I.
Welche Landeskirche hat das schon – einen bedeutenden Reformator, der ihren Namen selbst im Namen trägt? Nicht in dem Sinne, dass sie sich als lutherische Kirche auf Martin Luther bezöge. Luther hat solch einen Namensbezug auch nie gewollt. Sondern in dem Sinne, dass der Reformator selbst mit seinem Namen auf seine Heimatkirche Bezug nimmt? Sie wissen es: Ihre Pommersche Evangelische Kirche hat diese Besonderheit; und es ist der große Johannes Bugenhagen, der als „Pomeranus“ seine Verwurzelung in dieser Region deutlich gemacht hat. Er gehörte zu den bedeutendsten Männern der lutherischen Reformation, die ohne ihn nicht ihre weite Verbreitung gefunden hätte. Deshalb ist es angemessen, wenn wir in diesem Jahr in vielfältigen Formen an Johannes Bugenhagen erinnern.
Am heutigen Tag führt uns dieses Gedenken zunächst weg aus Stralsund, weg aus Pommern, nämlich nach Hamburg. Aber damit bleiben wir immer noch innerhalb des Gebiets einer Nordkirche, wie sie derzeit diskutiert wird. Ich sehe das übrigens mit gespannter Aufmerksamkeit, mit erheblicher Sympathie und mit allen guten Wünschen. Der Schritt zu einer Nordkirche ließe sich leicht auf Bugenhagens Impuls zurückführen. Er kam aus Pommern, war aber nicht an diese Region gebunden oder gar in seiner Wirksamkeit auf sie beschränkt. Es ist deshalb richtig, wenn die evangelische Kirche auch weit über Pommern hinaus seiner in seinem 450. Todesjahr gedenkt.
Den Blick müssen wir nach Hamburg richten, wenn wir eine der bedeutendsten Schriften Bugenhagens recht würdigen wollen. Wir wollen diese Schrift in den Blick nehmen, weil sie Bugenhagens zugleich reformatorisches und kirchenreformerisches Konzept zusammenfassend darlegt. Dieses umfangreiche Werk aus dem Jahr 1526 trägt den Titel „Von dem christlichen Glauben und den rechten guten Werken wider den falschen Glauben und erdichtete gute Werke, dazu, wie man’s soll anrichten mit guten Predigern, daß solch Glaube und Werke gepredigt werden“.
Diese Schrift war notwendig geworden, weil die Lehre Martin Luthers in Hamburg zwar bereits 1525 so weit Fuß gefasst hatte, dass es ernsthafte Bemühungen gab, den Wittenberger Stadtpfarrer Bugenhagen für ein halbes Jahr nach Hamburg zu holen. Aber die Berufung Bugenhagens scheiterte lange Zeit am Widerstand der altgläubigen Kleriker; und dies obwohl die Anhänger der neuen Lehre schnell die Mehrheit der Bürger stellten. Bugenhagen sah sich daraufhin veranlasst, der „ehrenreichen Stadt Hamburg“ im Frühjahr 1526 einen Sendbrief zu schreiben.
Mit ihm – so weit möchte ich der Darstellung dieser kirchenreformerischen Programmschrift vorgreifen – hatte Bugenhagen Erfolg. Zweieinhalb Jahre später wurde er für acht Monate als Pfarrer nach Hamburg berufen, wo die von ihm auf dieser Grundlage ausgearbeitete Kirchenordnung am 23. Mai 1529 feierlich angenommen wurde. Bugenhagens weiter Denkhorizont wie seine weitgespannte Wirksamkeit wurden auch daran deutlich, dass das in dieser Schrift entfaltete Programm einer Kirchenreform auch seinen späteren Kirchenordnungen für Braunschweig, Braunschweig-Wolfenbüttel, Dänemark, Hildesheim, Holstein, Lübeck, Norwegen, Pommern und Schleswig zugrunde lag. Auf welche Strukturgedanken man angesichts einer solchen Liste verfallen könnte, will ich an dieser Stelle besser auf sich beruhen lassen.
II.
Wer sich den Sendbrief Bugenhagens und seine Vorschläge zur Kirchenreform näher ansieht, dem fällt Folgendes auf:
Vorangestellt ist den konkreten Vorschlägen zur Kirchenreform eine umfangreiche Darlegung theologischer Grundsatzfragen. Bugenhagen hatte sich nämlich in den Jahren zuvor ausführlich mit der biblischen Rechtfertigungslehre auseinandergesetzt. Für ihn stand außer Frage, dass die Vorschläge zu einer Kirchenreform aus der reformatorischen Rechtfertigungslehre entwickelt werden müssten. Denn eine falsche Lehre vom Glauben und den guten Werken schade nicht nur der Kirche, sondern auch dem christlichen Leben. So kann er beispielsweise sagen: „Wenn aber Lehre kommt, die Menschen, als Bischof, Pfaffen und Mönche erdacht haben ohne oder wider Gottes Wort und geben vor, daß sie die Schafe damit weiden wollen zu dem ewigen Leben, so laufen die Schafe vor ihnen als vor Wölfen, denn es ist kein Rath, daß sie Gift essen sollen für gut Futter“. Über drei Viertel der gesamten Schrift sind deshalb dieser Frage gewidmet.
Erst in einem zweiten Schritt beschäftigt sich Bugenhagen mit der Frage, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden müssten, damit die rechte Verkündigung der wahren Lehre gewährleistet sei.
Seine Ratschläge entfaltet Bugenhagen indes nicht als ungebetener Ratgeber, sondern als „erwählter Pastor und Prediger“ - Bugenhagen fühlte sich offenbar als erwählter Pfarrer der Hamburger Gemeinde, dessen Berufung lediglich durch die ungünstigen Mehrheitsverhältnisse in Hamburg nicht zustande kam. Er zeigt sich mit den Verhältnissen vor Ort vertraut und vermag den Reformbedarf sachgemäß einzuschätzen. Diesen sah Bugenhagen vor allem in drei Bereichen: dem Gottesdienst, der Diakonie und dem Unterricht, bzw. konkret gesprochen: in den Fragen der Predigeranstellung und -besoldung, der Regelung der Armenfürsorge und der Verbesserung des Schulwesens.
Die Vorschläge, die Bugenhagen zu diesen drei Punkten macht, zeichnen sich durch eine gewisse Leuchtkraft aus, die auch fast ein halbes Jahrtausend später durchaus noch erhellend ist. Doch davon später; zunächst gilt es, die einzelnen Vorschläge zu sichten.
III.
1) Bugenhagen identifiziert klar als zentralen Ort einer Kirchenreform den Gottesdienst. Diesen gilt es, konsequent als angemessenen Ausdruck der Rechtfertigungslehre zu gestalten: „Erkenntniß der Sünden und der Gnade Gottes ist alle unsere Lehre und Predigt“ schrieb Bugenhagen.
Zugleich ist sich Bugenhagen aber auch darüber im Klaren, dass eine Reform des Gottesdienstes nur durch „gute Prediger“ vorangebracht werden könne: „Zu solcher Lehre aber bedarf man gute Prediger, denen Gott sein Wort ins Herz gegeben hat und sonderlich Gaben, daß sie es mündlich und verständlich dem Volk vortragen können, nach rechtem Maße und zu rechter Zeit, zu Nutze und nicht zu Verderbniß, [Prediger,] denen die Sache Gottes zu Herzen gehet, daß sie nicht Ehre und Vorteil suchen, sondern Gottes Ehre und der Menschen Seligkeit.“ Bugenhagen warnt in diesem Zusammenhang vor populistischen, radikalen und ungeduldigen Predigern, zu denen er die Bilderstürmer und die Prediger der Bauernkriege zählt. Nicht die Kritik sei in den Mittelpunkt zu stellen, sondern es gelte, bei der Freiheit des Glaubens anzusetzen. Zudem plädiert Bugenhagen für behutsame Reformen, die niemanden abschrecken und im Einverständnis mit der Obrigkeit stehen. Was hingegen nicht sofort erreicht werden könne, solle man getrost der Gnade Gottes anbefehlen.
Johannes Bugenhagen versteht diese theologische Grundlegung freilich nicht als Grund dafür, seinen Reformdrang zu unterdrücken: „Bisher möchte Gott um unsrer Unwissenheit willen Geduld haben gehabt, nun aber die Wahrheit an den Tag ist gekommen, womit wollen wir uns entschuldigen?“
Als enger Mitarbeiter Luthers in Wittenberg wusste Bugenhagen natürlich, wie schwer es war, zu diesem Anforderungsprofil geeignete Pfarrpersonen zu finden. So ist von ihm der Seufzer überliefert, „daß nicht so viel guter Prediger sind, als man wohl meinet, und als sich Viele dafür halten.“ Er rät deshalb dazu, zunächst Gott um gute Prediger zu bitten. Denn selbst wenn genügend Finanzmittel zur Verfügung stünden und die Nachbarkirchen Personalüberhänge hätten, wäre dies ein allzu „grober und tölpischer“ Ansatz, auf den man nicht vertrauen könne. Auch solle man „nicht so lange warten, bis etliche aus der Luft herniederregnen“. Vielmehr solle man nach biblischem Vorbild aus der Gemeinde die gelehrtesten, frömmsten und geschicktesten Personen auswählen und sie zu Predigern und Diakonen machen. Die Wahl der Prediger solle nach dem jeweiligen Recht vor Ort erfolgen, d. h. durch den Fürsten, den Rat, die Patrone oder durch die Kirchenvorsteher. Des Weiteren weist Bugenhagen darauf hin, dass die Gemeinden ihre Pfarrer gut behandeln sollten, so dass sie auch auf längere Sicht blieben. Bugenhagen hatte hierbei insbesondere die dürftige Besoldung einzelner evangelischer Pfarrer im Blick. Er weist darauf hin, dass sich mit der Reformation die Verhältnisse grundlegend geändert hätten: Zum einen sei jetzt nicht mehr nur ein einzelner Priester zu versorgen, sondern ein Pfarrer mit seiner ganzen Familie. Zum anderen aber seien zusätzliche Einnahmen der Pfarrer zumeist weggefallen.
2) Ganz ähnlich wie in Bezug auf den Gottesdienst argumentiert Bugenhagen auch im Blick auf den diakonischen Bereich. Vielerorts waren kirchliche Güter und Stiftungen, die bisher der Kranken- und Armenfürsorge gedient hatten, durch die Obrigkeit säkularisiert und zweckentfremdet worden. Bugenhagen legt dagegen Einspruch ein und plädiert dafür, die Einnahmen für einen „Gemeinen Kasten“ zu verwenden. Dieser solle von einem Diakon verwaltet werden und den „verlassenen Witwen, Waisen, Armen, Kranken, nothdürftigen Hausarmen, armen Mägden und dergleichen“ zugute kommen. Bugenhagen war sich nämlich darüber im Klaren, dass ohne eine verbindliche Sicherung der dafür notwendigen finanziellen Mittel die vorgesehenen Regelungen nicht zu realisieren wären. Zudem fordert Bugenhagen, dass sich die Diakone nicht darauf beschränken sollten, den Kranken das Abendmahl zu reichen, sondern ihnen auch regelmäßig als Seelsorger zur Seite zu stehen hätten. Hilfreich, so Bugenhagen, sei es auch, wenn die Diakone darüber hinaus so gebildet wären, dass sie den Pfarrer in seiner Verpflichtung, täglich zu predigen, im Notfall entlasten könnten. Denn, so bemerkt er, „man muß betrachten, daß ein Mann sich verderbet, wenn er in einer großen Kirche für viel Volks alle Tage schreien soll“.
3) Schließlich richtet Bugenhagen sein Augenmerk auf das Schulwesen. Neben der Finanzierung der Lehrer und Schulhelfer galt es insbesondere, Regularien dafür zu entwickeln, dass auch Kinder aus armen Familien eine angemessene Schuldbildung erführen und nicht auf der Straße betteln müssten.
Des Weiteren macht Bugenhagen Vorschläge zum Lehrplan an den Schulen und zur Verbesserung der Qualität der Lehre. Zu dem Fächerkanon einer Schule sollen gehören: „Grammatica, Logica, Rhetorica, item Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, Poeten, Oratores, Historien“, außerdem Gesang. Dabei steht ihm als Ziel vor Augen, dass „man also vernünftige, geschickte, erfahrene, gehorsame, nütze, bescheidene, gelehrte, fromme, christliche Bürger möchte aufziehen, die man nützlich brauchen möchte, wozu eine Stadt wollte“. Ein hervorgehobener Akzent des Unterrichts soll im Bereich des Katechumenats liegen, also die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, die neutestamentlichen Briefe und Evangelien sowie die Psalmen betreffen. Bugenhagen macht keinen Hehl daraus, dass er sich aus dem Programm einer christlichen Schule und aus der allgemeinen Hebung des Bildungsniveaus auch dem offensichtlichen Pfarrermangel langfristig abhelfen wollte.
Die Zeit war reif für ein solches Bildungsprogramm. Die Zeit war reif für die Reformation. Bugenhagens Impulsschrift fand breite Aufnahme, viele seiner Vorschläge wurden schon bald von ihm oder anderen in die Tat umgesetzt.
IV.
Mancher der Vorschläge Bugenhagens liest sich, als sei er für heute bereit gestellt. Der Gottesdienst als zentraler Ausgangspunkt aller Reformbemühungen; die Diakonie als elementares Feld kirchlicher Arbeit; die grundlegende Bedeutung kirchlicher Bildungsarbeit.
Bevor ich aber auf die Bedeutung dieser thematischen Schwerpunktsetzung durch Bugenhagen für uns abschließend zurückkomme, will ich zunächst danach fragen, was ein Reformprojekt bedeutet, das sich im Horizont der Rechtfertigungslehre versteht, das sich konsequent in den reformatorischen Kerngedanken einzeichnet, wie ihn Martin Luther 1530 an Spalatin zusammenfasste: „Wir sollen Menschen und nicht Gott sein. Das ist die Summa!“ Die Rechtfertigungslehre ist radikal, sie führt zu den Wurzeln. Sie bringt nicht nur das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen zur Klarheit, sondern auch die menschlichen Verhältnisse selbst. Das heißt nun zweierlei:
1) Die Botschaft von der Rechtfertigung des Gottlosen durch Gottes Gnade ist der entscheidende Impuls für eine grundsätzliche Reformfähigkeit der Kirche. Die Kirche ist nicht göttlich, göttlich ist Gott allein. Die kirchlichen Ordnungen sind nicht göttlich; Gottes ist die Botschaft von der Rechtfertigung des Gottlosen allein aus Gnade. Die Rechtfertigungslehre entlässt jedes menschliche Werk zunächst in den Raum der verantworteten menschlichen Freiheit. Keine Reformbemühung gilt als ein Werk, das dem Glauben zugute gerechnet werden könnte. Es gibt grundsätzlich keine Form, keine Struktur, keinen kirchlichen Bau, dem Gott im Blick auf die Botschaft von seiner Gnade einen Vorzug geben würde. Dass Gottes Gnade voraussetzungslos gilt, stimmt vielmehr auch im Blick auf kirchliche Strukturen. Reformer, Ideengeber und Konstrukteure, Kirchenleitungen, Projektbüros und scharfsinnige Juristen setzen im Horizont der Rechtfertigungslehre alle gleich Noah ihren Fuß auf einen noch feuchten und nicht in sich selbst tragfähigen Boden. Vor ihnen erstreckt sich ein schier grenzenloses Land. Werden nicht die Werke dem Glauben zugerechnet, öffnet sich das Spektrum der Möglichkeiten wie über Abraham der Sternenhimmel. Die Rechtfertigung des Gottlosen, die heilsame Entlassung des Menschen in seinen Verantwortungsbereich, ist eine Botschaft der Freiheit.
Auf dem Boden dieser radikalen Einsicht könnte sich rasch die Meinung ausbreiten, dass es angesichts einer solchen Freiheit gleichgültig sei, in welcher Art und Weise ein Reformprojekt Gestalt nimmt. Und mitunter kann der Eindruck entstehen, diesem Verständnis der Rechtfertigungslehre würde im Protestantismus manches abgewonnen. Und die einen sagen dann: Egal wie – Hauptsache anders. Während die anderen erwidern: Egal wie – Hauptsache es bleibt, wie es war. Doch Noah und seine Familie werden nicht in Gleichgültigkeit und Beliebigkeit entlassen; vielmehr werden sie von Gott beauftragt: „Und Gott segnete Noah und seine Söhne und sprach: ‚Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde’“ (Gen. 9,1). Deshalb sollte einigen nahe liegenden Missverständnissen der Freiheit von vornherein vorgebeugt werden.
Die Botschaft von der Freiheit des Gottlosen führt nicht in Beliebigkeit. Gottes Anspruch wie Ansprache an Noah, seine Verheißung an Abraham, die ihm keinen Weg beschreibt, wohl aber eine Zielperspektive öffnet, die „Wegweisung der Freiheit“ (Lochman), die Gottes Volk durch Mose in Form des Dekalogs erhält, die Predigt Jesu an seine Jünger – in all dem bildet sich ab, dass das Geschenk der Freiheit den Gläubigen nicht anspruchslos übereignet wird: Nicht Beliebigkeit sondern Bezogenheit, nicht Gleichgültigkeit sondern Interesse, nicht Anspruchslosigkeit sondern Zuspruch prägen das Verhältnis zwischen Gott und dem in die Freiheit von der Sünde entlassenen Gerechtfertigten.
Diese Freiheit ist deshalb auch keine Verlassenheit. Der Selbstgerechte und Selbstgenügsame, der „homo incurvatus in se ipsum“, wie Martin Luther dies ausdrückt, der in einer Gefahrsituation wie Petrus beim Gang über die Wellen gewahr wird, dass seine Kraft und Fähigkeit ihn unmöglich wird über Wasser halten können, der wird die Freiheit als Gottvergessenheit erleben. Søren Kierkegaard hat das Gefühl der Freiheit mit dem Blick von einem hohen Gipfel hinab verglichen. Es entsteht ein Gefühl des Schwindels; der Boden schwankt unter den Füßen. Dieser „Schwindel der Freiheit“ steigt auf, „wenn der Geist die Synthesis setzen will, und die Freiheit nun niederschaut in ihre eigne Möglichkeit, und sodann die Endlichkeit packt sich daran zu halten.“ (Der Begriff Angst, GW2 9, 60f) Die Freiheit des gerechtfertigten Gottlosen bedarf der beständigen Vergewisserung in Gottes Gnade.
Es wäre deshalb schließlich auch ein Missverständnis, die Unterscheidung von Mensch und Gott dahingehend auflösen zu wollen, als sei der Mensch von Gott gänzlich frei geworden und bräuchte ihn nicht mehr. Das Gegenteil trifft zu: Die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch macht bewusst, dass ein Mensch zu sich selbst in ein Verhältnis treten kann, weil ihm dies durch Gott möglich wird. Die Rechtfertigung des Gottlosen ermöglicht die Erkenntnis seiner selbst einschließlich seiner Werke.
Die Freiheit der Kinder Gottes ist ein Gottesgeschenk, sie ist der Ruf in die Verantwortung vor den Menschen und in die Verantwortung vor Gott selbst. Diese Freiheit wird durch das Evangelium, durch die Botschaft von der Rechtsfertigung des Sünders, selbst geleitet. So wie sie dort ihren Ursprung findet, so auch ihren Maßstab und ihr Ziel. Wer sich einer Freiheit verdankt, die geschenkt und unverfügbar ist, weiß sich für die Gestaltung von Räumen verantwortlich, in denen diese Freiheit zur Erfahrung und zur Entfaltung kommt. Deshalb interessiert sich der christliche Glaube für die Bedingungen, Voraussetzungen und Folgen der Freiheit im eigenen Handeln ebenso wie für die Bedingtheiten und Bestimmtheiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Er setzt sich leidenschaftlich in all seinen Verantwortungsbereichen für Lebensverhältnisse ein, in denen diese Freiheit erfahrbar wird.
Wer ein Reformprojekt im Horizont der Rechtsfertigungslehre betrachtet, zeichnet es durch Jesus Christus ein in die Freiheitsgeschichte Gottes mit seinem Volk. Die Neuordnung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch führt dazu, die Verkündigung der Freiheit der Kinder Gottes als Orientierungspunkt und entscheidendes Kriterium kirchlicher Reformbemühungen zu entdecken.
2) Wenn man die Grenzlinien und die Verbindungen zwischen Gott und Mensch im Licht der Rechtsfertigungsbotschaft nachzeichnet, ergibt sich daraus zum andern eine genaue Unterscheidung zwischen dem, was Gottes Werk, und dem, was Menschenwerk ist, zwischen Gottes Wort und Menschenwort. Das, was in der Reichweite unseres Handelns liegt, muss klar von dem unterschieden werden, was wir nur von Gott und seinem Geist erhoffen können. Diese Unterscheidung ist ebenso wichtig wie die Unterscheidung zwischen dem, was wir ändern, und dem, was wir durch unser eigenes Handeln nicht beeinflussen können. Gott selbst weckt Glauben; er baut sich seine Kirche. In diesem Sinne ist es möglich, eine sorglose Kirche zu sein; sie macht sich nicht Sorgen um sich selbst. Denn eine Kirche, die sich in Gottes Wort gegründet und von der Barmherzigkeit Gottes gehalten weiß, muss sich nicht um ihre Existenz und ihre Zukunft sorgen. Für uns gilt heute ebenso wie für alle anderen Generationen vor uns und nach uns die Feststellung Martin Luthers: „Wir sind es doch nicht, die da die Kirche erhalten könnten, unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen, unsere Nachkommen werden’s auch nicht sein, sondern der ist’s gewesen, ist’s noch und wird’s sein, der da spricht: ‚Siehe, ich bin bei euch bis an der Welt Ende.’“
Gewiss – die Zukunft kommt im Ablauf der Zeiten. Diese Zukunft erwarten wir, so gut wir das auf der Grundlage bisheriger Erfahrungen können, und stellen uns planend auf sie ein. Doch für den Glauben ist die Zukunft mehr als das, was wir voraussagen können; sie ist der Raum des Unerwartbaren und Überraschenden. Gewiss kann sie auch an Schrecken mehr in sich bergen, als wir zu antizipieren vermögen. Aber ihre Überraschungen können auch in ihrer Güte über das hinausgehen, was wir für möglich hielten, und uns alle miteinander des Kleinglaubens überführen. Wer nur auf den möglichen Schrecken schaut, begegnet dieser Zukunft mit Furcht. Der christliche Glaube begegnet ihr mit der Hoffnung, dass „das Morgen sich zu unseren Gunsten ereignet“ (W. Krötke). Diese Gewissheit trägt uns; und sie kann uns gerade dabei helfen, das zu ändern, was der Weitergabe des Evangeliums hindernd im Wege steht, und das zu fördern, was den Zugang zu ihm erleichtert.
V.
In welchem Sinn sind nun die von Johannes Bugenhagen gesetzten Themen Gottesdienst, Schulwesen und Diakonie auch heute die richtigen Schwerpunkte? Wer versucht, sich einer Antwort auf diese Frage zu nähern, kann im Sinne Bugenhagens nur sagen: Es gilt der Ausgangspunkt, Gottes Wort zu kennen. Die Rechtfertigungsbotschaft verkäme zu einer bloßen Worthülse, wenn sie nicht immer wieder im Lesen und Hören der Heiligen Schrift erkannt und im eigenen Herzen erneuert würde. Aus ihr heraus ist alles Reformhandeln zu entwickeln. Betrachtet man nun die Bugenhagenschen Schwerpunkte, fühlt man sich als unmittelbar Beteiligter zunächst an die drei von Kirchenkonferenz und Rat identifizierten Schwerpunkten des Reformprozesses der EKD erinnert: Die Qualität insbesondere im Bereich des Gottesdienstes und der Kasualien entwickeln; die missionarische Kompetenz fördern; Leitung und Führung auf allen Bereichen kirchlichen Handelns stärken. Freilich sollte nicht der Eindruck entstehen, dass lediglich diese Themen dem Reformanliegen des Protestantismus in Deutschland dienlich sind. Es handelt sich um jene Themen, die sinnvollerweise derzeit eine hohe Priorität für eine Bearbeitung in gliedkirchenübergreifender Weise beanspruchen können. Der Reformprozess insgesamt ist vielfältiger; denn er verdient seinen Namen überhaupt nur dann, wenn er von den Gliedkirchen der EKD je mit ihren Mitteln und ihren eigenen Schwerpunkten getragen und verwirklicht wird. Es geht um eine gemeinsame Bewegung, nicht um einen zentral gesteuerten Prozess.
1) Das erste Reform-Stichwort Johannes Bugenhagens lautet Reform des Gottesdienstes. Bugenhagen begründet dies mit der Beobachtung, „daß nicht so viel guter Prediger sind, als man wohl meinet, und als sich Viele dafür halten“. Wir würden dieses Urteil gewiss so nicht wiederholen; denn wir haben viel Grund dafür, den starken Einsatz für das gottesdienstliche Leben in unserer Kirche zu würdigen und dafür dankbar zu sein. Doch ein wirkliches Bild von dessen Qualität haben wir nicht; ja manchmal wissen wir auch selbst als unmittelbar Beteiligte nicht, was uns in diesem zentralen Handlungsfeld gelingt oder misslingt. Es ist deshalb eine Folge dieser dankbaren Würdigung, wenn wir uns intensiver der Frage nach der Qualität kirchlicher Arbeit in diesem Feld stellen. Denn nur so kann Handlungssicherheit entwickelt und erreicht werden. Deshalb ist es kein Wunder, dass der besondere Reformbedarf hinsichtlich der Wahrnehmung, Sicherung und Steigerung der Qualität kirchlicher Arbeit bei der Erörterung heute anstehender Reformthemen besonders deutlich hervorgehoben wurde. Der Gottesdienst als Kernvollzug des kirchlichen Verkündigungsauftrags sowie die Kasualien als herausragende Gelegenheiten zur Verkündigung des Evangeliums vor einer anlassbezogen versammelten Gemeinde sind dabei von besonderer Bedeutung. Inwiefern können ein Gottesdienst und in ihm insbesondere eine Predigt das Evangelium der Freiheit so zur Sprache bringen, dass es im eigenen Leben und Erleben nachvollzogen werden kann? In welcher Weise sind die sprachliche Gestalt von Predigten und Gebeten, die poetische und musikalische Gestalt von Liedern, liturgischen Stücken und Kantaten oder die künstlerische Gestalt des Kirchenraumes, Plastiken oder Bilder dieser Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen zugeordnet? Hier stehen wir vor der großen Aufgabe, zusammen mit einer theologischen Klärung dessen, was wir vom Gottesdienst erwarten, auch Kriterien zu entwickeln, die wir dem Gespräch über dessen Qualität zu Grunde legen, und Wege zu erkunden, um diese Qualität zu steigern.
Vor wenigen Tagen ist dazu im Kirchenamt der EKD ein erster Workshop veranstaltet worden. Er hat im Ergebnis drei wichtige Themen hervorgehoben.
Ein erstes Thema ist die Entwicklung einer Feed-Back-Kultur. Wir müssen die Hülle des Schweigens durchbrechen, von der die Frage nach der Qualität unserer Gottesdienste umgeben ist. Damit ist eng die Frage der Vergleichbarkeit von Gottesdiensten verbunden; man hat das damit aufgeworfene Problem als Frage nach einer „Theologie des Messens“ bezeichnet. Wenn als Kriterium für einen guten Gottesdienst genannt wird, Menschen sollten das Gefühl haben, ihre Zeit „gut verbraucht“ zu haben – woran misst man das? Wenn als Kriterien genannt werden: Gottesbegegnung, Lebensorientierung, Gemeinschaftserfahrung – woran will man das messen? Aber wenn hier offenkundig viele unbeantwortete – und vielleicht sogar unbeantwortbare – Fragen bleiben, so sicher ist doch, dass das Ignorieren der Qualitätsfrage und der Schleier des Schweigens über diese Frage unserem kirchlichen Auftrag nicht gut tun.
Genannt wurde in dem erwähnten Workshop ferner die Stärkung grundständiger Professionalität. Hier gilt es um Überlegungen dazu, wie das lebenslange Lernen, gleichsam eine „dritte Ausbildungsphase“, weiter zu fördern ist. Hier geht es um die Ermutigung zu zielgerichteter Fortbildung.
Schließlich aber – und das will ich mit meinen eigenen Worten formulieren – brauchen wir einen Ausbruch aus dem Gefühl permanenter Überforderung. Fortschritte in der Qualitätsentwicklung sind nur zu erwarten, wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Verkündigungsdienst in dem anerkannt und gewürdigt werden, was sie tun. Darüber hinaus brauchen sie Ermutigung dazu, sich geistige Freiräume zu bewahren oder zu erobern, um sich mit ihrer theologischen Existenz und ihrem theologischen Auftrag ringen und sich Neuland erschließen zu können. Bei Jürgen Moltmann las ich dieser Tage, er habe stets als seine theologische Tugend die „Neugier“ angesehen; theologische Fragen seien für ihn – gerade weil er nicht in einer theologisch geprägten Familie aufgewachsen sei – immer wieder neu und aufregend gewesen. Moltmann bedauert in diesem Zusammenhang, dass „Neugier“ unter den theologischen Tugenden gar nicht vorgesehen ist. Ich mache mir sein Plädoyer für die theologische Neugier sehr gern zu eigen.
2) Der Arbeitsbereich der Diakonie hat, verglichen mit der Zeit Bugenhagens, inzwischen eine weitaus breitere Bedeutung angenommen, als man dies in den Anfangsjahren der reformatorischen Kirchen auch nur von ferne ahnen konnten. Insofern fügt es sich auch gut, dass wir in diesem Jahr neben Johannes Bugenhagen Johann Hinrich Wichern als zweite protestantische Jubiläumgsgestalt feiern. Dem 450. Todestag Bugenhagens tritt Wicherns 200. Geburtstag zur Seite.
Nicht nur über Bugenhagens, sondern auch über Wicherns Vorstellungen hat sich die verfasste Diakonie inzwischen weit hinausentwickelt. Aber man muss sich fragen, ob dabei die enge Zusammengehörigkeit von Glaube und Liebe, von der Wichern sprach, und damit auch von Gemeinde und Diakonie immer aufrecht erhalten wurde. Daran aber müssen wir im Prozess einer Reform unserer Kirche leidenschaftlich interessiert sein. Deshalb hat das Impulspapier des Rates der EKD „Kirche der Freiheit“ der Diakonie eine eigene Überlegung gewidmet. Dies geschah aus der Einsicht heraus, dass der christliche Glaube auch darin der ihm geschenkten Freiheit die Treue hält, dass er aufmerksam ist für die Bedingungen, unter denen diese Freiheit erfahren werden kann, und wachsam ist gegenüber Umständen, die dieser Freiheit den Entfaltungsraum verweigern. Das aber kann keineswegs nur für die jeweils eigene Freiheit gelten, sondern meint gerade auch die Freiheit des andern. Evangelischsein im 21. Jahrhundert zeigt ein neues Gespür dafür, dass das Evangelium in Wort und Tat, in Verkündigung und Diakonie bezeugt wird. Die evangelische Kirche sieht in der Solidarität mit dem hilfsbedürftigen Nächsten eine zentrale Lebensäußerung der Kirche. Sie macht sich die Klage über Unfrieden und Ungerechtigkeit zu Eigen und sucht nach Wegen dazu, wie die vorrangige Option für die Armen und die vorrangige Option für gewaltfreies Handeln Gestalt gewinnen können. An solchen Themen wird uns derzeit bewusst, dass, um Dietrich Bonhoeffer zu zitieren, das Beten und das Tun des Gerechten unter den Menschen zusammengehören. Bei aller organisatorischen Freiheit der Diakonie und bei aller Entscheidungsfreiheit der einzelnen Träger sollten wir die innere Zusammengehörigkeit von Gemeinde und Diakonie neu zum Leuchten bringen. Immer mehr Projekte werden derzeit auf allen Ebenen entwickelt, die als „Tandem“ zwischen Kirche und Diakonie konzipiert sind.
Auch die Frage nach Führen und Leiten in der Kirche lässt sich hier einordnen. Die Führungsakademie für Kirche und Diakonie in Berlin ist ein konkretes Vorhaben, in dem wir die Fragen von verantwortlicher Leitung und Personalführung für Kirche und Diakonie zusammen bearbeiten wollen. Dem wollen wir auch in den Reforminitiativen, die auf der Ebene der EKD ergriffen werden, genauer nachgehen.
3) Explizit hatte Johannes Bugenhagen eine Verknüpfung zwischen der Reform der katechetischen Arbeit in der Schule mit der Erwartung hergestellt, dass auf diese Weise mittelfristig der in den Anfangsjahren der Reformation flächenweise enorme Pfarrermangel behoben würde. Wir sollten nicht verzagt hinter der Kühnheit dieses Gedankenganges zurückbleiben. In einer neuen – keineswegs nur auf den Stand der Pfarrerinnen und Pfarrer bezogenen – Weise anerkennen wir, dass unser Bemühen um ein evangelisches Schulwesen eine missionarische Dimension hat. Wir spüren auch immer deutlicher, dass in unseren Schulen evangelische Christinnen und Christen heranwachsen sollen, die zur Übernahme von Verantwortung in Kirche, Gesellschaft und Staat bereit sind. Zugleich stehen wir zu der Bildungsverantwortung, die wir als evangelische Kirche im allgemeinen Schulwesen wahrzunehmen haben.
Doch daneben behält der Bildungsauftrag in den Gemeinden und das damit verbundene Bemühen um eine verstärkte missionarische Ausstrahlung herausgehobene Bedeutung. Dem Reformvorhaben, die missionarische Kompetenz evangelischer Christen zu stärken, steht als Zielfoto einer verstärkten Erkennbarkeit und Leuchtkraft evangelischer Personen und Einrichtungen vor Augen. Dazu bedarf es des Tastens und Suchens nach geeigneten Mitteln und Wegen, wir brauchen den Mut, Wagnisse einzugehen und auch Ausgefallenes zu erproben.
Dass in ihrer benachbarten Landeskirche in einem Pilotprojekt für die Evangelische Kirche in Deutschland sich ein Kirchenkreis – der Kirchenkreis Stargarder Land – auf eine solche Suche begeben hat, verdient eine besondere Erwähnung. Denn es ist ein wichtiger Ansatz für den Reformprozess in der EKD insgesamt, wenn eine solche – ja wirklich nicht immer leichte – Lernerfahrung anderen interessierten Kirchenkreisen innerhalb der Gemeinschaft der Gliedkirchen der EKD zur Verfügung gestellt wird.
Ein weiteres Element im Bereich dieses Reformfeldes wird es sein, sich der Ausdrucksfähigkeit des christlichen Glaubens zuzuwenden. Wir brauchen eine neue katechetische Vergewisserung, einen missionarischen Bildungsbegriff, der Christen mit elementaren Glaubensdimensionen so vertraut macht, dass sie auch anderen gegenüber einladend von ihrem Glauben sprechen können und gerade so in ihrer eigenen Glaubensidentität gestärkt werden. Zugleich bedarf es einer neuen Konzentration auf die Kraft der Sprache, einer Lust am Wort und den Wörtern, einer freudigen Suche nach Bildern, in denen sich die oft unter der Asche verborgene Glut des Glaubens neu entfachen lässt.
VI.
Wenn wir uns heute den Reformaufgaben in unserer Kirche zuwenden, stehen wir in einem großen Traditionsstrom. Wenn wir theologische Vergewisserung und praktische Reformarbeit miteinander verbinden, geschieht dies in Erinnerung an einen grundlegenden Impuls der Reformation. Die Erneuerung des geistlichen Lebens der Kirche aus dem Evangelium und das Bemühen um bessere Arbeitsformen in unserer Kirche gehören zusammen. Das können wir von Johannes Bugenhagen lernen. Das von ihm Gelernte können wir auf die eigene Gegenwart anwenden. Eine solche Bereitschaft zur Reform entwertet das, was bisher geleistet wurde, nicht. Unter veränderten Bedingungen – und deshalb auch in veränderten Formen – wird es vielmehr weitergeführt. Dabei bleiben wir dem Auftrag unserer Kirche treu, dass wir Menschen dabei helfen, als Christen fröhlich zu leben und getröstet zu sterben.