Gerechte Teilhabe - Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität
Vortrag von Prälat Dr. Stephan Reimers bei der Deutschen Gesellschaft für Hauswirtschaft e.V., Universität Bonn
Sehr geehrte Damen und Herren,
„Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben“ (Spr. 14,34). Das ist eine bekannte biblische Aussage. Doch welche Vorstellung verbinden biblische Autoren mit dem häufig gebrauchten Wort Gerechtigkeit, das auf Hebräisch „zedakah“ heißt? Wenn man sich die entsprechenden Textstellen ansieht, wird deutlich, dass die hebräische Gerechtigkeitsvorstellung grundsätzlich eine soziale Dimension hat. In den Sprüchen Salomos heißt es z.B. in Kapitel 29,7: „Der Gerechte weiß um die Sache der Armen“. Oder Sprüche 12,10: „Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs“. Aussagen über die Gerechtigkeit sind sehr oft so, dass Bedürftigkeit mit in den Blick genommen wird. Gerecht ist, wer das Gemeinschaftsverhältnis, in dem er sich vorfindet oder das er selbst begründet, ernst nimmt und zu ihm steht. Deshalb ist in der Forschung auch vorgeschlagen worden, die hebräische „zedakah“ sachgemäßer mit dem deutschen Wort „Gemeinschaftstreue“ zu übersetzen. Eingefallen ist mir dazu ein Gespräch in der Evangelischen Akademie Hamburg in den achtziger Jahren. Der Verlagschef einer Hamburger Zeitung sagte in dessen Verlauf: „Für uns war es völlig klar, dass wir einen bestimmten Prozentsatz der Arbeitsplätze innerhalb des Unternehmens hatten für Kollegen, die nicht mehr so fit waren. Und auch bei Einstellungen haben wir öfters so entschieden. Aber das wird immer schwerer zu machen und durchzuhalten.“ Das war sein Gedanke von Gemeinschaftstreue, der mit der wirtschaftlichen Realität zunehmend in Konflikt geriet.
Seit dieser Zeit prägt Arbeitslosigkeit das Schicksal und Lebensgefühl von Millionen Menschen. Immer mehr von ihnen wurden Langzeitarbeitslose und sind von einer wirklichen Teilhabe am gesellschaftlichen und sozialen Leben ausgenommen. Ihnen wäre am wirkungsvollsten mit einer Integration in den Arbeitsprozess geholfen. Aber weder die Hartz-Gesetze I - IV, noch der erfreuliche konjunkturelle Aufschwung haben die von langer Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen nachhaltig erreicht. Einer der Gründe für ihre geringen Chancen zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt ist, dass vielen eine berufliche Qualifikation und oft auch allgemeine Bildung fehlen. Beides sind Schlüssel zur Teilhabe am Arbeitsprozess.
Gerade wegen dieses klaren Befundes haben die Ergebnisse der Pisa-Studie so schockiert. Denn besonders in der für Lernen, Leben, Berufs- und Weiterbildung grundlegenden Lesekompetenz lagen deutsche Schülerinnen und Schüler im Vergleich mit anderen Ländern im Hintertreffen. Gravierend war ferner der Aufweis der Studie, dass in keinem anderen Industrieland die soziale Herkunft so entscheidend für den Schulerfolg ist wie in Deutschland. In einer in diesem Sommer vorgestellten Untersuchung wird festgestellt, dass in Deutschland nur 23 % der Kinder, deren Eltern keinen Hochschulabschluss haben, studieren, während 83 % der Akademikerkinder selbst ein Studium aufnehmen.
Die Schwäche in der Lesekompetenz hängt natürlich auch damit zusammen, dass viele Kinder ihre Schullaufbahn ohne ausreichende deutsche Sprachkenntnisse beginnen müssen. 40 % aller Neugeborenen in Deutschland sind Menschen mit Migrationshintergrund und in den städtischen Ballungsräumen haben die Hälfte aller Schulanfänger eine Migrationsgeschichte. Allerdings sind mangelnde Sprachkenntnisse nicht nur bei Kindern ausländischer Herkunft anzutreffen.
Wer den Teufelskreis von mangelnder Bildung – fehlender Ausbildung – Arbeitslosigkeit aufbrechen will, muss früher ansetzen als es die Schule vermag. Bischof Wolfgang Huber, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, hat in seiner familienpolitischen Grundsatzrede im März 2006 festgehalten:
„Mit großer Eindeutigkeit hat die Diskussion der letzten Jahre gezeigt, dass das Aufwachsen von Kindern von Anfang an ein Bildungsgeschehen ist. In den ersten drei Lebensjahren entscheidet sich, ob die erwachende Neugier von Kindern in ihrer Umwelt ein Echo findet, und ob sich für sie ein Raum öffnet, die Welt zu entdecken. Im vierten bis sechsten Lebensjahr aber werden die Weichen dafür gestellt, ob Bildungsdefizite, die beispielsweise aus einer bildungsschwachen familiären Umgebung entstehen, noch rechtzeitig kompensiert werden können. Pointiert gesagt: Nicht die Gesamtschule, sondern die Kindertagesstätte entscheidet in ihrer Bildungskompetenz darüber, ob auch Kinder aus bildungsfernen Familien einen gleichen Zugang zu Bildungschancen erhalten. (…) Dies übrigens ist der Grund dafür, warum Kindergartenplätze gebührenfrei sein sollten. Dafür sprechen nicht nur familienpolitische, sondern vor allem bildungspolitische Argumente.“
Bei diesen Worten von Bischof Huber in der Friedrichstadtkirche am Französischen Dom habe ich in den Gesichtern vieler anwesender Politiker Skepsis gesehen, auch Kopfschütteln. Aber schon ein Vierteljahr später hatten Politiker aus allen Parteien sich diese Forderung zu eigen gemacht. Dies ist ein Beispiel dafür, wie schnell sich gegenwärtig Politik und Gesellschaft auf neue Prioritäten in der Bildungs- und Familienpolitik einlassen. Die Unterstützung junger Eltern bei der Erziehungsaufgabe und der Ausgleich der Bildungsfähigkeit von Kindern haben Aufmerksamkeit und Gewicht gewonnen. Unsere Kirche begrüßt dies sehr und ist zu Ausbau und Reform der eigenen Einrichtungen bereit.
Trotz aller Sparzwänge haben die beiden großen Kirchen den Bereich der Kindererziehung bis heute als Priorität verteidigt. In den etwa 9.000 evangelischen Kindertagesstätten sind rund 61.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt. Die evangelischen Angebote werden von etwa 540.000 Kindern besucht. Insgesamt befinden sich 50 % der Kindertagesstätten in kirchlicher Trägerschaft. Genauer:
29 % römisch-katholisch,
21 % evangelisch,
26 % kommunal, staatlich,
AWO 1 %,
DRK 1 %,
sonstige freie Träger 22 %.
In der Erklärung der EKD aus dem Jahre 2004 heißt es:
„Das christliche Verständnis von Bildung ist eng mit der Bestimmung des Menschen zum Ebenbild Gottes verbunden. Bildung bedeutet nach christlichem Verständnis ein ganzheitliches Geschehen der Persönlichkeitsentfaltung. Sie will zu einem Leben in Freiheit und Verantwortung befähigen. Von Anfang an war das Christentum und besonders auch die Tradition der reformatorischen Kirchen mit dem Auftrag zur Bildung verbunden. Die Entstehung von Schulen und später auch die Gründung von Kindergärten gehen maßgeblich auf kirchliche Initiativen zurück.
Mit dem Ausbauziel von 750.000 neuen Krippenplätzen hat Familienministerin Frau von der Leyen in diesem Frühjahr eine lebhafte Debatte ausgelöst, die auch von heftigen Scheltworten katholischer Bischöfe und den kritischen Fragen der Finanzpolitiker geprägt war. Die Evangelische Kirche hat aufgrund des Bedarfes den Ausbauzielen zugestimmt, aber zugleich darauf hingewiesen, dass die Quantitäts- nicht die Qualitätsfrage zudecken darf. Wenn mit Bischof Hubers Worten davon auszugehen ist, dass sich in den ersten drei Lebensjahren entscheidet, ob die erwachende Neugier von Kindern in ihrer Umwelt ein Echo findet, dann geht es um mehr als das Aufbewahren von Kleinkindern. Vielmehr muss die Bildungsaufgabe der Kindertagesstätten mehr als bisher wahrgenommen werden. Die Qualität der Arbeit ist nur zu verbessern, wenn Erzieherinnen und Erzieher, die Eltern und auch die Träger der jeweiligen Einrichtung bereit sind, in Prozesse der Qualifizierung der eigenen Erziehungs- und Bildungskompetenz einzutreten. Aufgabe der Kindertagesstätten ist es auch, soziale Unterschiede auszugleichen, wo diese Bildungsprozesse behindern und so zur Erhöhung der Chancengleichheit beizutragen. Zumindest für das Leistungspersonal einer Einrichtung strebt die Evangelische Kirche einen Fachhochschulabschluss an.
Die Integration von Jugendlichen aus Zuwandererfamilien ist für unsere Gesellschaft und unser Bildungssystem eine vorrangige Aufgabe. Vertreterinnen und Vertreter aus der katholischen und evangelischen Kirche haben deshalb gern in den zehn Arbeitsgruppen mitgearbeitet, die den Nationalen Integrationsplan entworfen haben. Dieser wurde am 12. Juli dieses Jahres von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des 2. Integrationsgipfels vorgestellt:
Rund 150 der insgesamt 400 festgeschriebenen Maßnahmen des vielgestaltigen und ambitionierten Plans betreffen den Bund; insgesamt sollen im Finanzplanungszeitraum jährlich rund 750 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden.
Der Bund will beispielsweise:
die Stundenzahl der Integrationskurse für bestimmte Zielgruppen (wie Teilnehmern an Jugend-, oder Alphabetisierungsintegrationskursen) von 600 auf 900 erhöhen. Wenn Teilnehmer den Abschlusstest nach 600 Stunden nicht bestehen, sollen sie außerdem den Aufbausprachkurs noch einmal wiederholen dürfen. Das Angebot an Kursen soll zeitnah und flächendeckend ausgebaut werden. Ausgeweitet werden auch die Stundenkontingente für spezielle Eltern- und Frauenkurse, während derer eine qualifizierte Kinderbetreuung sichergestellt werden soll [S.43].
außerdem will sich der Bund wie Länder und Kommunen dafür einsetzen, dass die Zahl der ausländischen Auszubildenden in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben erhöht wird [S. 72].
Die Länder wollen zum Beispiel:
„Bildungspaten“ einsetzen, die Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien in Schule und Ausbildung unterstützen [S.77].
den Sprachstand von Kindern vor der Einschulung feststellen und ggf. Fördermaßnahmen ergreifen (in einigen Ländern wird dies bereits seit Längerem so gehandhabt) [S.54].
Einrichtungen mit einem hohen Anteil ausländischer Kinder zusätzlich fördern, dabei auch Erzieherinnen und Erzieher verstärkt weiterbilden [S.54].
innerhalb der kommenden fünf Jahre die Quote der Schulabbrecher ausländischer Herkunft deutlich senken sowie Lehrerinnen und Lehrer in allen Fächern die zur Durchführung von sprachunterstützenden Maßnahmen notwendigen Fortbildungsmaßnahmen anbieten [S67].
Die Türkische Gemeinde in Deutschland (TDG) startet zusammen mit der Föderation Türkischer Elternvereine eine Bildungsoffensive für Eltern türkischer Herkunft mit dem Ziel, sie zu motivieren, sich stärker für die Bildung ihrer Kinder einzusetzen. Das Bildungsbewusstsein soll durch Kooperation mit türkischsprachigen Medien vergrößert, Eltern-Akademien in allen Bundesländern gegründet werden [S.68].
Meine Damen und Herren, wenn alle Beteiligten sich an ihre Zusagen halten, dann sind wir auf einem guten Weg.
Sehr geehrte Damen und Herren,
im Juni des vergangenen Jahres hat die Evangelische Kirche unter der Überschrift „Gerechte Teilhabe“ eine Denkschrift zur Armut in Deutschland herausgegeben. Sie betont, dass der biblische Auftrag, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, Christen in besonderer Weise in die Pflicht nimmt. Nämlich danach zu streben, dass alle an Bildung und Ausbildung sowie an den wirtschaftlichen, sozialen und solidarischen Prozessen der Gesellschaft teilnehmen können. Bildung wird in dieser Schrift als der zentrale Ausweg aus der Armut gesehen. Je früher die Weichen richtig gestellt werden, umso größer sind die Chancen auf Teilhabe.
Eine andere Aussage der Denkschrift bezieht sich auf die Langzeitarbeitslosen. Wörtlich heißt es:
(92) Politik sollte aber auch erkennen, dass die Gruppe der Langzeitarbeitslosen, die über viele Jahre hinweg allein gelassen oder mit monetären Transfers vertröstet wurde, nicht länger mit immer wieder neuen Reformexperimenten hingehalten werden darf. Es ist an der Zeit, dass sorgfältig zwischen Menschen mit erheblichen und Menschen mit unüberwindbaren Schwierigkeiten differenziert wird und allen Langzeitarbeitslosen je nach ihren individuellen Möglichkeiten auf dem regulären oder auf dem so genannten „zweiten“ Arbeitsmarkt passgenau und dauerhaft – nötigenfalls durch direkt öffentlich bereitgestellte Arbeitsplätze – geholfen wird.
In der letzten Woche wurden die Medien bewegt von der Nachricht sinkender Nettolöhne. „Arbeitnehmern bleibt immer weniger Geld zum Leben – Nettoeinkommen auf dem Stand von vor 20 Jahren“, hießen die Schlagzeilen. Einer der Gründe für diese Entwicklung wird in der EKD-Armutsdenkschrift kritisch angesprochen: „Es war ein Fehler, die deutsche Wiedervereinigung über die Sozialversicherungen und Lohnzusatzkosten zu finanzieren.“ Und allgemeiner ist hinzugefügt: Der internationale Vergleich deutet darauf hin, dass es vorteilhaft ist, Arbeitsverhältnisse stärker von der Belastung durch Sozialabgaben zu befreien und die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme verstärkt und nachhaltig über Steuern sicherzustellen.“
Der letzte Abschnitt der Armutsdenkschrift beschäftigt sich mit der Rolle, die Kirchengemeinden als Einübungsfeld gerechter Teilhabe spielen bzw. spielen könnten. Doch da gibt es ein Problem:
(137) Ärmere Menschen sind in vielen christlichen Gemeinden in Deutschland wenig oder gar nicht sichtbar. Zwar finden sich eine ganze Reihe von Kirchengemeinden, in denen dies anders ist und die vor allem in sozialen Brennpunkten vieles tun, um zur Verbesserung der Lage der Ärmeren etwas beizutragen und diese auch in ihre Gemeinde zu integrieren. Insgesamt gesehen speisen sich gegenwärtig die christlichen Gemeinden jedoch eher aus einem – regional sehr unterschiedlich ausgeprägten – Mittelschichtsmilieu, das nicht nur wenige Ärmere aufweist, sondern sich auch im Bildungsniveau, Lebensstil und im ganzen Verhalten deutlich gegen andere Milieus abgegrenzt.
Die im November vorigen Jahres ebenfalls dem Thema Armut gewidmete EKD-Synode hat dieses in der Denkschrift benannte Problem aufgegriffen und zum Gegenstand eines Beschlusses gemacht. Die EKD-Synode ruft alle Gemeinden auf, sich durch ein Projekt zur Armutsüberwindung und Armutsvermeidung zu profilieren und Gemeindepartnerschaften zwischen wohlhabenden und ärmeren Gemeinden zu bilden.
Dass es Bereitschaft gibt, sich für solche Projekte zu engagieren, habe ich in meiner Arbeit für die Diakonie in Hamburg persönlich erfahren:
Gemeinsam mit einer Selbsthilfegruppe von Obdachlosen gründeten wir 1993 nach einem Londoner Vorbild die Straßenzeitung „Hinz & Kunzt“, die inzwischen in vielen Städten Nachfolger gefunden hat. Wenige Monate nach dem erfolgreichen Start besuchte mich eine begeisterte Leserin der neuen Zeitung. Sie war Journalistin und ihr Mann Architekt. Temperamentvoll trug sie mir ihre neue Idee vor: Obdachlose brauchten vor allem ein Dach über den Kopf. Sie sagte in etwa: „Ihr müsst die alte Idee der Gotteswohnungen wiederbeleben. Im Mittelalter baute man doch an die Kirchen kleine Zeilen von Buden an und ließ dort die Armen der Gemeinde ohne Miete - für Gotteslohn – wohnen. Hat Jesus nicht gelehrt: ‚Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es gewinnen.’ Dies gilt auch für die Kirche als ganze. Die Kirche hat in Hamburg rund um die 200 Kirchengebäude kleine Grünzonen. Warum könnt ihr nicht mit den obdachlosen Menschen teilen und solche Gottesbuden neben den Kirchen errichten?“
Etliche Gemeinden in Hamburg – arme ebenso wie reiche – ließen sich für diese Idee begeistern. Es entstanden 29 Häuschen. Wir nannten Sie Kirchenkaten. Jede 18 m² groß, mit kleiner Veranda und dem lange vermissten Briefkasten. Auch viele Spender konnten wir für dieses einleuchtende Projekt gewinnen. Max Schmeling etwa stiftete für jede neue Kate 10.000,-- DM.
Die erste Eröffnungsfeier war besonders bewegend. Einer der Bewohner erzählte mir von seinen 17 Jahren ohne Dach über dem Kopf. Mindestens einmal in der Nacht müßte er raus, um nach den Sternen zu sehen. Ob er ein ganzes Jahr durchhalten werde, wisse er nicht. Vielleicht müsse er doch einmal 14 Tage Urlaub von der Kate nehmen.
Als wir im vergangenen Jahr das 10-Jahre-Jubiläum der Kirchenkaten feierten, waren alle Gemeinden überzeugt, dass es sich gelohnt habe. Wir konnten helfen und mancher Neuanfang gelang.