Predigt am Sonntag Invokavit im Berliner Dom (Jakobus 1,12-18)

Hermann Barth

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.

Als Predigttext für diesen Sonntag ist ein Abschnitt aus dem 1. Kapitel des Jakobusbriefes vorgesehen:

(12) Selig, wer der Versuchung standhält; denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, die Gott verheißen hat denen, die ihn liebhaben.

(13) Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde. Denn Gott kann nicht versucht werden zum Bösen, und er selbst versucht niemand.

(14) Sondern ein jeder, der versucht wird, wird von seinen eigenen Begierden gereizt und gelockt.

(15) Danach, wenn die Begierde empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod.

(16) Irrt euch nicht ...

(17) Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei dem keine Veränderung ist noch Wechsel des Lichts und der Finsternis.

(18) Er hat uns geboren nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, damit wir Erstlinge seiner Geschöpfe seien.

Herr, heilige uns in deiner Wahrheit. Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.

Liebe Gemeinde!

Oscar Wilde hat einmal gesagt: "Ich kann allem widerstehen - außer der Versuchung." Jeder von uns ist Experte in Sachen Versuchung, jeder auf seine Weise. Es ist eine große Versuchung, heute das Thema "Versuchung" in den Mittelpunkt der Predigt zu rücken. Denn alle biblischen Lesungen, die wir gehört haben, kreisen um das eine Stichwort: Versuchung. Das Evangelium des Sonntags hat uns Jesus vor Augen gestellt als jemand, "der versucht worden ist in allem wie wir" (Hebräer 4,15). Immer genug Brot, kein Unfall noch Gefahr, Macht ohne Ende - wer würde bei diesen Angeboten des Teufels nicht weich werden? Jesus aber widersteht, bleibt "ohne Sünde" (Hebräer 4,15). Die Paradieserzählung ist dazu die Gegengeschichte: Der Mensch erliegt den Einflüsterungen der Schlange, er bekommt einen neuen Blick auf den Baum mitten im Garten; er sieht, "dass von dem Baum gut zu essen und er eine Lust für die Augen wäre und verlockend" - und nimmt die Frucht und isst. Und dann noch der Predigttext selbst mit seiner provozierenden Behauptung: "Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde ... Sondern ein jeder, der versucht wird, wird von seinen eigenen Begierden ... verlockt." Die Verantwortlichkeiten sind klar verteilt: Gott hat mit der Versuchung nichts zu tun. Die eigene böse Begierde ist das Problem. Wenn dieses Ensemble von biblischen Texten keine Versuchung ist, über die Versuchung zu predigen!

Aber da ist auch der erste Satz des Predigttextes: "Selig, wer der Versuchung standhält!" Ich höre ihn - wenn man ihn auf den heutigen Gottesdienst und den Umgang mit dem Predigttext bezieht - als eine Mahnung, ein offenes Ohr auch für andere Klänge des Predigttextes zu behalten. Von der Versuchung muss und wird die Rede sein, aber erst, wenn ich drei anderen Stichworten des Predigttextes zu ihrem Recht verholfen habe: Stehvermögen, zweierlei Geburt, "alle gute Gabe kommt her von Gott, dem Herrn".

I.

Der Jakobusbrief, den Luther nicht recht leiden mochte und als "stroherne Epistel" tituliert hat, ist besser als sein Ruf. Gewiss, ihm fehlen die Frische des Anfangs und die glühende Erwartung der kommenden neuen Welt, wie sie in den Briefen des Paulus spürbar sind und auch noch in den Evangelien durchschimmern. Aber das kann ihm niemand vorwerfen. Wenn sich die Situation grundlegend geändert hat, dann hilft es nichts, den Ton und die Worte einer vergangenen Zeit zu wiederholen. Die Adressaten, an die sich der Jakobusbrief richtet, stehen nicht mehr in derselben Weise "unter Strom" wie die Gemeinden der Frühzeit, sie mühen sich ab mit den "ganz normalen" Problemen des gemeindlichen Alltags und der christlichen Lebenspraxis: den Spannungen in ihrer Mitte, der Neigung, reiche Gemeindeglieder anders zu behandeln als arme, der Fürsorge für die Kranken oder - das darf nicht fehlen - dem richtigen Verhältnis von Glaube und Planung. Auf das Letztere bezieht sich ein kleiner Abschnitt, den man die conditio Jacobea, die Bedingung des Jakobus, genannt hat, mit der noch mein Großvater jeden Brief, in dem er Pläne ausbreitete, zu beschließen pflegte: "so der Herr will und wir leben" (4,13-16). Man hat den Jakobusbrief als eine "Weisheitsschrift in Briefform" charakterisiert. In reichem Maße wird aus der alttestamentlich-jüdischen Weisheitstradition geschöpft, nicht zuletzt aus dem Buch Jesus Sirach. Mir ist der praktische Zug, der sich daraus ergibt, von Herzen sympathisch.

Man kann die Frage, die den Jakobusbrief bewegt, vielleicht so formulieren: Was braucht der Glaube, um sich als dauerhaft, belastbar und tatkräftig zu bewähren? Die Antwort heißt: Stehvermögen. Dieses Stichwort taucht in den gängigen Bibelausgaben nicht auf. Luther übersetzt  "Geduld", aber Geduld ist kein mitreißendes Wort, es schmeckt - wenn auch zu Unrecht - nach Passivität und Langeweile. "Stehvermögen" ist eine Anleihe bei der Sportsprache; man verwendet es für Boxer oder in der Leichtathletik für die 400-Meter-Läufer, deren größte Herausforderung es ist, das Tempo durchzuhalten und nicht, wie der Sportreporter sagen würde, "einzubrechen".  Statt von Stehvermögen könnte man auch von "Ausdauer" reden. Wenn sich der Glaube bewähren soll, darf er nicht ein bloßes Strohfeuer sein, eine enthusiastische Aufwallung religiöser Gefühle, die beim  geringsten Schlag - oder punch, um in der Sprache des Boxens zu bleiben - in sich zusammenfällt. Er muss schon etwas aushalten. Ist - in einem Zeitalter vagabundierender Religiosität und immer neuer Angebote auf dem Markt der Sinnangebote - die Frage nach Stehvermögen und Ausdauer des Glaubens nicht sehr modern? Sie könnte geradezu ein Anreiz sein, sich von der angeblich "strohernen Epistel" einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Es lohnt sich, den Jakobusbrief im ganzen zu lesen. Und er ist nicht lang!

II.

Von "Geburt" ist an zwei Stellen des Predigttextes die Rede. Nur scheinbar stehen sie unverbunden nebeneinander, in Wirklichkeit geht es um eine betonte Gegenüberstellung: todbringende Prozesse hier, lebenschaffende Prozesse. "Geburt" meint in diesem Zusammenhang nicht den natürlichen Geburtsvorgang, sondern wird als Bild verwendet. Im Falle von lebenschaffenden Prozessen leuchtet das ja auch spontan ein. Dabei geht es wie im Falle der Geburt um ein kreatives Geschehen. Aber wie kann man darauf kommen, das Bild der Geburt auch auf todbringende Prozesse zu beziehen? Offenbar deshalb, weil auch sie in Phasen ablaufen, die dem Verhältnis von Zeugung, Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt ähneln. Diese Entfaltung des Bildes liegt der Sache nach so nahe, dass sie immer noch unseren Sprachgebrauch bestimmt. Das prominenteste Beispiel stammt aus Schillers "Wallenstein" - gerade im letzten Jahr hier in Berlin eindrucksvoll in der Inszenierung von Peter Stein als Zehn-Stunden-Marathon dargeboten. Am Ende des 2. Teils ist es, dass Octavio Piccolomini, zu seinem Sohn Max gewendet, sagt: "Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, Böses muss gebären."

So laufen todbringende Prozesse ab. Macht euch nichts vor: Die böse Tat wird jeweils zum Zeugungsakt von neuem Bösen, und am Ende verschlingt das Böse Opfer wie Täter. Der Predigttext markiert die Begierde als das Einfallstor des Unheils: "Irrt euch nicht ... Wenn die Begierde empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod." Weil Menschen nicht genug bekommen können - die Veruntreuer und die Lustreisenden und die Zocker -, braut sich Unheil zusammen. Und irrt euch nicht: Was im Großen geschieht, geschieht auch im Kleinen, nur liest man nichts davon. Nicht umsonst enden die 10 Gebote mit dem doppelten "Du sollst nicht begehren". Die Begierde ist jederzeit fruchtbar und empfängnisbereit. Sobald der Samen sie befruchtet hat, wird aus Begierde Tat, und sobald die Sünde groß und kräftig geworden ist, gebiert sie den Tod.

Dort, wo im Predigttext von den lebenschaffenden Prozessen die Rede ist, fehlen auffälligerweise die unüberhörbaren Anklänge an Zeugung, Empfängnis und Schwangerschaft. Aber das ist kein Zufall. Es soll deutlich werden: Gottes Kinder zu sein wird denen gegeben, "die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind" (Johannes 1,12f). Oder anders ausgedrückt: "Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts".

III.

Das war die dritte Formulierung aus dem Predigttext, die ich davor bewahren wollte, übersehen und übergangen zu werden, wenn man erst einmal mit dem Thema "Versuchung" beginnt. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich erst jetzt zum allerersten Mal darauf aufmerksam geworden bin, woher Matthias Claudius den Refrain seines Erntedankliedes genommen hat - weshalb es in diesem Gottesdienst auch unbedingt gesungen werden musste. Und es geht. Man muss gar nicht warten, bis Erntedankfest ist. Im Zusammenhang des Predigttextes ist der Bezug auf die Gaben des Feldes und die Früchte des Gartens durchaus mitgemeint, aber er hat keinerlei besondere Betonung. Vielmehr geht es einzig darum, die Erkenntnis stark zu machen: Christen sind von Gott Beschenkte - nicht allein, was die reichen Gaben der Schöpfung und das tägliche Brot angeht, sondern genauso und noch mehr darin, dass wir das Evangelium von Jesus Christus als das "Wort der Wahrheit" empfangen haben. Es heißt so, weil es stimmt und ein verlässliches Lebensfundament liefert. Es heißt aber auch so, weil es uns verwandelt und unser Leben ausrichtet auf Gott und den Nächsten. Aus dem, was wir von Gott empfangen, können wir reichlich leben, und darum können und sollen wir aus dem Leben, das uns geschenkt ist, auch etwas machen.

IV.

Ja und nun das vierte und letzte Stichwort: Versuchung. Wo fange ich an, und wo höre ich auf? Nach so viel schwerem Stoff und tiefen Gedanken versuche ich erst einmal das zu schaffen, was man im Englischen comic relief, also die komische Entlastung, nennt. Ich fand sie - oder genauer: meine Frau fand sie - in dem Musical My Fair Lady. Alfred Doolittle und seine beiden Freunde sind in einem Pub, aber keiner hat Geld. Zufällig kommt Alfreds Tochter Eliza herein. Sie lässt sich erweichen und spendiert ihnen ein Bier. "Seht, Jungs:" - sagt Alfred zu seinen Freunden - "Ich hab's euch doch gesagt, dass wir noch nicht heimgehen sollten. Es ist alles Glaube, Hoffnung und ein klein bisschen Glück. Und dann singt er seinen berühmt gewordenen Song "Mit ein klein bisschen Glück", dessen zweite Strophe so geht, erst im Original und dann auf Deutsch:

The Lord above made liquor for temptation

to see if man could turn away from sin.

The Lord above made liquor for temptation - but

with a little bit of luck,

with a little bit of luck,

when temptation comes you'll give right in.

"Der Herr da droben schuf den Branntwein zur Versuchung,

zu seh'n, ob der Mensch sich abwenden könnte von der Sünde.

Der Herr da droben schuf den Branntwein zur Versuchung - aber
mit ein klein bisschen Glück,

mit ein klein bisschen Glück

wirst du, wenn die Versuchung herantritt, einfach nachgeben."

Ja, das ist nicht schlecht getroffen! Eine Versuchung lockt mit etwas, von dem wir wissen, dass es moralisch verboten ist oder uns nicht gut tut. Und doch - wenn es ernst wird, erweist sich: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Wenn wir ehrlich sind, müssen viele von uns sogar einräumen: Tief innen steckt der geheime Wunsch, diesmal, noch dies eine Mal der Versuchung nachzugeben. Man hat das die verführerische Seite der Versuchung genannt: Verführung zum Ungehorsam gegen Gottes Gebot, Verführung zur Versündigung an der eigenen Gesundheit. Um so mehr strengen sich andere an, den Kampf gegen die Versuchung erfolgreich zu bestehen. Sie sehen in der Versuchung eine Prüfung, ein Auf-die-Probe-Gestelltwerden, eine Gelegenheit zur Bewährung. Die Popularität der Aktion "Sieben Wochen ohne" speist sich auch daraus, dass nicht wenige Menschen anderen und vor allem sich selbst zeigen wollen: Ich pack's. Das lässt sich geradezu mit sportlichem Ehrgeiz betreiben. Man hat das die erprobende oder ertüchtigende Seite der Versuchung genannt. Einer Versuchung Widerstand entgegenzusetzen ist "eine Freiheitsübung. Wer sagen kann: Ich brauche das oder jenes nicht, erhöht seine Lebensqualität und schafft Raum für Gott" (Erzbischof Reinhard Marx).

Um so mehr stellt sich nun aber die Frage, was Gott und Versuchung miteinander zu tun haben. Wenn die Versuchung ein Auf-die-Probe-Gestelltwerden bedeuten kann - wer ist es denn, der auf die Probe stellt? Andere Menschen? Oder der Teufel? Oder gar Gott selbst? Der Predigttext weiß es ganz genau: "Gott kann nicht versucht werden zum Bösen, und er selbst versucht niemand. Sondern ein jeder, der versucht wird, wird von seinen eigenen Begierden gereizt und verlockt." Andere biblische Texte sehen das völlig anders. Die sechste Bitte des Vaterunsers heißt "Und führe uns nicht in Versuchung", sie heißt nicht "Und bewahre uns vor Versuchung". Die Geschichte von Isaaks Opferung (1. Mose 22,1-14) beginnt mit der Feststellung: "Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham", und das Buch der Weisheit (3,5f) hat eine geradezu erzieherische Auffassung vom Umgang Gottes mit dem Instrument der Versuchung; "Gott versucht die Gerechten ... Er prüft sie wie Gold im Schmelzofen". Woran sollen wir uns halten, wie uns orientieren? Es ist ja nicht so, dass die eine Sicht eindeutig von Gott stammt, die andere jedoch von Menschen ersonnen worden ist. Beide stehen in der Bibel, beide sind Deutung menschlicher Erfahrung im Lichte dessen, was Menschen von Gott wissen oder zu wissen glauben.

Und was sagt der Katechismus? Luther mit seinem Kleinen Katechismus und der Heidelberger Katechismus stehen sich in der Erklärung der sechsten Bitte des Vaterunsers sehr nahe. Über den Unterschied zwischen "führe uns nicht in Versuchung" und "bewahre uns vor Versuchung" kein Wort. Stattdessen wird bei Luther der heutige Predigttext zitiert und dann alles darauf abgestellt, dass Gott uns in der Versuchung beisteht:

"Gott versucht zwar niemand,

aber wir bitten in dieser Bitte,

dass uns Gott behüte und erhalte,

damit uns der Teufel, die Welt und unser Fleisch

nicht betrüge und verführe

in Missglauben, Verzweiflung und andere große Schande und Laster,

und wenn wir damit angefochten würden,

dass wir doch endlich gewinnen und den Sieg behalten."

Es ist tröstlich, darauf vertrauen zu können, dass Gott uns der Versuchung nicht überlässt, sondern uns beisteht in dem Kampf gegen den Teufel und die eigene Begierde. Aber ich kann mir nicht helfen: Das kann nicht alles sein, das greift zu kurz. Es gibt eine Tiefe der Versuchung und Anfechtung, da kann ich es eher ertragen, Gott selbst darin am Werke zu sehen als den Teufel. Denn ich bin lieber in Gottes Hand als in der des Teufels. Wenn das noch einer Begründung bedarf - Paulus hat sie längst gegeben: "Gott ist treu, der euch nicht versuchen lässt über eure Kraft, dass die Versuchung so ein Ende nimmt, dass ihr's ertragen könnt" (1. Korinther 10,13).

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Weiter, liebe Schwestern und Brüder: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es ein Lob - darauf seid bedacht.

Amen.