Da ist aber einer über sich hinausgewachsen - Predigt über Lukas 19, 1-10 in der Hauptkirche St. Michaelis zu Hamburg
Robert Leicht
Wir alle kennen das: Wenn von einer Person etwas kommt, was wir nie von ihr erwartet haben würden, wenn also jemand etwas tut, was wir ihm nie zugetraut hätten, dann sagen wir: Da ist aber einer über sich hinausgewachsen! Und meistens wollen wir damit ausdrücken, dass dieses unerwartet Neue eigentlich in dieser Person - so, wie wir sie seit langem kannten – nicht angelegt war. Eben! Da ist jemand wirklich über sich hinausgewachsen, über seine Beschaffenheit, seinen Charakter, seine Begabung, sein Image, über sein geistiges Vermögen und seine moralische Kraft hinaus. Eigentlich also ein Wunder! Von einem solchen Menschen, der völlig unerwartet über sich hinausgewachsen ist, von einer solchen wundersamen Geschichte also erzählt der Predigttext für den heutigen Sonntag. Wir finden ihn im Lukasevangelium im 19. Kapitel, Vers 1-10:
LUT Luke 19:1 Und er ging nach Jericho hinein und zog hindurch. 2 Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. 3 Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. 4 Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen. 5 Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muß heute in deinem Haus einkehren. 6 Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. 7 Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. 8 Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. 9 Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn. 10 Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.
Wirklich: Da ist einer weit über sich hinausgewachsen! Wie weit, das macht uns diese Geschichte vom Zöllner Zachäus, genauer: vom Oberzöllner Zachäus gleich am Anfang - fast wie in einer Karikatur - deutlich. Denn der Mann wird uns als körperlich auffallend klein vorgestellt. Sein körperlicher Status scheint seinem gesellschaftlichen Status direkt zu widersprechen, denn er war ja nicht nur Zöllner, sondern Oberzöllner.
Nun haben diese Zöllner des Neuen Testaments ja nicht an den Grenzen Einfuhr- und Ausfuhrzoll erhoben, sondern sie waren in Wirklichkeit Steuereintreiber. Die Obrigkeit verpachtete nämlich ihren Steuererhebungsanspruch an solche Eintreiber, die anschließend zusehen mussten, dass sie die Pachtsumme bei den Steuerpflichtigen mit allen drückenden Mitteln eintrieben – und sie lebten davon, dass sie deutlich mehr eintrieben, als sie an die Obrigkeit abführen mussten. Und diese Obrigkeit war nun auch noch die verhasste römische Besatzungsmacht, die Zöllner waren also mit ihr zusammen verachtet, gewissermaßen als presserische Kollaborateure, als profitierende Handlanger der Unterdrücker.
Zachäus aber hatte es schon so weit gebracht, dass er sich seine Hände nicht mehr eigens mit solchen Methoden schmutzig machen musste. Als Oberzöllner hat er seine Unterzöllner unter sich, wie in St. Pauli einige Herren ihre Mädchen. Also: Zachäus war nicht nur klein anzusehen, sondern – wenngleich reich – auch sonst von niedrigem Ansehen.
Er musste, um den Durchzug einer besondern Gestalt zu sehen (man erinnert sich an die Menschentrauben an Laternenpfählen und an Fenstern und Balkonen, wenn ein Papamobil vorbeikommt), auf einen Baum steigen. Und wie wenig ansehnlich Zachäus war, erkennen wir erst recht, wenn wir uns klar machen, dass dort, wo in Luthers Übersetzung „Maulbeerbaum“ steht, im Urtext ein Maulbeerfeigenbaum gemeint war. Dabei handelt es sich aber um einen Baum mit so dichtem Blattgewächs, dass derjenige, der hinein steigt, eigentlich nicht mehr von anderen gesehen werden kann. Da denkt man unwillkürlich an Adam, der sich nach dem Sündenfall unter den Bäumen des Paradieses vor Gott versteckt. Denn das unterscheidet unseren Zachäus von den Menschen, die auf das Papamobil aus sind: Die wollen ja nicht nur ihrerseits den Papst sehen, sondern hoffen auch noch darauf, dass der Papst sie selber vielleicht sieht und ihnen ein freundliches, gar segensreiches Zeichen gibt. Zachäus jedoch möchte zwar Jesus unbedingt sehen, aber nicht etwa von Jesus gesehen werden.
Da aber hat er sich verrechnet: Denn nicht nur macht ihn Jesus in seinem Baumversteck und Blattausguck aus. Er kennt ihn auch noch sofort bei Namen – oder sollte er landesweit schon so weit verrufen gewesen sein? Aber nicht nur das: Jesus will bei Zachäus einkehren – und das nicht irgendwann, gelegentlich („Wir sehen uns noch…“), sondern sofort, auf der Stelle – als gäbe es nicht Dringlicheres.
Dies löst nun zweierlei aus: Erstens den Protest der Umstehenden, der Frommen, der bürgerlich und religiös Korrekten: Der geht zu so jemandem! Dabei wissen wir gar nicht, ob es sich um Leute handelt, die zu den Gegnern des Jesus von Nazareth zählen – und die schon deshalb seine Gegner sind, weil er sich mit solchen Leuten einlässt - , oder ob wir es mit Anhängern Jesu zu tun haben, die dennoch Anstoß an seinem Umgang nehmen; möglicherweise sowohl das eine als auch das andere…
Wobei der von ihnen verwendete Ausdruck „Sünder“ nach unseren Hörgewohnheiten eigentlich schon zu flach klingt, wir sind ja irgendwie alle allzumal Sünder. Nein, er geht zu einem Lakaien der Besatzer, zu einer national, sozial und religiös unzuverlässigen Figur, eigentlich zu einem Volksverräter, zu jemandem, der sich selber aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen hat. Zweitens aber geschieht, dass Zachäus über sich hinauswächst. Die Augenzeugen des Vorfalls bleiben haarscharf genau das, was sie schon immer waren, anständige und selbstgerechte Leute. Zachäus aber bleibt genau das, was er schon immer war – gar nicht mehr.
Die Hälfte seines Vermögens will er – und zwar nicht als Bedingung für den Besuch Jesu, sondern als dessen Folge! – den Armen geben, überdies will er auch noch die erpressten Beträge vierfach zurückerstatten. Also, da dürfte für ihn nicht mehr viel übrig bleiben. Aber, nochmals: Er sagt nicht: „Falls Du zu mir kommst, werde ich…“, sozusagen als Gegengeschäft – sondern: „Weil Du zu mir gekommen bist, will ich…“ Was ansonsten die Rückerstattung der erpressten Beiträge angeht, so verdoppelt er die nach dem zeitgenössischen Recht vorgesehene doppelte Summe auf die vierfache, er genügt also nicht nur dem rechtlich an sich Vorgesehenen. Wir haben es in dieser Episode übrigens, obwohl bei Lukas mit derlei durchaus zu rechnen wäre, nicht mit einer generellen Kritik am Reichtum zu tun, sondern mit einem Vermögen, das auf speziell illegitime Weise zusammengerafft worden war.
Kurz und gut - Zachäus, obwohl von Natur aus zu kurz gewachsen und von sozialem Ansehen durchaus niedriger Natur, wächst weit über sich hinaus: Hinaus über das, was man sich von ihm erwartet hätte, sogar über das hinaus, was das damalige Recht, wenn es denn durchgesetzt worden wäre, von ihm erwartet hätte, und erst recht im Ansehen durch Jesus von Nazareth über das, was er sich selber vorgestellt hätte, vor allem aber über das hinaus, was seine Zeitgenossen ihm – und Jesus von Nazareth zugestanden – hätten.
Und die Moral von der Geschicht’? Die Pointe der Geschichte liegt wohl gerade darin, dass sie uns eben eine solche Moral vorenthält. Diese Geschichte sagt eben gerade nicht, wie wir das gelegentlich so gerne predigen – und zwar nicht nur in der Kirche: Ihr müsst dieses tun oder jenes, damit… Sondern sie zeigt uns gerade die geradezu absolute Voraussetzungslosigkeit der Begegnung mit Jesus von Nazareth und deren unbegrenzte Potenz, die Dinge aus dem Lot – und damit recht eigentlich ins Lot zu bringen. Mitunter reicht eben auch die schlichte, vielleicht sogar etwas sensationslüsterne Neugier aus, eine solche radikale Umkehr auszulösen – und erstaunlicherweise ist nicht einmal ein skandalöser Lebenswandel jenes Hindernis, das die fromm und gerecht Denkenden gerne aufgerichtet sähen. Nicht die ethische Korrektheit ermöglicht die Begegnung, sondern – umgekehrt - die Begegnung befreit zur ethischen Sensibilität!
Und so ist das überhaupt in der Begegnung mit diesem Jesus von Nazareth: Sie befreit uns, wenn sie gelingt – und das liegt wohl zum Wenigsten an uns selber! - , von unseren uns angeborenen und eingewachsenen Wachstumshindernissen. Sie lässt uns über uns selbst hinauswachsen, weil sie uns von uns selber befreit – und von unserem Habenwollen und Seinwollen.
Also haben wir keinen Grund diese Begegnung zu scheuen. Steigen wir, sei’s drum, ruhig auch einmal auf einen Maulbeerfeigenbaum, zumal wenn wir den durchaus berechtigten Eindruck haben, dass wir uns vor den anderen eigentlich nicht sehen lassen können. Erst recht aber sollten wir aber nicht auf den Gedanken verfallen, wir sollten oder könnten anderen eine solche Begegnung absprechen, nur weil sie nicht ganz (oder: ganz und gar nicht) unserem Normbild religiöser oder bürgerlicher Anständigkeit entsprechen. Natürlich machen wir alle unter uns solche Unterschiede, in bestimmter Hinsicht immer wieder auch mit einigem Recht – wer wäre denn frei davon?! Aber vor Gott schrumpfen solche Unterschiede, auf die wir uns durchaus etwas zugute halten, gegen Null. Oder wie der große Theologe Karl Barth das einmal ausgedrückt hat: Wenn die Sonne am höchsten steht, wirft niemand mehr einen Schatten.
Ist das alles? Bei solchen Geschichten wie der vom Oberzöllner Zachäus eigentlich nie. So bekannt sie sein mögen, so viele neue Aspekte und offene, auch uneindeutige und merkwürdige Gesichtspunkte zeigen sie immer wieder aufs Neue. Auf eine solche Merkwürdigkeit wollen wir noch einen Blick werfen, weil sie durchaus von einiger Aktualität ist.
Am Ende der Geschichte steht also dieser merkwürdige Satz:
9 Jesus aber sprach zu ihm – also zu Zachäus, so bei Luther (anderswo liest man folgendermaßen, wohl treffender: über Zachäus, aber zu den anderen): Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn.
--- denn auch er ist Abrahams Sohn. - Nicht wahr: Wir würden einverständig mit dem Kopf nicken, wenn dort stünde: Er ist dem Menschensohn begegnet, obwohl man sich fragen kann, ob Jesus selber in der Öffentlichkeit so geredet haben würde, oder ob wir die Erwähnung dieses Hoheits-Titels an dieser Stelle nicht eher einem Kommentar des Lukas-Evangelisten verdanken.
Es heißt aber:
---- auch er ist Abrahams Sohn.
Was lehrt uns das – und zwar auch noch heute? Offenbar zunächst dieses: Gottes Verheißung an Abraham bezieht ihren Bestand allein aus der Bundestreue Gottes. Diese Verheißung kann also weder verdient werden – noch letztlich allein durch das Versagen des Menschen verspielt werden, weder – ganz früh – durch den Erbschleicher Jakob noch, in Jesu Zeiten, durch den (gewissermaßen) Volksverräter Zachäus. Der Sohn Abrahams bleibt der Sohn Abrahams.
Aber irgendwie hört man aus diesem Evangelium und Bericht des Lukas auch eine Mahnung heraus, vielleicht sogar schon an die ersten Christen: Was immer Euch Anhänger Jesu inzwischen von der Synagoge trennen mag, und sei es der Kreuzestod Jesu und der Glaube an den Auferstandenen – vergesst nicht die Verheißung Jahwes an Abraham, die nicht nur durch diese Trennung hindurch weiterwirkt, sondern die auch bei denen bleibt, die diese Trennung nicht mit vollzogen haben, sondern bei ihrem Väterglauben und bei der Synagoge geblieben sind.
Wie, liebe Gemeinde, wäre denn wohl die zweitausendjährige – und vor allem unsere eigene allerjüngste Geschichte verlaufen, wenn diese Mahnung von Anfang an und immer gehört worden wäre, auch und gerade von der Christenheit?
Amen