesagt: Der Geist „wird nicht aus sich selber reden.“

Das ist überhaupt bezeichnend: Der Geist ist nicht eine neue, eigenständige Größe, sondern gehört aufs engste zusammen mit Jesus und dem himmlischen Vater. Man kann es noch pointierter sagen: Der Vater, der Sohn und der Geist sind eins. Das wird an einem Detail des Predigttextes vollends deutlich. Jesus kündigt zunächst an: Der Vater wird euch den Geist der Wahrheit geben; die Welt "kennt ihn nicht. Ihr aber kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein" - um jedoch im nächsten Vers fortzufahren: "Ich komme zu euch ... Dann wird mich die Welt nicht mehr sehen. Ihr aber sollt mich sehen". Von hier aus ist der Weg nicht weit zum Gedanken des dreieinigen Gottes und zu den Formulierungen des 3. Artikels im Glaubensbekenntnis von Nizäa und Konstantinopel: "Wir glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird".

III.

Das Wort, das in diesem Gottesdienst - in den biblischen Lesungen, in den Liedern und in den Gebeten - mit am meisten vorkommt, ist „Trost“ oder „trösten“. Ihm wollen wir uns zum Schluß zuwenden. Im Predigttext und an anderen Stellen der Abschiedsreden gibt der Jesus des Johannesevangeliums dem Geist der Wahrheit und damit Gott den Namen "Tröster“: "Ich will den Vater bitten, und er wird euch einen andern Tröster geben, daß er bei euch sei in Ewigkeit." Das heißt: Er wendet den Namen "Tröster" auf sich selbst an, er stellt sein jetzt zu Ende gehendes irdisches Wirken unter die Überschrift "Trost", und der himmlische Vater wird den Seinen einen andern Tröster geben, der nicht nur auf Zeit, sondern in Ewigkeit bei ihnen, ja, in ihnen sein wird.

Der Gott, von dem wir aus der Bibel erfahren, erhält in ihr eine Fülle von Namen und Bezeichnungen. Sie ergänzen sich gegenseitig. Keiner und keine von ihnen hat einen in der Sache liegenden Vorrang. Aber es gibt subjektive Vorlieben. Ich bekenne freimütig, daß in meiner persönlichen Bestenliste der Name "Tröster" oder "Trost" ganz weit oben steht. In den Liedern dieses Gottesdienstes wird das auch erkennbar. Es gibt wenig andere Gottesnamen, die so viele Anknüpfungspunkte am menschlichen Handeln haben und zugleich so überzeugend sowohl auf das bewahrende Handeln des Schöpfers und himmlischen Vaters als auch auf das Heilswerk Jesu als endlich auf das Wirken des Geistes passen.

Das griechische Wort, das Luther mit "Tröster" übersetzt hat, wird von anderen mit "Fürsprecher" oder "Anwalt" oder "Beistand" wiedergegeben. Aber das mag hier auf sich beruhen, denn die Bedeutungsbreite von "Trost" ist groß genug, um auch die anderen Aspekte einzuschließen. Die sprachliche Wurzel von "Trost" ist dieselbe wie bei Treue und Trotz und dem englischen trust. In Luthers Texten findet sich häufig die Verbindung "Trost und Trotz" im Sinne von "Zuversicht und Stärke". Er konnte auch noch vom "Trost wider etwas" reden:

Der Geist Gottes tröstet die verzagten Gewissen wider die Anklagen und Anfechtungen der Sünde. Die unverbrauchte Kraft dieses Wortes hängt vermutlich damit zusammen, daß es nicht auf eine einzige Bedeutungsnuance festgelegt werden kann, sondern eine Vielzahl von Assoziationen weckt: Zuspruch, Ermutigung, Beistand, Hilfe. Aber auch der Zustand, der durch Zuspruch und Beistand herbeigeführt wird, ist gemeint: innere Ruhe, Mut, Zuversicht. Trost macht getrost, das heißt: ruhig, gelassen, tapfer.

In diesem Lichte betrachtet kann es nicht verwundern, daß der Heidelberger Katechismus  seine Frage 1 dem Trost widmet und ihn inhaltlich in drei Abschnitten entlang dem Handeln des dreieinigen Gottes entfaltet. Ja, die Frage 1 des Heidelberger Katechismus ist ein Summarium des christlichen Glaubens in kürzester und dichtester Form:

Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?

Daß ich mit Leib und Seele,

beides, im Leben und im Sterben,

nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin,

der mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt

und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst hat

und also bewahrt,

daß ohne den Willen meines Vaters im Himmel

kein Haar von meinem Haupt kann fallen,

ja auch mir alles zu meiner Seligkeit dienen muß.

Deswegen er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens versichert und ihm forthin zu leben von Herzen willig und bereit macht.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Weiter: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es ein Lob - darauf seid bedacht!

Amen.