Predigt über Jeremia 23, 16 – 29 in der Hauptkirche St. Michaelis zu Hamburg

Robert Leicht

Unser Predigttext für den heutigen Sonntag (Jeremia 23, 16 – 29) beginnt  mit den folgenden Sätzen:

So spricht der HERR Zebaoth: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie betrügen euch; denn sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen und nicht aus dem Mund des HERRN.

Ist das nicht merkwürdig? Da haben wir eben erst, vor vierzehn Tagen, das Pfingstfest gefeiert, das Fest der weltumspannenden Einheit im Geiste – und heute geht es um die schroffe Scheidung der Geister, um den Kampf zwischen richtigen und falschen Propheten. Erst also Pfingsten, jener Tag, an dem die Leute zwar in allerlei Sprachen der Welt durcheinander redeten – aber einander doch verstanden und eines Sinnes waren. Und heute? Nicht wahr, wir sprechen alle Deutsch – aber verstehen wir Christen uns einander wirklich, in Deutschland? Oder auch nur die Protestanten in Nordelbien, oder wenigstens im Sprengel Hamburg? Oder immerhin hier im Michel? Um von unserem Verhältnis zu den Unierten, den Reformierten, gar den Katholiken und den Freikirchen – oder von den Alt-Lutheranern! – noch nicht zu reden. Und was sagen wir dazu, dass ein prominenter Protestant und früherer Bundesminister aus Hamburg in schöner Regelmäßigkeit über der Evangelischen Kirche das Unheil verkündet: Sie sei geistlich sozusagen zutiefst verfault – und dabei sei die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare, so sie und wo sie stattfindet, nur ein Übel unter vielen. Ja, was sollen wir zu solcher Schelt- und Fluchrede sagen? – Nun zunächst, dass sie uns aufs erste Hören durchaus an unseren Predigttext erinnert – in den wir nun etwas genauer hineinhören wollen:

LUT Jeremiah 23:16 So spricht der HERR Zebaoth: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie betrügen euch; denn sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen und nicht aus dem Mund des HERRN. 17 Sie sagen denen, die des HERRN Wort verachten: Es wird euch wohlgehen -, und allen, die nach ihrem verstockten Herzen wandeln, sagen sie: Es wird kein Unheil über euch kommen. 18 Aber wer hat im Rat des HERRN gestanden, daß er sein Wort gesehen und gehört hätte? Wer hat sein Wort vernommen und gehört? 19 Siehe, es wird ein Wetter des HERRN kommen voll Grimm und ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der Gottlosen niedergehen. 20 Und des HERRN Zorn wird nicht ablassen, bis er tue und ausrichte, was er im Sinn hat; zur letzten Zeit werdet ihr es klar erkennen….

25 Ich höre es wohl, was die Propheten reden, die Lüge weissagen in meinem Namen und sprechen: Mir hat geträumt, mir hat geträumt. 26 Wann wollen doch die Propheten aufhören, die Lüge weissagen und ihres Herzens Trug weissagen 27 und wollen, daß mein Volk meinen Namen vergesse über ihren Träumen, die einer dem andern erzählt, wie auch ihre Väter meinen Namen vergaßen über dem Baal? 28 Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen? spricht der HERR. 29 Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der HERR, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?

Wer also hat nun recht – wer ist nun der richtige, wer ist der falsche Prophet? Beim Propheten Jeremia steht es ja nun fest. – Aber wie ist das nun zum Beispiel mit unserem protestantischen Alt-Politiker (und Alt-Lutheraner) – oder, umgekehrt, wie ist es mit seinen Kritikern? Darf man gleichgeschlechtliche Paare segnen – oder nicht? Muss man die Bibel in allen faktischen Angaben wort-wörtlich nehmen, auch dort, wo uns die Naturwissenschaften längst etwas ganz anderes sagen – oder muss die Heilige Schrift vielmehr historisch-kritisch lesen? Muss man unbedingt evangelikal und konservativ – oder darf man auch liberal sein, wenigstens ein bisschen?

Machen wir uns nicht allzu große Hoffnungen, dass allzu schnell herauszubekommen. Denn auch bei Jeremia hat das ein Weilchen, ja mehr als ein paar Jahrzehntchen gedauert, bis seine Bearbeiter und Leser gesagt hatten: „Oh, je – der hatte ja ganz recht!“ Das Buch Jeremia ist, kurz gesagt, ein Buch aus dem Rückblick: Die End-Redakteure sammeln und vervollständigen das Material des Jeremia (und das fromme Volk der Juden  bewahrt das Ergebnis so auf) – nach der sturztiefen nationalen Katastrophe der  Niederlage gegen Babylon, in und nach dem Exil am Euphrat, in Bagdad also gewissermaßen. Jetzt auf einmal – und eben erst hinterher – geht den Zeitgenossen auf: Jeremia hatte recht, wir haben auf die falschen Propheten gehört und unsere nationale und religiöse Katastrophe selber verschuldet. Und Gott ist mit seinem Strafgericht über uns gekommen, wie mit Feuer und Hammer – alles, die ganze Stadt Jerusalem und den Tempel kurz und klein geschlagen und niedergebrannt, wie zum Beispiel auch im Juli 1943 die Stadt Hamburg, den Michel inklusive.

Ja – und hinterher, erst hinterher da rechnen wir alle die „Barmer Theologische Erklärung“ von 1934 zu den richtigen Prophetien – obwohl selbst heute die Lutheraner immer noch zögern, sie als regelrechte Bekenntnisschrift anzunehmen. Aber wie wäre das damit geworden, wenn – schreckliche Annahme! – Adolf Hitler immerhin ein bisschen gesiegt hätte? Dann würden wir gewiss immer noch streiten, ob die Leute von der Bekennenden Kirche wirklich die richtigen Propheten waren – so wie wir sie jetzt, hinterher, manchmal etwas zu vollmundig zu immer wackeren Helden stilisieren und so tun, als sei die ganze Evangelische Kirche damals eine bekennende Kirche gewesen. Nur, dass damals eben kaum jemand auf ihre Botschaft gehört hat und deren Konsequenzen auf sich genommen hätte.

Ja, hinter ist man eben schlauer – und das ist immer noch besser, als nie dazu gelernt. Aber was würde ein Dietrich Bonhoeffer, ein Karl Barth zu unserer heutigen Lage sagen? Und was wir zu ihnen? Manchmal kommt es mir so vor, als verdecke die späte Verehrung Bonhoeffers als Märtyrer, wie fremd uns seine Predigt heute in Wirklichkeit wäre.

Sei’s drum: Das Buch Jeremia wurde aufgeschrieben, damit man nicht nur immer erst hinterher merkt, wer nun der richtige Prophet war und wer die falschen Propheten, die anders als Jeremia nicht das Unheil vorhersahen, sondern die – ganz zu Unrecht – lauter Heil verkündeten, also gerade wie die nazistisch trunkenen „Deutschen Christen“, die damals sagten, mit Hitlers Aufkommen werde nun  [„Heil Hitler!“, riefen sie dazu] alles „heil“ –  „welche Wendung durch Gottes Fügung!“. Die wenigen aber, die das Unheil als Folge des eingeschlagenen Irr- und Sündenwegs in aller Deutlichkeit  vorhersahen, fanden eben so wenig Gehör und wirksame Gefolgschaft – wie Jeremia. Wir sagen heute: Auschwitz – das konnte doch keiner ahnen! Mag sein… Aber dass damals alles andere als Gottes Wege betreten wurden, war das etwa gar nicht zu erkennen?

In der Verlegenheit, nicht erst wieder auf die Katastrophe als Entscheid über richtig und falsch warten zu müssen, führt das Autoren- und Redaktionsteam – und an dieser Stelle, wie uns die Alttestamentler heute belehren  – zum allerersten Mal in der Glaubensgeschichte – ein neues Kriterium ein : „Gottes Wort“ . Sprechen unsere heutigen Propheten (oder Pastoren – oder die Protestanten zur Rechten wie zur Linken) wirklich aus Gottes Wort – oder reden sie aus ihrem Eigensinn, aus ihrer theologischen Rechthaberei, aus ihrer politischen Verblendung, aus ihren religiösen Illusionen oder – ganz  und gar dumm – nur aus ihrem Bauch? Verkünden sie – wie  es in unserem Predigttext heißt: euch Gesichte aus ihrem Herzen  - oder aus dem Mund des HERRN?

Gottes Wort – da richtet sich der Lutheraner in uns auf und sagt: Haben wir doch immer schon gesagt: sola scriptura! Und gesungen: Das Wort sie sollen lassen stahn…

Schon recht! Aber unsere eigene Kirchengeschichte zeigt uns, dass das sola scriptura und das solo verbo, dass die Kriterien „allein die Schrift“ und „allein das Wort (Gottes)“ nicht umstandslos und eins-zu-eins in Deckung zu bringen sind. Es hat schon mancher sich auf die Heilige Schrift berufen – und war doch ein falscher Fuffziger, pardon: Prophet! So hat zum Beispiel der berüchtigte Reichsbischof Müller nach 1933 die Bergpredigt für den „deutschen Volksgenossen“ so übersetzt, dass vom Wort Gottes gleich gar nichts mehr übrig blieb: „Wohl denen, die mit ihren Volksgenossen (also nur mit den eigenen Volksgenossen! R.L.)  Frieden halten; sie tun Gottes Willen“ – hieß es da an Stelle der Seligpreisung der umfassenden Friedfertigkeit; dies alles unter der Überschrift: „Deutsche Gottesworte“.

Und woher nehmen wir heute die Gewissheit, dass von unseren Kanzeln stets nur das Wort Gottes unverfälscht und unvermischt gepredigt wird? – so wie es in unserem Augsburger Bekenntnis heißt: „Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, dass das Evangeliums einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort (da haben wir wieder das jeremianische Kriterium!) gemäß gereicht werden.“ Diese Gewissheit muss uns doch einigermaßen abhanden gekommen sein angesichts des nicht nur gelegentlich offenkundigen Durcheinanders in unserer geliebten Kirche…

Wir können, machen wir uns nichts vor!, das Problem nicht mit einem Handstreich auflösen, wenn überhaupt. Aber unser Predigttext kann uns für das Problem und seine Bedeutung immer neu sensibilisieren. Einige Hinweise also für heute:

Erstens: Auf die Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Propheten kommt es offenkundig an. Diese Unterscheidung ist also nicht etwa gleichgültig, der Unterschied ist keineswegs  trivial – so liberal man auch eingestellt sein mag.

Zweitens: Unterscheiden – das heißt im griechischen: krinein. Unser Fremdwort „Kritik“ kommt von diesem griechischen Wort her. Christlicher – wie übrigens auch jüdischer - Glaube kann nicht anders existieren denn als kritischer Glaube, als ein unterscheidender Glaube.

Drittens: Dieser unterscheidende Glaube setzt immer zuerst beim Glaubenden selber an. Der Glaubende muss zuallererst – und zuallerletzt – stets sich selber (und nicht gleich selbstgerecht die anderen fragen): Glaube ich, verkünde ich euch Gesichte aus meinem Herzen – oder aus dem Mund des HERRN? – Rede ich etwa nur mir selber zu aus meinem in sich selbst verliebten Herzen?

Viertens: Was wir glauben können und dürfen, finden wir nirgends anders als in der heiligen Schrift. In der Tat : sola scriptura! Oder wie es in der ersten These der Theologischen Erklärung von Barmen heißt:

Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.

Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.

Fünftens: Dann aber bleibt uns immer noch die Aufgabe, die Heilige Schrift unterscheidend auszulegen – die Schrift selber und erst recht, das, was unter Berufung auf sie gesagt wird. Und dabei muss es sich herausstellen, ob das, was unter Berufung auf das Prinzip sola scriptura, allein die Schrift, gesagt wird, wirklich den Kern dessen trifft, was mit solo verbo, was allein mit dem Wort Gottes gesagt und gemeint ist. Wir haben also zwischen sola scriptura und solo verbo scharf zu unterscheiden – aber dies mit dem einzigen Ziel, dass das eine mit dem anderen am Ende genau übereinstimmt – auf dass sich nichts Falsches, Eigensüchtiges, Selbstgerechtes und Selbstherrliches oder Opportunistisches dazwischendrängt. Oder wie es in der sechsten, der letzten der Barmer Thesen heißt:

Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne die Kirche in menschlicher Selbstherrlichkeit das Wort und Werk des Herrn in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen.

Das aber ist genau das, was in unserem Predigttext mit der Warnung gemeint ist:

Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie betrügen euch; denn sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen und nicht aus dem Mund des HERRN.

Liebe Gemeinde!

Zu guter Letzt können wir nur jeden Tag neu hoffen, dass sich das Wort Gottes aus der Heiligen Schrift immer wieder selber besser auslegt, als wir das tun können. Dieses selbstkritisches Bewusstsein und diese tröstliche Hoffnung soll – und nur sie kann! –  uns davor bewahren, dass wieder einmal erst eine geistliche und nationale Katastrophe über uns hereinbrechen muss, bevor wir dann sagen: Oh je, da hatte der Prophet mit seinen Mahnungen doch recht gehabt! Hätten wir das doch nur früher begriffen und beherzigt! – Wie damals vor der Zerstörung Jerusalems und des Tempels, wie damals vor der Zerstörung Hamburgs und des Michels…

Es ist nämlich einfach so: Buße, Umkehr also, Unterscheidung zwischen falsch und richtig – die Buße vor der Katastrophe ist immer besser als –  danach. Das ist es, was uns unser Predigttext aus dem Buch Jeremia mitgeben will, für die neue Woche und für unser ganzes Leben im Großen wie im Kleinen. Und deshalb singen wir nun gemeinsam aus dem Bußlied

Nr. 145 Vers 1,2 + 7.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als selbst unsere unterscheidende Vernunft, bewahre unsere Herzen in Christus Jesus.

Amen