Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis über Lukas 7,11-16 im Berliner Dom
Hermann Barth
Es gilt das gesprochene Wort
Und es begab sich danach, dass er in eine Stadt mit Namen Nain ging; und seine Jünger gingen mit ihm und eine große Menge. Als er aber nahe an das Stadttor kam, siehe, da trug man einen Toten heraus, der der einzige Sohn seiner Mutter war, und sie war eine Witwe; und eine große Menge aus der Stadt ging mit ihr. Und als sie der Herr sah, jammerte sie ihn, und er sprach zu ihr: Weine nicht! Und trat hinzu und berührte den Sarg, und die Träger blieben stehen. Und er sprach: Jüngling, ich sage dir, steh auf! Und der Tote richtete sich auf und fing an zu reden, und Jesus gab ihn seiner Mutter. Und Furcht ergriff sie alle, und sie priesen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und: Gott hat sein Volk besucht. Und diese Kunde von ihm erscholl in ganz Judäa und im ganzen umliegenden Land.
Liebe Gemeinde!
I
Es geschah in Berlin, unweit von hier, schon vor Jahrzehnten, als es die DDR noch gab, genauer gesagt: in der ersten Hälfte der 70er Jahre. Seither hat sich vieles verändert, auch in der theologischen und politischen Orientierung der Pfarrerschaft, die in der Geschichte ziemlich schlecht wegkommt. Aber die Lektion der Geschichte bleibt aktuell. Wolf Biermann hat sie überliefert:
"Mich besuchten mal 30 oder 40 Pastoren ... Diese Pastoren aus dem Osten und dem Westen hatten eine Tagung oder so was. Sie kamen in meine Bude und wollten mit mir die letzten Probleme der Menschheit lösen ... Da war - ich erinnere mich noch - ein Pfarrer, ich glaube aus dem Westen. Der wollte sich sympathisch machen, indem er mir etwas sagte, von dem er glaubte, dass es mir gefällt. Es war nämlich die Rede auf die Auferstehung gekommen, und er sagte: 'Na ja, Herr Biermann, das ist ja alles dummes Zeug mit der Auferstehung. Da sind wir ja längst drüber hinweg. Das ist doch alles Quatsch.' ... Ich geriet in einen gedämpften Wutanfall über diesen Menschen. Ich geriet ins Predigen. Vielleicht war die Anwesenheit von so vielen Pastoren schuld daran. Ich hielt ihm eine Predigt darüber, warum nach meiner unchristlichen Meinung die Auferstehung Jesu der wichtigste Teil der Leidensgeschichte ist. Wer die Auferstehung preisgibt, der ist von Gott und allen guten Geistern verlassen."
Der Streit, der sich in dieser Begebenheit an der Ostergeschichte und der Auferweckung Jesu entzündet, könnte auch vom heutigen Predigttext ausgelöst werden. Es gibt viele, die machen einen weiten Bogen um die Geschichte von der Totenauferweckung zu Nain - und um die anderen alttestamentlichen und neutestamentlichen Geschichten dieser Art gleich mit. Sie können über die Frage nicht hinwegkommen, ob ein solcher Vorgang medizinisch, biologisch und naturwissenschaftlich möglich ist, und darum können sie mit den Geschichten nichts anfangen. Aber entscheidet die Antwort auf diese Frage wirklich darüber, ob sie uns etwas zu sagen haben? Jeder Tote, der in ihnen ins Leben zurückgeholt wird, muss früher oder später ja dann doch sterben. Also kann es nicht ihre Quintessenz sein, dass Verstorbene vom Tod auferweckt und noch einmal für ein paar Jahre oder Jahrzehnte ins Leben zurückgeholt werden.
Wolf Biermann fährt dem Wortführer nicht nur deshalb über den Mund, weil der sich ihm in peinlicher Weise anbiedert. Er hat vielmehr ein Gespür bewahrt für die Widerstandskraft, den Lebensmut, das Zutrauen zum Leben, das in den Auferweckungsgeschichten steckt. Und er weiß - heute vielleicht noch besser als damals -, dass es Hoffnungsperspektiven gibt, die sich nur in religiöser Sprache ausdrücken und weitergeben lassen. Darum wird er so kämpferisch, gerät er, wie er sagt, "ins Predigen". Es steht viel auf dem Spiel. Nicht nur wer Ostern und die Auferstehung Jesu preisgibt, auch wer die Geschichte von der Totenauferweckung zu Nain übergeht und beiseiteschiebt, ist von Gott und allen guten Geistern verlassen.
Man kann diese Geschichten als Protest gegen den Tod lesen, als Ermutigung, aufzustehen gegen todbringende Mächte in unserem Leben und in unserer Welt: gegen Krankheiten, für die es noch keine Heilung gibt, gegen die Ungerechtigkeit, dass nicht alle Zugang haben zu den rettenden Behandlungsmöglichkeiten ihrer Krankheit, gegen Armut, die früh sterben lässt oder doch von vielen Lebenschancen ausschließt. Ein solcher Protest sind diese Geschichten gewiss auch, allerdings nicht nur in dem gesellschaftlichen und politischen Sinn, der in den 70er Jahren und beim frühen Biermann ganz im Vordergrund stand. Es gibt todbringende Kräfte, die von den jeweiligen gesellschaftlichen Zuständen weitgehend unabhängig sind: quälende Schuld, Depression, Zukunftsangst - auch im Blick auf sie brauchen wir die Ermutigung, nicht zu resignieren. Vor allem aber dürfen Sterben und Tod selbst nicht ausgeblendet werden - so als könne man das auf sich beruhen lassen, weil sich die Menschen, ob gläubig oder ungläubig, alle irgendwie mit diesem unabänderlichen Geschick arrangiert hätten oder arrangieren könnten. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die biblischen Auferweckungsgeschichten wollen alle auch gelesen werden als Hinweis auf ein Leben, das durch den Tod hindurch Bestand hat. "Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen" (1. Korinther 15,19).
Es gibt einen Gedanken, der die verschiedenen Dimensionen solcher Ermutigung in einer wunderbaren Weise zusammenbindet: Nicht an den Tod glauben. Der evangelische Theologe Ernst Lange - der an der eigenen Seele dem Ansturm todbringender Mächte ausgesetzt war und ihnen schließlich unterlegen ist - hat unter diesem Titel 1975 ein kleines, aber gehaltvolles Büchlein veröffentlicht.
"Nicht an den Tod glauben" - das ist eine eigentümliche Formulierung. Was soll das bedeuten? Wer wollte leugnen, dass wir alle sterben müssen? Aber darum geht es gar nicht. Sondern darum, ob ich den Tod als die Macht anerkennen muss, die am Schluss die Oberhand über alles behalten wird, so dass das Sich-Auflehnen gegen die Mächte des Todes letztlich nur ein ohnmächtiger Protest wäre, oder - ja oder ob ich Grund zu der Hoffnung habe, dass der Tod nicht das letzte Wort behalten und das Leben den Sieg davontragen wird.
Diese Frage begleitet uns, wenn wir nun die Geschichte vom, wie sie herkömmlich heißt, "Jüngling zu Nain" näher betrachten.
II
Jesus und seine Jünger sind, als sie sich Nain nähern, begleitet von einer großen Menge. Sie kommen von Kapernaum. Die Heilung des auf Tod und Leben darniederliegenden Knechtes eines römischen Hauptmanns hat offenbar Aufsehen erregt. Kurz vor Erreichen des Stadttors begegnet ihnen ein Leichenzug, dem gleichfalls eine große Menge folgt. Der Tote war ein junger Mann, der einzige Sohn seiner Mutter, und die war eine Witwe. Diese Begegnung ist von großer Symbolkraft: hier der Zug des Todes, der zwar aufrichtige Anteilnahme und ehrliches Mitgefühl empfindet, aber ohnmächtig der Macht des Todes gegenübersteht, dort der Zug des Lebens, der eine Spur von heilenden Taten und heilenden Worten, kurz: eine Spur des Segens hinterlässt.
Wie verhält sich der Zug des Lebens, als sich der Zug des Todes nähert? Er weicht nicht aus, er tritt nicht pietätvoll einige Schritte zurück, um den Leichenzug passieren zu lassen, er schließt sich aber auch nicht an. Jedenfalls dieser Zug des Lebens bringt den Zug des Todes zum Stehen. Und Jesus "trat hinzu und berührte den Sarg, und die Träger blieben stehen."
Das entscheidende Moment für diesen Gang der Dinge ist das Erbarmen. Als Jesus die Mutter sah, "jammerte sie ihn". Das griechische Wort, das dafür steht, meint wörtlich: Was er da sah, erschütterte ihn bis in seine Eingeweide. Es ging ihm durch und durch. "Erbarmen" und "Barmherzigkeit" werden in der Gegenwartssprache - ob auf der Ebene des Alltags oder der Literatur - kaum gebraucht. Auf die Begriffe kommt es am Ende natürlich nicht an. Aber manchmal beschleicht mich die Sorge, mit den Begriffen verblasse auch die Sache. Ich meine, es war der katholische Theologe Johann Baptist Metz, von dem der Satz stammt: "Den Blick für das fremde Leid zu bewahren ist Bedingung aller Kultur." Wenn das stimmt, dann hängt für das Wohlergehen einer Gesellschaft unendlich viel davon ab, ob die Menschen - wie sie es auch nennen mögen - zum Erbarmen fähig bleiben, auf uns bezogen: ob wir den Schrei der Elenden hören oder ihn - sei es äußerlich, sei es innerlich - zum Schweigen bringen, ob wir ein verwundbares Herz haben oder ein versteinertes.
Das Erbarmen bezeichnet das durchdringende Gefühl, dass etwas geschehen muss, um das Blatt zu wenden. Unsere Not besteht häufig darin, dass wir nicht die Kräfte oder nicht die Mittel - oder beides nicht - haben, um etwas auszurichten. Wir sind Menschen und nicht Gott. Im Falle Jesu ist das anders. Es geschieht auch etwas: Jesus gibt der Mutter den Sohn lebendig zurück. Deshalb haben wir auch allen Grund, das Erbarmen Gottes zu rühmen und darauf unser Vertrauen zu setzen: "Die Güte des Herrn ist's, dass wir nicht gar aus sind. Seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu".
Die Geschichte geht mit einer Aussage zu Ende, die heutzutage nahezu unweigerlich Befremden hervorruft und zu Missverständnissen führt: "Und Furcht ergriff sie alle, und sie priesen Gott". Warum Furcht, wo der Tote doch ins Leben zurückgeholt und seiner Mutter wiedergegeben wurde? Und wie passen Furcht und der Lobpreis Gottes zusammen? So wird verwundert gefragt. Offenbar löst das Nebeneinander von Furcht und Gott automatisch die Assoziation an einen Aufpassergott aus, der uns im Stile von George Orwells "Big Brother" permanent überwacht, oder an einen Gott aus dem Arsenal der "schwarzen Pädagogik", der vorrangig mit Hilfe von Drohung und Strafe regiert. Dabei böte der Begriff der Ehr-Furcht einen so hilfreichen Ansatzpunkt, die Rede von der Gottesfurcht zu verstehen und ihr auch gute Seiten abzugewinnen. Ja, wir sind überhaupt nur dann in der Lage, ein angemessenes Verhältnis zu Gott zu entwickeln, wenn wir Schluss machen mit seiner Verniedlichung und Verharmlosung und an die Stelle von kumpelhafter Vertraulichkeit vielmehr Scheu und Demut und Verehrung setzen. So ist es ja gemeint, wenn erzählt wird: "Und Furcht ergriff sie alle", vielleicht schon bebende Knie und wild pochende Herzen, denn darin kommt körperlich zum Ausdruck: Wir sind Zeugen, wie eine andere Welt in die uns vertrauten Verhältnisse dieser Welt einbricht. Doch mit Angst und eingezogenen Köpfen hat das nichts zu tun, sonst würde es von derselben Menge nicht heißen: "Und sie priesen Gott".
III
Die Frage, die uns bei der Betrachtung der Geschichte vom "Jüngling zu Nain" begleitete, lief auf die Alternative hinaus, ob wir uns nur etwas vormachen mit der Parole "Nicht an den Tod glauben" oder ob wir Grund, einen die Verhältnisse unseres Lebens und unserer Welt verändernden Grund haben, nicht an den Tod zu glauben. Gibt es eine Antwort? Am ehesten lässt sie sich im Lobpreis am Ende der Geschichte finden. Er wird offenkundig deshalb dargebracht, weil die Menge die überwältigende Erfahrung gemacht hat: Mit diesem Jesus von Nazareth ist die Welt von Grund auf verändert, er ist nicht einfach ein weiterer Wanderprediger und Lehrer und Heiler, in ihm ist Gott selbst unter uns gegenwärtig. Die Geschichte von der Totenauferweckung zu Nain und die Ostergeschichte von der Auferstehung Jesu fließen hier ineinander, wie ja durchgängig die Evangelien keine Dokumente der vorösterlichen Zeit wiedergeben, sondern von Anfang an von der Ostererfahrung herkommen und die Jesusgeschichten in ihr Licht tauchen. Ernst Lange hat sein Büchlein mit dem Titel "Nicht an den Tod glauben" im Untertitel "Praktische Konsequenzen aus Ostern" genannt. Die Auferstehung Jesu von den Toten ist es, an der unsere Gewissheit hängt: Der Tod behält nicht das letzte Wort. Oder mit den einprägsamen Worten der heutigen Epistellesung: "Jesus Christus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium" (2. Timotheus 1,10).
Ich kehre zum Schluss noch einmal zurück zu Wolf Biermann. Worauf gründet er seine Gewissheit, dass der Protest gegen den Tod mehr ist als eine ohnmächtige Geste? Gibt es außerhalb des Glaubens überhaupt eine solche Gewissheit? Läuft es stattdessen nicht auf einen heroischen Appell an sich und andere hinaus? Ich bin an dieser Stelle sehr vorsichtig. Ich habe in meiner Lebenszeit eine Reihe von Menschen erlebt, die - nach dem herkömmlichen Verständnis und so weit sich das von außen erkennen lässt - 'nicht gläubig' waren und die gleichwohl in eindrucksvoller Weise das "Nicht an den Tod glauben" vorgelebt haben, will heißen: den langen Atem und den Mut hatten, sich den Kräften und Mächten des Todes in den Weg zu stellen, und den eigenen Tod nicht fürchteten. Ich habe zwar keine Vorstellung, wovon sie spirituell zehren. Aber ich halte nichts davon, ihnen sozusagen "am Zeug zu flicken" und das in Zweifel zu ziehen, was sie für sich in Anspruch nehmen und was jedenfalls von dem, was vor Augen ist, nicht dementiert wird. Ich bin vielmehr froh, wenn es auch andere Quellen der Hoffnung, des Mutes und der Gewissheit gibt, als ich sie auf meinem Lebensweg kennengelernt habe.
Der Erzbischof von Köln, Kardinal Meisner, hat sich jüngst im Blick auf die Bedingungen für eine menschliche Kultur und Gesellschaft zu sehr anstößigen Formulierungen hinreißen lassen. Ich übergehe seinen Gebrauch des Wortes "entartet". Das eigentliche Problem liegt ohnehin woanders, nämlich darin, dass er behauptet: Dort, wo die Kultur von der Gottesverehrung abgekoppelt werde, verliere sie ihre Mitte und nehme schweren Schaden. Womit er sagen will: Gesellschaften und ganze Kulturen, die sich von der Gottesverehrung abwenden, kehrten sich letztlich gegen sich selbst und entlarvten sich als unmenschlich. Ich kann solche Behauptungen weder mit den historischen Erfahrungen der vergangenen Jahrhunderte noch mit der Erfahrung in Einklang bringen, wer unter den Weggenossen meines Lebens 'nicht an den Tod geglaubt' hat. Darum sage ich: Gott hat viele Wege, um die Gaben seines Geistes in der Welt und unter den Menschen wirken zu lassen. Darüber freue ich mich, und nichts davon will ich madig machen. Die Kirche und die Christen sind gesandt, zum Glauben an Jesus Christus einzuladen und diesen Weg anziehend und verlockend zu machen. Das ist unsere Aufgabe, der wir so überzeugend wie möglich nachkommen wollen. Alles andere können wir getrost Gott überlassen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Weiter, liebe Schwestern und Brüder: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es ein Lob - darauf seid bedacht.
Amen.