Bibelarbeit auf der Vertreterversammlung des Arbeitskreises Kirche und Sport in der EKD in Kamen
Albrecht Thiel
Johannes 8,31-36:
31 nun sagte Jesus zu den Juden, die ihm geglaubt hatten: „Wenn ihr in meinem Wort bleibt (= Hörer und Täter meines Wortes bleibt), so seid ihr in Wahrheit meine Schüler.
32 und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“
33 Sie antworteten ihm: „Wir sind Abrahams Nachkommenschaft und waren niemandem jemals versklavt; wie kannst du da sagen: ‚Ihr werdet frei werden.’?“
34 Jesus antwortete ihnen: „Amen, amen, ich sage euch: Jeder, der Sünde tut, ist ein Sklave der Sünde.
35 Der Sklave aber bleibt nicht für immer im Haus, der Sohn dagegen bleibt für immer darin.
36 Wenn also der Sohn euch frei macht, dann werdet ihr wirklich frei sein.“
Einleitung
Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen – sagt Jesus in einem zentralen Redentext im Johannesevangelium im 8. Kapitel. Man hat den Abschnitt Joh 8,31-36 für so fundamental gehalten, dass er lange Zeit dem Reformationstag zugeordnet war.
Ich möchte heute mit euch von diesem Text her über das Thema „Wahrheit“ nachdenken. Wahrheit im Schnittfeld von Bibel und Kirche, aber auch von Sport und Gesellschaft. Von welcher Wahrheit leben wir? Mit welcher Wahrheit und mit wie viel davon richten wir uns unsere Wirklichkeit ein? Ein Innenminister unseres Landes, quasi per Amt einer der Hüter der Verfassung, äußerte vor etlichen Jahren, man könne ja nicht immer mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen. Geht es uns ähnlich: Möchten wir als Menschen unserer Zeit einfach aufregenden Sport erleben und dabei nicht mit ethischen Fragen konfrontiert werden. Ja, möchten wir in der Gemengelage unserer Wirklichkeit überhaupt mit der Wahrheit konfrontiert werden oder halten wir es lieber mit dem schönen, weil so wunderbar verdrehten Wort von André Heller: „Die Lüge ist wahrer als die Wahrheit, weil die Wahrheit so verlogen ist.“? Einige Stichworte zum Thema:
„Eine unbequeme Wahrheit“ heißt der Film und auch der Vortrag, mit dem Al Gore sich wieder ins politische Geschäft bringen möchte. Was ihm auch von der Öffentlichkeitswirkung her sehr gut gelungen ist. Immerhin hat er in diesen Tagen für seine Bemühungen zum Klimaschutz den Friedensnobelpreis bekommen. Als Reaktion auf sein Engagement war es der konservativen Rechten eine besondere Freude, die Stromrechnung von Mr. Gore zu präsentieren: Der Verbrauch in seinem nicht gerade bescheidenem Anwesen sei 20mal so hoch wie der des durchschnittlichen Amerikaners, der schon unangefochten Weltmeister im Stromverbrauch ist.
Blättern wir ein bisschen: Auf der Google-Seite zum Stichwort „Wahrheit“ erwartet uns ein digitales Buch, mit dem wir angeblich eine Reise zum Gipfel der Philosophie antreten und - hoffentlich erfolgreich - beenden können. „Auf ein Wort“ lädt uns ein Rudi Berner ein, sein Buch über die philosophische Wahrheit zu lesen. „Wenn Sie dieses Werk gelesen haben, kann es sehr gut möglich sein, dass Sie die Welt und Ihr persönliches Dasein plötzlich mit gänzlich anderen Augen betrachten. Sie werden, wenn alles klappt, keine Fragen mehr an das LEBEN stellen - jedenfalls keine grundsätzlichen mehr!“ Da sind wir aber gespannt! Wahrheit heißt dann: Keine Fragen mehr stellen.
Auch Harun Yahya lädt ein zur Wahrheit. Der Autor hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, die ausdrücklich die Existenz und die offenbarende Schöpfung Allahs darstellen. Öffnen wir die Seite zu seinem Schrifttum, entdecken wir unter der Spalte „Neuigkeiten“ z.B. den Satz „Gott beweist: Darwin ist tot.“ Wie wahr!
Und neben Gadamers philosophischem Klassiker „Wahrheit und Methode“ findet sich bei Google gleich Sascha Bendiks „Die halbe Wahrheit“ – wobei es sich um Late-Night-Pop handelt. Ist ja auch nur die halbe Wahrheit.
Zum Einstieg ein Blatt mit einigen Zitaten zum Stichwort. Meine Bitte: Nach gründlichem Durchlesen möge sich bitte jeder für ein Zitat entscheiden, mit dem er oder sie am meisten anfangen kann – als eine Art Leitfrage.
Wahrheit
1. „Wenn es nur eine einzige Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen.“ Pablo Picasso
2. „Wenn alle Menschen immer die Wahrheit sagten, wäre das die Hölle auf Erden.“ Jean Gabin
3. „Die Wahrheit kann auch eine Keule sein, mit der man andere erschlägt.“ Anatole France (16.04.1844 - 12.10.1924, frz. Schriftsteller und Nobelpreisträger 1921)
4. „Je weniger wir Trugbilder bewundern, desto mehr vermögen wir die Wahrheit aufzunehmen.„ Aus 'Handbüchlein eines christlichen Streiters'. Erasmus von Rotterdam
5. „Die Lüge ist wahrer als die Wahrheit, weil die Wahrheit so verlogen ist.“ André Heller
6. „Alles was du sagst, sollte wahr sein. Aber nicht alles was wahr ist, solltest du auch sagen.“ Voltaire (21.11.1694 - 30.05.1778)
7. „Die Strafe des Lügners ist nicht, dass ihm niemand mehr glaubt, sondern dass er selbst niemandem mehr glauben kann.“ George Bernard Shaw
Fragen
Mit welcher Wahrheit wollen wir leben? Ich notiere, bevor wir uns dem Bibeltext zuwenden, einige Leitfragen aus dem Bereich „Kirche und Sport“:
Wünschen wir uns wirklich einen fairen und sauberen Sport? Aber: Dass die Zuschauer sich in einer Art öffentlichem Moralempfinden betrogen fühlen und in Scharen abwandern, ist gerade in hochgradig dopingbestimmten Sportarten wie Baseball, Radsport oder Boxen nicht nachzuweisen. Die breite (vielleicht sogar die demokratische?) Öffentlichkeit, die trotz allem kommt, ist das eine, das Bild des Amateurathleten, wie es im England des 19. Jahrhundert geprägt wurde, ist das andere. Dieses Bild impliziert den Sport als Freizeitbeschäftigung des vermögenden Gentleman, es verbindet das Erreichen physischer Höchstleistungen mit der Erwartung besonderer ethischer Qualitäten.1
Wünschen wir uns wirklich den ehrlichen Sport? Mitten in einer Gesellschaft, die nach mancherlei Prinzipien funktioniert, ich nenne z.B.: Prinzipien der Effektivität, der Gewinnmaximierung, der Spekulationsgewinne, der Befriedigung von Quoten und Klientelen, des technischen Fortschritts. Aber Ehrlichkeit? Zitat Rolf Aldag aus der berühmten „Beichte“: „Zunächst einfach lügen, natürlich wurden 1998 dieselben Fragen gestellt. Ich war damals bei Wolf von Lojewski zugeschaltet im Heute-Journal und auch da wurde gefragt. Doping, um Gottes willen, nein. Auch da habe ich gelogen. Damals mit dem Wissen, man kann es mir ohnehin nicht beweisen. Es gibt eigentlich gar keinen Grund, die Wahrheit zu sagen. Mit dem Gedanken, es machen viele, sehr viele wahrscheinlich.“2
Wollen wir als Menschen der Kirche den ganzen Menschen mit Leib und Seele – ich muss das jetzt einmal sagen, weil es einfach ein blödsinniger Ausdruck ist. Niemand von uns hat irgendeinen Menschen jemals anders etwas tun sehen als mit Leib und Seele. Jedenfalls den Menschen, bei dem Spiel und Sport in naturaler, personaler und sozialer Dimension in den Dienst der menschlichen Würde zu treten vermögen?3 Wie wir das alle mal bei Wolfgang Huber oder Ommo Gruppe gelernt haben. Wollen wir diesen schönen Dreiklang und lassen den hochkommerzialisierten Leistungssport links liegen? Scheren uns auch nicht um die Popularität von Mega-Events, weil die mit schöpfungsgemäßer Entfaltung der Menschen relativ wenig zu tun haben? Oder sind wir als Kirche auch dabei, damit ein paar Krümel vom Popularitätsbonus auch auf uns abfallen? Sind gar noch neidisch auf die emotionale Dichte im Stadion? Wie stellen wir uns auf gegenüber dem populären Sport, wie gegenüber den Fanatismen und Verblendungen der Fans - die ja ganz nebenbei in ihrer Mehrzahl auch unsere Kirchenmitglieder sind?
Zum Text:
Das ganze Kapitel ist eine einzige, durch keine konkrete Situationsschilderung unterbrochene Wechselrede zwischen Jesus und „den Juden“. Diese werden zu Beginn als Menschen charakterisiert, die zum Glauben gekommen sind. Davon ist dann aber im Folgenden überhaupt nichts mehr zu spüren. Am Ende des ganzen Redenteils wird es sogar handgreiflich: In V. 59 heben „die Juden“ Steine auf und wollen Jesus damit bewerfen.
Dieses Scheitern des Gesprächs scheint aber in der Konzeption der Reden angelegt zu sein. Wenn „die Juden“ auch als Glaubende vorgestellt werden, zielt Jesus durchweg auf das Zuspitzen von Gegensätzen. Bis dahin, dass er sie als „Teufelssöhne“ (V 44) bezeichnet. Dahinter stehen offenbar strittige und umstrittene Themen zwischen den Jesus-Anhängern und anderen Juden. Mit Sicherheit aber kein Anti-Judaismus; denn das Wort „Jude“ meint hier auch keine Volks- oder gar Rassebezeichnung, sondern steht allgemein für „Welt“.4
Sind die Juden, die ihm geglaubt hatten, solche, die dann wieder vom Glauben abgefallen sind? Das ist möglich. Wo aber sonst im NT vom Glauben im Part. Perf. die Rede ist, geschieht das nie im Sinne der Vorvergangenheit.5 Aber auch in dem Fall wäre der Glaube an die Worte Jesu nur Episode geblieben, die Gesprächspartner stehen Jesus wieder als „die Juden“ gegenüber. Wie auch immer: Die Schärfe der Konfrontation in diesem Abschnitt kann durchaus damit zusammenhängen, dass wir es mit Konvertiten zu tun haben. Aktuelles Beispiel: Konvertiten zum Islam neigten "eindeutig dazu, sich durch besonderen Fanatismus der neuen Religion als würdig erweisen zu wollen", sagte der neue bayrische Ministerpräsident und langjährige Landessynodale Günter Beckstein6 im Zusammenhang der gar nicht weit von hier, im Sauerland, aufgeflogenen Terroristen.
Wenn ihr in meinem Wort bleibt (= Hörer und Täter meines Wortes bleibt), so seid ihr in Wahrheit meine Schüler. sagt Jesus. Die Anhängerschaft wird also nicht personal definiert . Also nicht: Gehörst du zu Rabbi Jeschua oder zu Rabbi X. Oder wie man bei uns im Ruhrgebiet sagt: Wat bisse? Dortmund oder Schalke? Sie wird inhaltlich definiert. Es geht nicht um das Erkennen der Person Jesu. Es geht um den Inhalt des Willens Gottes, um die Treue Gottes, die nach V 26 hinter der Sendung Jesu steht .7 Was ich von ihm geredet habe, das rede ich zur Welt. Schülerschaft vollzieht sich im Hören und Bedenken der Worte des Lehrers und im gemeinsamen Leben mit ihm.8 Die Jünger gehören demnach nicht in der Art und Weise zu Jesus, wie wir das Wort „Jünger“ gelegentlich abwertend gebrauchen. Sie sind auch keine Fans. Denn Fans können nicht anders, bei den Schülern dagegen geht es um ein lebenslanges Lernen.
Fans, deren Verein abgestiegen ist, werden in einem solchen Fall gern von den Anhängern eines erfolgreicheren Vereins, dazu aufgefordert, den Verein zu wechseln. Die überwiegende Erfahrung ist: „Es geht nicht!“ Aus einem 60er wird kein Bayern-Fan, auch wenn man sich dort viele Jahre lang im Erfolg sonnen könnte. Ich bin das einfach, so wie ich in einer bestimmten Stadt geboren bin und auch nach einem Umzug immer noch irgendwie dahin gehöre.
Hier dagegen wird das Schülersein an nichts weiter gebunden als die Wahrheit. Und zwar die Wahrheit Gottes. Also nicht eine vorher definierte oder erarbeitete Wahrheit als kirchlicher oder gesellschaftlicher Konsens. Das ist eine geradezu ungeheure Freiheit mitten in allen sonstigen Bindungen. Als einen für mich beeindruckenden Fund möchte ich dazu die Eingangspassage einer Predigt von Karl Barth zitieren, die er am 16. Juni 1946 im Notkirchsaal der Reformierten Gemeinde in Frankfurt a.M. gehalten hat.
„Uns ist zugesagt, dass wir jetzt, heute, sofort Jesu rechte Jünger sein dürfen. Wir sind nicht gefragt, wer oder was wir sonst sein mögen, gewesen sein mögen, sein werden: Deutsche Menschen, Schweizer, Amerikaner, Menschen, welche vom grausigen Unglück dieser Zeit schwer oder weniger schwer betroffen sind, religiös Interessierte oder Uninteressierte, Menschen, die einmal Nazis gewesen sind und vielleicht heimlich schon wieder sind, oder tapfere Antifaschisten. Wir sind nicht gefragt, ob wir Bekenntnischristen waren, oder ob wir uns vielleicht heute nur wünschen möchten, dass wir es zur rechten Zeit gewesen wären. Und sind nicht gefragt, ob wir christliche Demokraten sind oder Sozialisten oder Parteilose. Mag ein jeder sein, was er ist und treiben, was er treiben darf; wenn wir rechte Jünger Jesu sind, dann wird sich ja finden, was wir in Zukunft sein und treiben können und werden.“9
Bei dem Ausdruck in meinem Wort bleiben klingt allerdings auch deutlich die nachösterliche Situation an. Sie können gar nicht mehr unmittelbar bei Jesus bleiben, weil er als Person nicht mehr da ist. Wohl aber in seinem Wort. Was ja im übrigen die Situation aller folgenden Generationen ist. Das Bleiben ist das Wahrheitskriterium, nicht die kurzfristige Begeisterung. Was im übrigen ein substantieller Unterschied zwischen Kirche und Sport ist. Auch die sog. „Unsterblichen“ des Sports sind in Wahrheit Helden für den Tag. Der Versuch, dem Helden eine darüber hinausgehende Bedeutung zu verleihen, führt fast immer zur Lächerlichkeit. Der Satz: „Jürgen Kohler: Fußballgott“ trägt einfach nicht. Die Menschen des Sports wissen bei den Begegnungen mit uns meist um diese Grenzen, eher sind wir Kirchenmenschen in der Gefahr, im Raunen der Massen etwas Höheres zu vernehmen.
Bleiben zielt also auf das Beständige. Wer zum bleibenden Glauben kommt, der hat das ewige Leben (Joh 3,16). Das ist immer als Bewegung, als Weg gedacht, nie als ein Status. Das Bleiben führt zum Fruchtbringen (Joh 12,15), es betont die Einheit von Wort und Handeln. Paulus nennt das die „Früchte des Geistes“.10 Bei Johannes ist das weniger ethisch ausgerichtet, es ist eher das Bewahren und das Bewähren der Botschaft in den Lebenszusammenhängen.
Kommt es zum Bleiben, dann wird die Wahrheit erkannt. Die Wahrheit geschieht demnach nicht in einer Augenblickserkenntnis, sondern in einem beharrlichen Bei-der-Sache-Bleiben. Um es an Beispielen aus dem Sport deutlich zu machen: „Es gibt eigentlich gar keinen Grund, die Wahrheit zu sagen. Mit dem Gedanken, es machen viele, sehr viele wahrscheinlich.“ Rolf Aldag, der die oberflächliche Wirklichkeit beschreibt. Weil das, ganz nebenbei gesagt, die Regel des Erfolgs ist. Auch der Stürmer, der zugibt: „Es war gar kein Foul, der gepfiffene Elfmeter ist unberechtigt!“ hat zwar gute Chancen, für einen Fair-Play-Preis nominiert zu werden, aber ganz schlechte Chancen bei den eigenen Fans. Statt der Wahrheit gilt der positivistische Satz: „Elfmeter ist, wenn der Schiedsrichter pfeift.“ Demgegenüber gab es doch meiner Ansicht nach ein Wahrheitsmoment bei der „Beichte“ von Aldag und Zabel. Nämlich die Tränen, die Erik Zabel bei dem Gedanken daran weinte, dass doch die Lüge für seinen Sohn und dessen Lebenshaltung, Lebenskonzept keine Grundlage sein dürfe. Wenn die Lüge Praxis ist, dann ist es so. Wenn sie etwas Bleibendes wird, wenn sie auf Dauer wirkt, ist auch im Sinn der Lügner etwas verkehrt gelaufen.
Das Bleiben ist mit dem Erkennen der Wahrheit verbunden. Die direkte Antwort auf die Frage, was das denn sei, ist zweifellos: Ihr werdet den erkennen, der von sich gesagt hat: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Mit der Betonung auf dem ICH: Das Mit-Sein Gottes auf dem Weg ans Kreuz, in IHM ereignet sich die höchste Wahrheit ganz unten. Diese zweifellos lebensentscheidende, heilsentscheidende Wahrheitsfrage würde aber über die vielen Wahrheiten oder Lügen in unserem Leben relativ wenig austragen. Johannes wirft aber an dieser Stelle das Wort „Wahrheit“ ein. Wählt also nicht die Terminologie von „Vater und Sohn“ oder „Leben“ oder „Gericht“, sondern ein Wort, dass zum einen in der Umgangssprache vorkommt, zum anderen in der logischen und philosophischen Diskussion.
Die Wahrheit, die ich erst erkennen werde, ist offenbar keine augenfällige Banalität. Sondern sie setzt voraus:
Das bleibende, also dauerhafte Hören im Schülerverhältnis. Das Lernen der Wahrheit, die keine Allerweltswahrheit ist, sondern eine erkannte.
Im Letzten eine geschenkte Offenbarung (was das ewige Leben betrifft), im Vorletzten, was das tägliche Leben betrifft, einen Abstand zur Welt.
Die Schülerschaft als neue Praxis, als gelebte Alternativ zur Welt, die von der Lüge bestimmt ist. Die Welt ist pseudos – damit ist sie, wie unsere Vorsilbe Pseudo- ja ausdrückt, eine uneigentliche Welt. Eine Welt, die nicht ihrem Wesen entsprechend funktionieren kann.
Die Wahrheit: das Verb, das in dem Wort aletheia steckt, heißt letho verborgen sein. Aus der griechischen Mythologie kennen wir den Fluss Lethe. Er bildet den Eingang zur Unterwelt. Die Verstorbenen müssen aus ihm trinken, um das zu vergessen, was hinter ihnen liegt. Dass die Lethe auch eine realer Fluss ist, der bei Oldenburg in die Hunte mündet, mag etwas mit norddeutschem Mythologieverständnis zu tun haben, können wir aber vergessen. Etymologisch ist die Wahrheit demnach das Nicht-Vergessen.11 Also nicht nur „sagen, wie es ist“, wie es ein Wörterbuch zusammenfasst.12 Das klingt mir zu sehr nach dem, was sich durchgesetzt hat und das kann ja durchaus Macht, Lüge und Gewalt sein. Demgegenüber nenne ich als Beispiel für die Wahrheit oder Wahrhaftigkeit das Stichwort, das bei den Feierlichkeiten anlässlich der vor einem Jahr ermordeten russischen Journalistin Anna Politkowskaja fiel: Sie habe ein Leben für die Wahrheit gelebt, weil sie u.a. den Krieg in Tschetschenien dem Vergessen entrissen habe.
Was heißt das für die Auseinandersetzungen um einen fairen Sport? Fair in dem Sinne, dass mit gerechten Mitteln gekämpft wird. Es heißt m.E., dass wir uns den oft nervigen Kampf eines Werner Franke nicht nur gefallen lassen müssen, sondern ihn als Kirche mittragen. Allerdings dann auch bitte keine Scheinkämpfe führen! Also nicht von Tour de France 2007 als Doping-Tour sprechen, während sie in Wahrheit die bestkontrollierte seit Jahren war. Nicht mit erhobenem Zeigefinger auf die bösen Radsportler zeigen, aber ja keinen Blick auf die Leistungssteigerungen beim Fußball werfen. Als erkennbar wurde, dass sowohl in Spanien als auch in Italien Fußballer gedopt waren, wurde da nicht weiter ermittelt. Das wollten wir eigentlich auch gar nicht so genau wissen.
„Sport ist Mord“ sagen die einen. Sie können auf Tom Simpson verweisen, der vor 40 Jahren am Mont Ventoux starb und dessen Grundsatz bei Medikamenten war: „Wenn 10 mich umbringen, dann gib mir neun.“ Sie können auf die mit einem tödlichen Mix aus Medikamenten vollgepumpte Birgit Dressel verweisen oder auf das flächendeckend geförderte Doping in der DDR und sich ein bisschen wundern, dass ausgerechnet die erfolgreichste aller Schwimmerinnen, nämlich Kristin Otto, wohl nie gedopt hat und heute Journalistin beim ZDF ist. All das bleibt banal und nicht wahr, wenn nicht insgesamt erkannt wird, wie in unserer Gesellschaft Drogen immer mehr zur Leistungssteigerung gehören. Die Geschichte der Arbeitsgesellschaft – so der Zürcher Sozialhistoriker Jakob Tanner – liest sich seit dem Zweiten Weltkrieg „als eine Geschichte fortschreitender Pharmakologisierung angesichts steigender äußerer Anforderungen.“13 Die Wahrheit wird euch frei machen, ist die Verheißung. Frei auch von unseren inneren Zwängen, dass wir warten, wer denn den Rekord von Marco Pantani in Alpe d’Huez bricht oder ob es eine Frau gibt, die jemals schneller ist als die arme, weil elend an den Folgen des Medikamentenmißbrauchs gestorbene Florence Griffith-Joyner. Es ist niemandem gedient, wenn wir die wenigen Ertappten brandmarken und die vielen verdächtigen. Dass wir aber unsere eigenen Grundsätze auch auf den Leistungssport anwenden, nämlich Sport in naturaler, personaler und sozialer Dimension – wenn wir das wollen, dann sollten wir uns als Kirche nicht vom Sport mit Schaudern abwenden (und uns am besten auch gleich noch von der Gesellschaft abwenden), sondern all denen, die Sport für wichtig halten, konstruktiv Maßstäbe an die Hand geben. Die frei machen.
Zurück zum Text: Auf die Verheißung der Befreiung reagieren die Angeredeten in V 33 verwundert. Was heißt hier Befreiung – sind wir denn etwa Sklaven? Klaus Wengst versteht dieses Votum in seinem Johannes-Kommentar so, als beziehen sich „die Juden“ damit auf die eigene Befreiungsgeschichte, also den Exodus oder die prophetische Kritik14. Aber kommt in der hier vorgetragenen Haltung nicht gerade zum Ausdruck, dass sie lediglich meinen, die gute Tradition auf ihrer Seite zu haben. „Wir sind Kinder Abrahams“ und damit per se die Guten. Wir sind die „Kinder von Marx und Coca-Cola“ (um es mit Jean-Luc Godard zu sagen15) und stehen damit auf der fortschrittlichen Seite und brauchen darum auch nicht auf jede Kritik an der guten Sache einzugehen. Wir sind für „Kirche und Sport“, was ja doch ein sinnvolles Miteinander ist, Leib und Seele und so weiter – jetzt kommen Sie mir nicht mit solchen Schlagworten wie „zerstörerische Kraft des Leistungssports“, „Körperkult“, „Stadien sind Orte der Gewalt“. Ich höre aus diesem Gesprächsgang schon das Gefälle heraus, das wir aus Gesprächen mit einer, vermutlich mit jeder Vätergeneration nur zu gut kennen: „Das lasse ich mir von so einem nicht sagen, von so einem nicht.“
Eine Pointe ist für mich in der Anti-Haltung gegeben. Wären die Gesprächspartner Jesu wirklich interessiert gewesen, dann hätten sie doch nachgefragt: „Was meinst du mit ‚frei werden‘?“ Oder: „Wovon sollen wir frei werden?“ Sie aber lehnen sich zurück auf ihren Besitzstand: „Wir sind…“ – und damit definieren wir schon mal vorab, worauf es ankommt. Ein bisschen erinnert es mich an das Aneinandervorbeireden von evangelischer und katholischer Kirche. Wir (Evangelischen) reden von der Botschaft der Freiheit, von biblisch begründeter rechter Lehre usw. – die andere Seite lässt sich aber gar nicht auf einen Streit darüber ein, sondern definiert ganz selbständig, worauf es ihrer Meinung nach ankommt: „Wir haben aber das eucharistische Mysterion“. Also: Die Beobachtung vieler Exegeten, hier handele sich gar nicht um Dialoge, weil die Gesprächspartner mehr aneinander vorbei als aufeinander bezogen reden, ist zweifellos richtig. Insofern sind es eher Dokumente des Missverstehens oder aber Dialoge, wie sie das Leben schreibt. Wo eben sehr oft der eine gar nicht auf den anderen antworten will, sondern sein eigenes Anliegen loswerden möchte.
Auch Jesus antwortet nicht auf den Einwand. Man könnte sogar den V 33 weglassen und hätte dann viel passender in V 32 die positive Aussage über die Wahrheit und in V 34 die entsprechende negative Aussage über die Sünde. Sünde ist Knechtschaft, ist Versklavtsein. Das gilt offenbar für alle, egal ob Söhne Abrahams oder Mitglieder irgendeiner anderen Glaubensgemeinschaft. Es gilt auch und vielleicht sogar erst recht für die, die sich so frei fühlen, keinem anderen Glauben als den an sich selbst anzugehören. Das Versklavtsein gilt nicht im Sinne einer Lehre vom Sündenstand, dass wir alle die Ursünde Adams mit uns herumschleppen, sondern: Jeder, der Sünde tut, ist ein Sklave der Sünde. Das andere ist allerdings viel bequemer: Wenn ich „in Sünden empfangen bin“16 oder wenn wir „allzumal Sünder“17 sind, dann wirft das eine Art Grauschleier über die Menschheit, ändert aber an mir und meinem Verhalten nicht allzu viel. So ist es halt! Jesus schreibt hier aber keinen Status, kein Sein fest, sondern bindet es ans Verhalten der Menschen.
Das muss nicht unbedingt eine optimistischere Sichtweise sein. Wer von uns tut denn nicht die Sünde? Wir alle haben in unserem Verhalten die Tendenz, uns in diese Knechtschaft hineinzubegeben. Aber ich muss es nicht auf Grund meiner anthropologischen Verfasstheit, ich könnte auch anders. Ich könnte mich ja auch durch das Wort der Wahrheit frei machen lassen. Das ist dann Licht und nicht nur der ewige Grauschleier. Es ist aber nicht etwa eine solche positive Grundeinstellung, wie sie zu Jesu Zeiten die Stoa lehrte, derzufolge der Mensch als logos ursprünglich frei sein, vielmehr „hat der Mensch sein Freisein nicht anders als im ständigen Freiwerden“ (Rudolf Bultmann)18
Aus der scheinbaren Freiheit, dass ich die Möglichkeit B doch ebenso gut verwirklichen kann wie die Möglichkeit A, gerate ich in ein Netz, in dem ich nicht mehr Herr der Lage bin, sondern zu einem Verhalten gezwungen bin. Leben mit Sünde ist anstrengend – weil ich das ja nicht offen ausleben will, dass die Sünde ein allgemein gültiges Gesetz sein soll. Also muss ich lügen. Es muss ja nicht immer so primitiv sein wie etwa bei Marion Jones. Diese gab jetzt in einem offenen Brief endlich19 zu, dass sie von 1999 an zwei Jahre lang Steroide genommen habe. Jones schrieb, sie habe die Substanz von ihrem Trainer Trevor Graham unter dem Vorwand, es sei Leinsamen-Öl, erhalten.
Aber trauen wir uns von Seiten der Kirche, so etwas zu sagen? Es muss ja nicht wörtlich sein. „Sklave der Sünde“ klingt mir auch zu sehr nach Zeltmission. Und dass der breite Weg zur Hölle führt und zu diesem breiten Weg Theater, Glücksspiel und ausgerechnet auch Sport gehören, das finden wir ja überwiegend nur noch erheiternd. Aber wie oft reden wir zwar vom Scheitern des Lebens, trauen uns aber nicht, Mechanismen aufzudecken? Sind denn nur die Gehälter von Josef Ackermann und Michael Ballack sündhaft hoch? Oder wo beginnt das? Sind wir selbstverständlich gegen Doping, reagieren aber im Grunde ähnlich wie öffentlich-rechtliche Sender, die bei sportlicher Erfolglosigkeit sehr schnell Sportarten aus dem Programm nehmen? Die Fixierung auf den Sieger (der natürlich um jeden Preis siegen muss, siehe Bayern München) ist meiner Ansicht nach auch ein Stück solchen zwanghaften Verflochtenseins.
Das ist allerdings nicht das letzte Wort, das Wort vom Versklavtsein. Sondern das Leitmotiv vom Bleiben taucht wieder auf. Jetzt aber erweitert: Ihr könnt bleiben, weil der Sohn bleibt – und weil ihr bei dem Sohn bleiben könnt. Wenn wir von den Zwängen reden, dann aber auch von dem, der von Zwängen befreit. Es geht ja bei dieser Botschaft nicht um ein Bleiben im alten Trott („Dat ham wir schon immer so gemacht.“), es geht auch nicht um ein Bleiben in der Kirche. Es geht um ein Bleiben bei dem, der sagt: Ich bin die Wahrheit und das Leben. Was das bedeutet, haben wir zu beschreiben mitten zwischen all den anderen Wahrheiten. Johannes hat das in seiner Zeit auch getan. Wir dürfen es nicht zu billig machen, denn das Ziel ist die „Kostbarkeit des glückseligen Lebens“, wie Calvin sagt, nicht weniger. Wir müssen es auch erkennbar machen, dass dieser Sieg etwas qualitativ anderes ist als andere Siege. Oder: Wenn wir auch hoffentlich sehr gezielt zu den Menschen dieser Welt reden, dann gilt doch, was die heutige Tageslosung sagt: Wovon wir reden, das ist nicht eine Weisheit dieser Welt, auch nicht der Herrscher dieser Welt, die vergehen. Sondern wir reden von der Weisheit Gottes, die im Geheimnis verborgen ist, die Gott vorherbestimmt hat vor aller Zeit zu unserer Herrlichkeit. (1. Kor 2, 6-7).20
1 Hans-Ulrich Gumbrecht, Über die geheuchelte Wut. Einwürfe zur Diskussion über Dopingverbote. FAS 29.7.07
2 Sportbild 24.5.2007
3 Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert. Konsultationsprozess 1999. S.54.
4 Hans Helmut Eßer in botschaft aktuell 42/77.
5 Vgl. bes. die Texte der Apg: 15,5; 16,34; 18,27. Beispielhaft das Summarium in 19,18: „Und viele von denen, die gläubig geworden waren, kamen und bekannten und erzählten ihre Taten.“
6 N-tv 5.9.2007
7 Vgl. Karl Barth, Erklärung des Johannes-Evangeliums, S.377.
8 Klaus Wengst, Das Johannesevangelium Bd. 1,S.339.
9 Fürchte dich nicht, S.285.
10 Vgl. Klaus Berger in GPM 43/1, S.64.
11 Ich lasse hier Bultmanns Definition von der Wahrheit als der Erschlossenheit allen Seins außen vor, weil sie mir auf der hohen Stufe der Abstraktion für die Bewältigung von Lebensvollzügen wenig hilfreich erscheint.
12 Frisk Wörterbuch I 171. Auch H. Boeder, Der frühgriech. Wortgebrauch von Logos und Aletheia: Archiv für Begriffsgeschichte 4 (1959), 82-112.
13 FAZ vom 28.9.2007, S.39
14 Vgl. Wengst, S340f.
15 Jean Luc Godard, Masculin – féminin oder: Die Kinder von Marx und Coca Cola, F/S 1965
16 Vgl. Confessio Augustana, Art. 2
17 Vgl. Röm 3,23 und das Gewicht, das besonders die Theologie Luthers auf die Auslegung dieses Kapitels legt.
18 Das Evangelium nach Johannes, S.335.
19 FAZ vom 5.10.2007 mit Berufung auf die „Washington Post“
20 Tageslosung vom 24.10.2007.