Predigt über Apostelgeschichte 7,54-60, Martinskirche zu Kassel

Hermann Barth

(im Rahmen der Gottesdienstreihe "Hören/Sehen" in der Martinskirche zu Kassel als Begleitprogramm zur documenta 12 am 5. August 2007)


Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Als Predigttext für diesen Sonntag wurde das Ende des 7. Kapitels aus der Apostelgeschichte des Lukas ausgewählt. Stephanus, verantwortlich für die diakonische Betreuung der Gemeinde in Jerusalem, modern gesprochen: der erste Leiter einer Gemeindesozialstation, muss sich vor dem jüdischen Hohen Rat wegen des Vorwurfs gotteslästerlicher Rede verantworten. Er stellt sich hinein in den Horizont der gesamten Geschichte Gottes mit dem Volk Israel und beendet seine Rede mit einer scharfen Attacke auf seine Zuhörer: "Ihr Halsstarrigen, mit verstockten Herzen und tauben Ohren, ihr widerstrebt allezeit dem heiligen Geist - wie eure Väter so auch ihr." An dieser Stelle setzt der Predigttext ein. Wir haben ihn in diesem Gottesdienst schon einmal gehört. Aber es gibt neue, überraschende Entdeckungen nicht nur auf den zweiten Blick:

Als sie das hörten, ging's ihnen durchs Herz, und sie knirschten mit den Zähnen über ihn. Er aber, voll heiligen Geistes, sah auf zum Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehen zur Rechten Gottes und sprach: Siehe, ich sehe den Himmel offen und Jesus zur Rechten Gottes stehen. Sie schrien aber laut und hielten sich die Ohren zu und stürmten einmütig auf ihn ein, stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn. Und die Zeugen legten ihre Kleider ab zu den Füßen eines jungen Mannes, der hieß Saulus, und sie steinigten Stephanus; der rief den Herrn an und sprach: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf! Er fiel auf die Knie und schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an! Und als er das gesagt hatte, verschied er.

Herr, heilige uns in deiner Wahrheit. Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.


Liebe Gemeinde!

I

Was ist es, das die Mitglieder des Hohen Rates derart empört? Ja ihnen am Ende ein gutes Gewissen dabei macht, Stephanus mittels der archaischen und grausamen Strafe der Steinigung zu Tode zu bringen? Die Empörung baut sich in zwei Stufen auf. Zuerst ist es eine eher stille, nach innen gekehrte Empörung. Sie entlockt ihnen kein lautes Wort, keine Geste des Entsetzens. Sie lässt sie lediglich, wie gesagt wird, "mit den Zähnen knirschen". Aber was heißt hier "lediglich"? Das Knirschen mit den Zähnen verrät heftige Gefühle, die nur mit Mühe zurückgehalten werden können und die bei nächstbester Gelegenheit in offene Aggression umschlagen werden. Die Anklage des Stephanus, die diese Reaktion auslöst, also dass er die Mitglieder des Hohen Rates tituliert als "halsstarrig", nicht besser als ihre Vorfahren, allezeit Gottes Gebot  widerstrebend - sie hat mit der Spannung zwischen Christen und Juden und darum auch mit Antijudaismus rein gar nichts zu tun. Eine solche Anklage hat vielmehr in Israel spätestens seit der Zerstörung Jerusalems und des ersten Tempels im Jahr 587 Tradition. Sie entwirft regelmäßig ein Bild von der Geschichte des Gottesvolkes, in dem Ungehorsam gegen Gottes Gebot, Mahnung zur Umkehr, Übergriffe auf die Boten Gottes, namentlich die Propheten, das Strafgericht Gottes und dann doch wieder sein Erbarmen in Zyklen aufeinander folgen. Die Kirche tut gut daran, sich dabei als mit gemeint zu verstehen. Sind wir etwa besser als die uns vorangegangenen Generationen von Christenmenschen? Haben wir "mutiger bekannt, treuer gebetet, fröhlicher geglaubt, brennender geliebt"? Die Frage so stellen heißt, sie verneinen. Klar ist in jedem Fall: Niemand lässt sich gern ein solches Zeugnis ausstellen, und ein Knirschen mit den Zähnen ist noch die harmloseste Reaktion.

Die zweite Stufe der Empörung fällt denn auch alles andere als harmlos aus: "Sie schrien aber laut und hielten sich ihre Ohren zu und stürmten einmütig auf Stephanus ein, stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn." Zu Anfang des Gottesdienstes mag es beim Klang der Gongs auch dem einen oder der anderen zum Ohrenzuhalten zumute gewesen sein. Aber das Ohrenzuhalten in der Stephanusgeschichte hat ganz andere Gründe und ist von ganz anderer Art. Was hat Stephanus eigentlich gesagt, das auch nur anzuhören unerträglich war? Welche Tabuverletzung war geschehen, die dazu antrieb, den Urheber für immer zum Schweigen zu bringen? Die Mitglieder des Hohen Rates empfinden das, was Stephanus über den Inhalt seiner Vision sagt, offenbar als flagrante Gotteslästerung. Nun heißt es zwar im Heiligkeitsgesetz, das Bestandteil des 3. Buches Mose geworden ist: "Wer des Herrn Namen lästert, der soll des Todes sterben; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen" (24,16). Aber dass die Bekundung, man sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen, nach allgemeiner zeitgenössischer Auffassung eine Erfüllung des Tatbestandes der Lästerung darstellte, lässt sich nicht belegen. So müssen wir auch mit der Möglichkeit rechnen, dass sich hier die zuvor nur mühsam zurückgehaltenen Gefühle der Aggression Bahn brechen und der Hohe Rat nur zu bereitwillig die Lästerung unterstellt. In dieselbe Richtung deutet es, dass Stephanus keinen Prozess erhält, sondern an ihm eine Art Lynchpraxis geübt wird.

Aus heutiger Perspektive mag man mit einer Mischung von Betroffenheit und Erleichterung registrieren, dass die Kultur- und Rechtsgeschichte dazu geführt hat, Gotteslästerung nicht länger mit schwersten Strafen zu belegen. Seit 1969 wird sie in unserem Rechtssystem überhaupt nicht mehr als solche, sondern  nur im Zusammenhang einer Beeinträchtigung des öffentlichen Friedens für strafbar angesehen. Alles in allem ein richtiger Schritt, wenngleich er, wie etwa der Streit um die Mohammed-Karikaturen gezeigt hat, vor einer schweren Bewährungsprobe steht.

II

Den Auslöser für den Vorwurf der Gotteslästerung bildet im Fall des Stephanus eine Vision - oder genauer: was Stephanus über seine Vision mitteilt. Das führt uns direkt in die Fragen hinein, die die kirchliche Begleitausstellung zur documenta und auch die Gottesdienstreihe hier in der Martinskirche aufwerfen wollen.

Schon rein äußerlich wird Stephanus als Visionär geschildert: Er war "voll heiligen Geistes", man könnte auch sagen: er wirkte wie ein anderer Mensch, wie entrückt in eine andere Wirklichkeit - man denke nur an die Schilderungen Dietrich Bonhoeffers in der Situation unmittelbar vor seiner Hinrichtung -, und er "sah auf zum Himmel". So sehr die Menschen, schon des Altertums, sich bewusst sind, dass Gott nicht über den Wolken wohnt - dennoch zeigen wir, gewissermaßen symbolisch, nach oben, wenn wir uns auf Gott beziehen. Stephanus sieht mitten hinein in die himmlische Welt, und ohne es auszusprechen, gibt er zu verstehen, dass er in den Thronsaal Gottes blickt: Gott wie ein König auf einem erhabenen Platz, sitzend, und zur Rechten Jesus, stehend.

Zwei Gesichtspunkte gilt es nun allerdings zu beachten, wenn wir wissen wollen, was es mit dieser Vision auf sich hat:

Da ist zum einen die inhaltliche Übereinstimmung der Vision mit Vorstellungen, die Stephanus - beziehungsweise Lukas - schon mitgebracht hat. Damit will ich sagen: Visionen sind nicht eine Begegnung mit einem völlig neuen, bisher unbekannten Bild. Vielmehr setzen sie sich weitgehend - ich sage nicht: vollständig - zusammen aus Bildern, die in der Erinnerung und Vorstellung bereitliegen. Stephanus - oder besser: Lukas - können sich in ihrer Zeit Gott gar nicht anders vorstellen denn als König, residierend in einem Thronsaal. Die Schilderung des Menschensohns zu seiner Rechten nimmt alttestamentlich-jüdische Vorstellungen auf. Sie berührt sich im übrigen eng mit den Aussagen, die Jesus seinerseits vor dem Hohen Rat macht (Lukas 22,66-71). Stephanus orientiert sich in der ganzen Szene am Verhalten und an den Worten Jesu.

Zum anderen muss man sich klarmachen: Nur Stephanus selbst hat die Vision. Wir kennen seine Vision nur aus seinen von Lukas aufgeschriebenen Worten. Für den Visionär oder die Visionärin selbst machen Sehen und Hören unter Umständen einen großen Unterschied. Aber anderen Menschen kann die Vision eines einzelnen nicht direkt, sondern nur vermittelt, im allgemeinen durch das Wort, begegnen. Und niemand kann von außen beurteilen, wie angemessen die Wiedergabe der Vision durch die vermittelnden Worte gelingt. Eine neue Situation entsteht erst, wenn der Visionär sein innerliches Bild für andere in einem äußerlichen Bild zugänglich und erlebbar macht: sei es in einer künstlerischen Darstellung, sei es im Film. Daran knüpfen Gottesdienste an, die in oder statt der Predigt die Begegnung mit einem Gemälde oder einer Plastik oder einem Film in den Mittelpunkt rücken. Eine Faszination geht von diesen Experimenten unzweifelhaft deshalb aus, weil in der Tat Sehen und Hören zwei unterschiedliche, je eigene Äußerungs- und Ausdrucksformen sind.

III

Der Predigttext enthält eine Wendung, die - zumal wenn es um Ausdrucksformen und Verstehenszugänge geht - besondere Aufmerksamkeit verdient. Gleich zu Anfang heißt es von den Mitgliedern des Hohen Rates: Es "ging ihnen durchs Herz". Ob etwas über das Bild oder das Wort, ob im Hören oder im Sehen, ob als Vision oder als Audition kommuniziert wird - das ist alles zweitrangig gegenüber dem Ziel, dass es den Menschen "durchs Herz geht". Antoine de Saint-Exupéry hat im "Kleinen Prinzen" den fast schon zu Tode zitierten Satz geschrieben: "Man sieht nur mit dem Herzen gut." Man kann diese Formulierung noch radikalisieren und sagen: Das zentrale Sinnesorgan ist das Herz.

In der Moderne haben wir uns angewöhnt, die Organe des menschlichen Körpers allein nach ihrer physiologischen Funktion zu beschreiben. Andere Weisen ihrer Charakterisierung, wie sie in einem vorwissenschaftlichen Zeitalter gang und gäbe waren, sind zurückgedrängt, weil sie - vermeintlich - mit dem wissenschaftlichen Standard nicht mithalten können. Nur in geprägten sprachlichen Wendungen haben die Einsichten früherer Zeiten überlebt, etwa dass uns etwas auf den Magen schlagen kann oder an die Nieren geht. Das Herz wird heutzutage vorrangig mit den Gefühlen der Zuneigung und Liebe verbunden; Liebesschmerz ist Herzschmerz; ich habe nicht herausgefunden, wie alt die Verbindung von Herz und Gefühlen der Zuneigung ist. In der biblischen Sprache jedenfalls kommt dem Herzen eine viel weitere Bedeutung zu: Es gilt als der Sitz des Gemüts und der Willenskraft - wie es in unserem Sprachgebrauch noch anklingt, wenn wir von einer "beherzten" Tat oder einem "beherzten" Eingreifen sprechen.

Wenn also in der Bibel davon die Rede ist, dass Menschen etwas "durchs Herz geht", dann ist eine kaum steigerungsfähige Intensität der Wahrnehmung gemeint: nicht nur etwas sehen oder hören, auch nicht nur es verstandesmäßig verstehen oder ein Bauchgefühl dazu haben, vielmehr im Lebenszentrum, eben "mitten im Herz" getroffen und beansprucht zu sein. Wir sollen uns dem Wort der Bibel so aussetzen, dass es nicht bei einer bloßen Kenntnisnahme und auch nicht bei einer verstandesmäßigen Aufnahme bleibt. Das ist alles die vielberufene "Verkopfung". Sondern "durchs Herz" soll es uns "gehen".

IV

An diesem Maßstab gemessen konfrontiert uns der Predigttext mit der ins Herz treffenden Frage, wie ernst es uns mit der Nachfolge Jesu ist. Stephanus blieb der Sendung Jesu treu, auch als es hart auf hart ging, er wurde zum Märtyrer und hat sich auch im Sterben an seinem Herrn und Meister orientiert; nahezu wörtlich nimmt Stephanus zwei Gebetsbitten auf, die Jesus am Kreuz zugeschrieben werden: "Nimm meinen Geist auf!" Und: "Rechne ihnen diese Sünde nicht zu!".

Der Ernst seiner Nachfolge wirft noch einmal ein besonderes Licht auf den Inhalt seiner Vision. Jesus hatte seine Jünger darin bestärkt, keine Furcht zu haben. Er hatte ihnen aber auch deutlich gemacht, was auf dem Spiel steht:

"Wer mich bekennt vor den Menschen" - so seine Worte -, "den wird auch der Menschensohn bekennen vor den Engeln Gottes. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, der wird verleugnet werden vor den Engeln Gottes" (Lukas 12,8f).

Als Stephanus sich als furchtloser Bekenner gezeigt hat und die grimmige Reaktion des Hohen Rats ahnen lässt, was an Feindseligkeit er noch zu erwarten hat - genau in diesem Augenblick hat er, erfüllt vom heiligen Geist, die Vision. Dabei sind drei Dinge bemerkenswert:

Jeder, der mit der Frage konfrontiert wird, wie ernst es ihm mit der Nachfolge Jesu ist, wird unsicher sein, ob seine Kraft zum Bekennen und Widerstehen im Ernstfall ausreicht. Die Geschichte des Stephanus zeigt: Lass dich nicht von deiner Unsicherheit verunsichern! Gottes Kraft, nämlich Gottes Geist, wird in den Schwachen mächtig sein.

Stephanus sieht in seiner Vision den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen. Wohlgemerkt: stehen, nicht wie in dieser Vorstellung sonst: sitzen. Man wird in dieser Abweichung eine Anspielung auf Jesu Wort über das Bekennen sehen dürfen: Der Menschensohn hat sich erhoben, um vor Gottes Thron und vor Gottes Engeln Stephanus als treuen Zeugen zu bekennen. Jesus Christus löst seine Verheißung ein, er ist auch seinerseits treu.

Und schließlich: Stephanus sieht den Himmel offen. Das ist ein Zeichen dafür, dass sein Weg jetzt zum Himmel führt, für ihn die Vollendung, für die Zurückbleibenden eine Ermutigung - wie wir es vor der Predigt mit den Worten Paul Gerhardts gesungen haben:

"Unverzagt und ohne Grauen soll ein Christ, wo er ist, stets sich lassen schauen.
Wollt ihn auch der Tod aufreiben, soll der Mut dennoch gut und fein stille bleiben.
Kann uns doch kein Tod nicht töten, sondern reißt unsern Geist aus viel tausend Nöten,
schließt das Tor der bittern Leiden und macht Bahn, da man kann gehn zu Himmelsfreuden."

Gebe Gott, dass wir an dieser Gewissheit Anteil bekommen und sie niemals verlieren. Amen.