Predigt über Lukas 9,10-17, Auferstehungskirche in Hannover-Döhren)

Hermann Barth

Liebe Gemeinde!

In der letzten Woche war ich - zu meiner Schande muss ich's gestehen: zum ersten Mal - im Kloster Bursfelde. Es ist nicht nur herrlich gelegen im Weserbergland, es ist auch herrlich anzuschauen, von außen wie im Innern ein Inbild romanischer Baukunst. Die Führung, an der ich teilnahm, begann vor dem wuchtigen, doppeltürmigen Westwerk. Es erinnert nicht von ungefähr an eine Burg: eine trutzige, hochragende Mauer, die Türme als Teil der Festungsanlage, Fenster wie Schießscharten. Einige Besucher fragten, ob es sich ursprünglich um eine Wehrkirche gehandelt habe. Aber man muss hier unterscheiden zwischen dem, was vor Augen liegt, und dem tieferen Sinn. Diese Kirche war niemals Wehrkirche, erfüllte zu keiner Zeit die Funktion einer Trutzburg. Aber ihr Erscheinungsbild als Burg und Zufluchtsort war von Anfang an dazu bestimmt, zum Gleichnis zu werden für Gott. Es ist keineswegs zufällig, dass die bauliche Anspielung auf eine Burg gerade an der Westseite stark hervortritt. Im Westen wird es Abend, dort verschwindet die Sonne, und die Finsternis übernimmt die Herrschaft. Die Kirche des Klosters Bursfelde ist sozusagen das steingewordene Bekenntnis der biblischen Psalmen:

"Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt,

der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe" (Psalm 91,1f).

Auch zum Verständnis des heutigen Predigttextes ist es nötig, zu unterscheiden zwischen dem, was an seiner Oberfläche erzählt wird, und seinem tieferen Sinn, zwischen dem, was sich im Vordergrund abspielt, und der eigentlichen Bedeutungsebene. Man kann es auch so sagen: Die Geschichte von der Speisung der 5.000 ist hintergründig.

Das Speisungswunder wird in den Evangelien mehrfach erzählt. Das Evangelium des Sonntags war die Version aus dem Johannesevangelium. Hören wir jetzt - als Predigttext - auf die Geschichte, wie der Evangelist Lukas sie im 9. Kapitel (V10-17) erzählt:

Und die Apostel kamen zurück und erzählten Jesus, wie große Dinge sie getan hatten. Und er nahm sie zu sich, und er zog sich mit ihnen allein in die Stadt zurück, die heißt Betsaida. Als die Menge das merkte, zog sie ihm nach. Und er ließ sie zu sich und sprach zu ihnen vom Reich Gottes und machte gesund, die der Heilung bedurften. Aber der Tag fing an, sich zu neigen. Da traten die Zwölf zu ihm und sprachen: Lass das Volk gehen, damit sie hingehen in die Dörfer und Höfe ringsum und Herberge und Essen finden; denn wir sind hier in der Wüste. Er aber sprach zu ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen. Sie sprachen: Wir haben nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische, es sei denn, dass wir hingehen sollen und für alle diese Leute Essen kaufen. Denn es waren etwa fünftausend Mann. Er sprach aber zu seinen Jüngern: Lasst sie sich setzen in Gruppen zu je fünfzig. Und sie taten das und ließen alle sich setzen. Da nahm er die fünf Brote und zwei Fische und sah auf zum Himmel und dankte, brach sie und gab sie den Jüngern, damit sie dem Volk austeilten. Und sie aßen und wurden alle satt; und es wurde aufgesammelt, was sie an Brocken übrigließen, zwölf Körbe voll.

I.

Was für Gegensätze! Fangen wir an mit den Jüngern: Jesus hatte "ihnen Gewalt und Macht" gegeben "über alle bösen Geister und dass sie Krankheiten heilen konnten" und hatte sie ausgesandt, "zu predigen das Reich Gottes und die Kranken zu heilen" (9,1f). Und dann - so fängt die Geschichte ja an - "kamen sie zurück und erzählten Jesus, wie große Dinge sie getan hatten". Ungelogen - so war es ihnen ergangen. Sie waren selbst überwältigt von der Kraft, die Jesus ihnen verliehen hatte. Sie waren kleine Heilande gewesen. Aber im Laufe der Geschichte wird unübersehbar: Das sind Sternstunden. Es ist eine geliehene Kraft. Ohne sie sind auch die Jünger kleinmütig, kleingläubig, schwer von Begriff. Der Menge sollen sie zu essen geben: Aber womit denn bitte? Wir haben nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische. Das reicht ja wohl nicht - es sei denn, wir gehen los und kaufen ein. Immerhin - sie taten, wie Jesus es anordnete. Sie blieben. Sie hießen die Menge sich in Gruppen niederzulassen. Und sie schämten sich nicht, auszuteilen.

Das Resultat war überwältigend. Am Ausgangspunkt der Geschichte stehen sich gegenüber auf der einen Seite die riesige Menge von 5.000 Männern - die Frauen und Kinder noch gar nicht mitgerechnet - und auf der anderen Seite das bisschen Brot und das bisschen Fisch. Am Ende jedoch sind nicht allein alle satt. Das Wunder wird auf die Spitze getrieben: Denn als aufgesammelt wird, was die Menge an Brocken übriglässt - die müssen ganz schön gekrümelt und Reste gelassen haben -, da ergibt das zwölf Körbe voll. Wo Jesus der Gastgeber ist, da wird nicht geknausert. Mit einem bekannten Liedvers gesprochen: "Weil er reichlich gibt, müssen wir nicht sparen."

Das Speisungswunder hat, seit Menschen kritisch mit Texten, auch mit heiligen Schriften, umgehen, Fragen ausgelöst. Wie ist so etwas möglich? Wie soll ich das verstehen? Die einen erklären mit Bestimmtheit: Das kann sich so unmöglich zugetragen haben. Das kann ich nicht glauben. Andere erklären mit ebensolcher Bestimmtheit: Was in der Bibel steht, stimmt auch. Wieder andere suchen nach einer Erklärung, die das Wunder mit dem modernen Misstrauen gegen übernatürliche Vorgänge aussöhnt. So wird etwa die Speisung der 5.000 als ein Wunder der Nächstenliebe gedeutet: Als die Jünger die fünf Brote und die zwei Fische herausgezogen und verteilt hätten, da hätten sich viele ein Beispiel daran genommen und ihren zuvor sorgsam gehüteten Notproviant ausgepackt und geteilt.

Ich lasse die Frage, wie so etwas möglich ist und wie sich die Speisung der 5.000 im einzelnen zugetragen haben könnte, hinter mir. Müssen wir das wissen? Und was nützte es uns, wenn wir es wüssten? Ich folge vielmehr der Spur, auf die mich die Betrachtung des Westwerks der Klosterkirche von Bursfelde gebracht hat.

II.

Ich blicke nicht auf das, was sich im Vordergrund des Handlungsablaufs abspielt, sondern achte auf die Sätze mit Hintersinn. Die Geschichte enthält ganz offenkundig einige hintergründige Formulierungen.

Der Tag fing an sich zu neigen. Dieser Satz markiert in der Geschichte die Stelle, an der die Menge die Wirkung Jesu erlebt hat: die heilende Wirkung seiner Gegenwart, die aufrüttelnde und tröstende Wirkung seiner Worte. Es ist, als sei ihnen die Sonne aufgegangen. Aber das Licht des Tages weicht, der Abend bricht herein, die Dunkelheit breitet sich aus. Das ist mehr als die Beschreibung einer natürlichen, physikalischen Erscheinung. Es steht für etwas Bedrohliches und Beängstigendes, und der Abend des Tages wird zum Bild für den Abend unseres Lebens und den Abend der Welt. Eines der schönsten Abendgebete, die ich kenne, fängt darum unter Zitierung der Emmausgeschichte so an:

„Bleibe bei uns, Herr, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt ...

Bleibe bei uns am Abend des Tages, am Abend unseres Lebens, am Abend der Welt ...

Bleibe bei uns, wenn über uns kommt

die Nacht der Trübsal und Angst,

die Nacht des Zweifels und der Anfechtung ...,

die Nacht der Einsamkeit und Verlassenheit,

die Nacht der Krankheit und Schmerzen ...
Bleibe bei uns ... in Zeit und Ewigkeit.“

Es ist aber nicht nur die hereinbrechende Dunkelheit, die hintergründig die Situation der Menschen beschreibt. Die Jünger benutzen noch einen anderen Ausdruck:

Wir sind hier in der Wüste: Die Wüste gilt bis heute als Inbild der Lebensfeindlichkeit. Dort wächst nichts. Es trocknet alles aus. Das ist gelegentlich im menschlichen Leben nicht anders. Man kommt sich vor wie in der Wüste. So mag es auch manch einem unter denen zumute gewesen sein, die Jesus umlagerten. Was hilft jetzt? Jesus sagt zu seinen Jüngern:

Gebt ihr ihnen zu essen. Natürlich - der Satz hat in der Geschichte auch eine ganz naheliegende Bedeutung. Die Jünger machen sich Sorgen um das leibliche Wohlergehen der Menge: Die Leute sollen nicht vom Fleisch fallen, sie sollen nicht wegen Unterzuckerung zusammenklappen. Aber es gibt nicht nur den Hunger nach Nahrung, manchmal ist der Hunger nach Geborgenheit, nach Liebe, nach Gerechtigkeit viel bohrender. Weil der Mensch nicht vom Brot allein lebt, muss ihm noch anderes gereicht, muss er noch mit anderem versorgt werden. Gebt ihr ihnen zu essen - so konfrontiert Jesus seine Jünger mit der Not der Mange, aber dieses Wort Jesu richtet sich auch an uns. Und jeder von uns weiß selbst am besten, welche Adressaten konkret gemeint sind: unsere Kinder, unser Ehepartner, unsere alten Eltern, der kranke Kollege, der altgewordene, vereinsamte Freund. Vor ein paar Tagen erhielt ich eine Mail von meinem inzwischen 80jährigen langjährigen Lateinlehrer. Seine Frau ist vor einem Dreivierteljahr gestorben, Kinder hatten sie keine, die Schüler waren wie an Kindes Statt. Die Mail klingt bitter: „Nach und nach lässt die Besuchsfrequenz bei mir etwas nach, die Leute meinen vermutlich, dass ich mich allmählich gefasst haben müsste. Vielleicht fange ich auch an, manche zu langweilen.“ In diesem Fall weiß ich, dass ich und was ich ihm zu „essen“ geben kann. Diese Woche werde ich in der Pfalz verbringen, mein Besuch ist schon angekündigt. Aber nicht immer liegt es so auf der Hand, worauf sich der Hunger richtet, und nicht immer ist es so einfach, den Hunger - vielleicht nicht zu stillen, aber doch etwas - zu dämpfen. Eines sollte dabei nicht unausgesprochen bleiben: Mit der Aufforderung, den Menschen zu essen zu geben, traut Jesus seinen Jüngern und damit auch uns etwas zu. Wir haben etwas, das den geistlichen Hunger stillt, denn Jesus selbst beteiligt uns daran, die Menschen zu speisen. Und damit sind wir beim letzten hintergründigen Satz der Geschichte:

Jesus nahm die fünf Brote und zwei Fische und sah auf zum Himmel und dankte, brach sie und gab sie den Jüngern, damit sie dem Volk austeilten: Es gehört nicht viel Vertrautheit mit dem christlichen Gottesdienst dazu, diese Formulierungen wiederzuerkennen. Sie spielen überdeutlich auf die Einsetzung des Heiligen Abendmahls an: „... dankte, brach’s und gab’s seinen Jüngern ...“. Im Abendmahl bekommen wir Anteil an Jesus Christus selbst, er wird für uns zum Brot des Lebens. Er stillt den Hunger nach Geborgenheit und dem wahren, ewigen Leben. Dafür steht in der Geschichte der erzählerische Zug, dass die Leute „alle satt“ wurden. Viele Dankgebete nach der Feier des Heiligen Abendmahls nehmen darum das Stichwort auf. Wenn wir nachher das Heilige Abendmahl miteinander feiern, dann wird das Dankgebet zum Abschluss die Wendung enthalten:

„Herr, wir danken dir, dass du uns satt gemacht hast mit dem Brot des Lebens. Lass uns in der Kraft dieser Speise zurückgehen in unseren Alltag ...“.

Damit sind wir auch im Zentrum des Themas des heutigen Sonntags angekommen. Im allgemeinen sind ja die biblischen Lesungen, der Predigttext, der Wochenspruch, der Wochenpsalm und das Wochenlied für jeden Sonntag des Kirchenjahres auf ein gemeinsames Thema bezogen. Am vergangenen Sonntag, dem 6. nach Trinitatis, war es die Taufe. Heute, am 7. Sonntag nach Trinitatis, ist es das Heilige Abendmahl. Die Lesung aus dem Alten Testament handelte vom Manna, das Gott den Israeliten in der Wüste als Speise zukommen lässt. Die Epistel, die wir heute ausgelassen haben, berichtet,  wie die frühe christliche Gemeinde „beständig blieb“ nicht nur in der Lehre der Apostel und im Gebet, sondern ausdrücklich „in der Gemeinschaft und im Brotbrechen“. Und nicht zu vergessen die wunderbaren Worte des Wochenpsalms über Menschen, deren Seele vor Hunger und Durst verschmachtete und die dem Herrn danken sollen, wenn „er sättigt die durstige Seele“.

III.

Dass das Speisungswunder gewissermaßen durchsichtig wird auf die Speise, die wir in der Feier des Heiligen Abendmahls empfangen, das ist im Predigttext aus dem Lukasevangelium lediglich angedeutet. Breit ausgeführt aber wird es im Johannesevangelium.Wir haben ja die Fassung der Speisungsgeschichte bei Johannes als Sonntagsevangelium gehört. Dabei fallen kaum Unterschiede zur Fassung bei Lukas auf. Ganz anders ist es, wenn man in der Bibel nachliest, was im Johannesevangelium auf die Geschichte vom Speisungswunder folgt: nämlich die sogenannte Brotrede Jesu. Sie umkreist den einen Gedanken:

„Gottes Brot ist das, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben. Da sprachen sie zu ihm: Herr, gib uns allezeit solches Brot. Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten“ (V33-35).

Da ist die Geschichte vom Speisungswunder nur noch die Folie für die Botschaft von dem Brot, das wahrhaft satt macht und ewiges Leben schenkt. Es scheint fast so, als würden der leibliche Hunger und das leibliche Sattwerden zweitrangig, ja unwichtig. Das ist vielleicht ein bisschen viel Spiritualisierung und ein bisschen wenig Interesse an unserer leiblich-irdischen Existenz.

Das Lied, mit dem wir auf die Predigt antworten, weitet demgegenüber den Blick noch einmal und bezieht die Speisungsgeschichte in ihrem ganz wörtlichen Sinn ein. Es dankt Gott für alle seine Gaben: die Nahrung, die er dem Leibe gibt, und die Speise, durch die die Seele am Leben gehalten wird:

„Nun lasst uns Gott, dem Herren, Dank sagen und ihn ehren
für alle seine Gaben, die wir empfangen haben ...

Nahrung gibt er dem Leibe, die Seele muss auch bleiben,
wiewohl tödliche Wunden sind kommen von der Sünden ...

Durch ihn ist uns vergeben die Sünd, geschenkt das Leben.
Im Himmel solln wir haben, o Gott, wie große Gaben.“

Amen.