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„Die Anfänge der EKD, die Kirchenkanzlei in Schwäbisch Gmünd und die EKD heute“ - Ansprache zur Enthüllung der Gedenkstele für die Kirchenkanzlei der EKD

I.

„Die Leitung der Kirchenkanzlei wird Asmussen übertragen. Ein fester Sitz für die Kanzlei kann noch nicht in Aussicht genommen werden.“ So stellte der Rat der EKD in seiner konstituierenden Sitzung am 31. August 1945 gleich zu Beginn fest. Damals befand sich das Büro für den sich bildenden Rat im Privathaus des reformierten Theologieprofessors Otto Weber in Göttingen. Ein halbes Jahr später, zum 1. April 1946, war der Umzug nach Schwäbisch Gmünd vollzogen, und zwar in das Pfarrhaus des Kirchenkanzleileiters selbst.

Dass die Büroarbeit für die gesamte Evangelische Kirche in Deutschland sich in einigen Räumen einer Privatwohnung oder eines Pfarrhauses vollzog, kann man sich heute kaum noch vorstellen. Die Aufgaben, um die es ging, schilderte Hans Asmussen selbst 1946 folgendermaßen: „Die Kanzlei ist die Geschäftsstelle des Rates. Wer also etwas vom Rat will, wendet sich gewöhnlich an den Vorsitzenden, - der dann das Schreiben nach seinem Ermessen der Kanzlei zur Beantwortung übergibt -, oder er wendet sich direkt an die Kanzlei, wo dann entschieden wird, ob die Kanzlei sich für berechtigt hält, das Schreiben zu beantworten oder ob sie es dem Rat in einer Sitzung vorlegen muss. Man macht sich kaum einen Begriff davon, was im vergangenen Jahre alles an die Kanzlei herangetragen worden ist. Man hat uns Pläne übermittelt, wie Europa in den nächsten Jahrzehnten zu regieren sei, mit der Bitte, dies dem englischen Ministerpräsidenten vorzulegen. Man hat uns gebeten, für Pfarrämter oder für kirchliche Zwecke Autos, Papier, Häuser, Talare, Bücher zu besorgen. Man trat an uns heran, wir sollten Kunstschätze aus dem russisch oder polnisch besetzen Gebiet bergen. Mit einem Wort: Die Not war groß, und weil niemand da war zu helfen, wuchs das Vertrauen selbst zu dem Schwachen. Wir haben uns redlich bemüht, möglichst jedem Schreiben, das zu uns gelangte, nachzugehen. Wir haben auch in manchen Fällen helfen können.“

Eines mag man an dieser Stelle festhalten: Die Arbeitsstrukturen haben sich inzwischen gewandelt, aber die Zahl der Themen ist nicht geringer geworden.

II.

Wie war es zu der besonderen Bedeutung von Schwäbisch Gmünd für die evangelische Kirche der Nachkriegszeit gekommen? Nachdem sich die evangelischen Kirchen Deutschlands im Jahr 1933 zu einer „Deutschen Evangelischen Kirche“ zusammengeschlossen hatten, war diese Neubildung alsbald von den Deutschen Christen, dem kirchenpolitischen Stoßtrupp des NS-Regimes, in Anspruch genommen worden. Dagegen wehrte sich der Widerstand der Bekennenden Kirche, zu der auch der Altonaer Pastor Hans Asmussen gehörte. Er hatte große Verdienste um die Vorbereitung der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 und um deren Annahme durch die Barmer Synode. Wegen seines bekenntniskirchlichen Engagements wurde er 1934 von seinem Pfarramt in Hamburg-Altona suspendiert und kam über verschiedene Stationen nach Kriegsende nach Schwäbisch Gmünd, in die württembergische Landeskirche.

Der Bischof dieser Landeskirche, Theophil Wurm, war es, dessen „Kirchliches Einigungswerk“ die unterschiedlichen Flügel der Bekennenden Kirche nach dem Kriegsende zusammenführte. Die Leitgedanken waren einfach: Es sollte eine handlungsfähige große Volkskirche erhalten bleiben; und diese Kirche einen sichtbaren Platz in der Öffentlichkeit einnehmen.

Gegenüber einem bruderrätlichen Modell, wie es damals Martin Niemöller vertrat, und einem lutherisch-bekenntniskirchlichen Modell, für das der bayerische Landesbischof Hans Meiser sich einsetzte, erwies sich dieses Integrationsmodell als erfolgreich. Integration hieß dabei: Man war bereit, die EKD als eine „Konfliktgemeinschaft“ zu verstehen, die bereit war, Differenzen auszuhalten und auszutragen.

Die Verfahren, auf denen diese Differenzen ausgehalten und ausgetragen werden, wurden in der Grundordnung der EKD beschrieben, die heute nahezu auf den Tag sechzig Jahre alt ist. Am 13. Juli 1948 wurde sie unterschrieben. Bis zu diesem Datum hatte man es also nicht nur mit einem provisorischen Standort der EKD in Schwäbisch Gmünd, sondern auch mit einem provisorischen Ordnungsrahmen zu tun. Das war die große Zeit des Wirkens von Hans Asmussen hier an diesem Ort. Zum sechzigsten Jahrestag der Grundordnung der EKD gedenken wir dieses Wirkens in Dankbarkeit.

III.

Es hatte sicherlich viel mit der Persönlichkeit des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurms zutun, dass das von ihm entworfene „Kirchliche Einigungswerk“ sich 1945 bei der Kirchenführerversammlung im hessischen Treysa durchsetzte. Bei dieser Versammlung wurde der erste Rat der EKD berufen; dessen Vorsitz übernahm Wurm, sein Stellvertreter wurde Niemöller. Auch Asmussen wurde als Ratsmitglied gewählt und als solches zum Leiter der Kirchenkanzlei bestimmt.

Auch das könnte man sich heute nicht mehr vorstellen. Heute nimmt der Präsident des Kirchenamtes der EKD zwar an den Ratssitzungen teil, ist aber kein stimmberechtigtes Mitglied des Rates. Damals aber befand sich Asmussen als Leiter der Verwaltung und als Mitglied des Leitungsorgans an einer nicht zu unterschätzenden Schaltstelle. Die Ratsprotokolle dieser Zeit machen das sehr anschaulich. Dabei war Asmussen durch seine Persönlichkeit, seine theologische Prägung und seine eher unsystematische Büroleitung nicht unumstritten. Kirchenpolitische Entwicklungen und persönliche Verwerfungen trugen dazu bei, dass der Rat der EKD Asmussen im Mai 1948 den Rücktritt als Leiter der Kirchenkanzlei nahelegte. Im Folgejahr kehrte Hans Asmussen in seine Heimatkirche nach Schleswig-Holstein zurück und übte bis 1955 das Amt des Propstes in Kiel aus.

Nach Asmussens Rücktritt gab es auch für Schwäbisch Gmünd als Standort der Kirchenkanzlei keine zwingenden Gründe mehr. Freilich erst im Herbst 1949 wurde sie nach Hannover verlegt. Doch zu diesem Zeitpunkt waren bereits die wichtigsten Weichen gestellt: Die EKD hatte sich in Eisenach 1948 eine Grundordnung gegeben und als Kirche konstituiert.

IV.

Aus einer Kanzlei ist inzwischen ein Kirchenamt geworden. Aus der EKD der Anfangszeit, in der bruderrätliche und lutherrätliche Bestrebungen um den rechten Weg ringen, ist die EKD geworden, die vor kurzem durch das „Verbindungsmodell“ lutherische, unierte und reformierte Kirchen enger zusammenführt, als das vor sechzig Jahren möglich war. Schon damals wurde darüber diskutiert, ob denn die EKD ein gemeinsames Bekenntnis habe und sich als Kirche bezeichnen könne. Seitdem haben die evangelischen Kirchen Europas sich in der Leuenberger Konkordie von 1973 darauf verständigt, welche gemeinsamen Grundaussagen es ihnen ermöglichen, miteinander uneingeschränkte Kirchengemeinschaft zu halten. Diese Entwicklung ist natürlich auch für die EKD von außerordentlicher Bedeutung und rückt die Frage nach dem Kirchesein der EKD in ein verändertes Licht.

Noch vor der Spaltung Deutschlands in Ost und West wurden die Geschäfte des Rates der EKD hier von Schwäbisch Gemünd aus geführt. Doch dann kam es zur Bildung von zwei Staaten in Deutschland, zu Stacheldraht und Mauer. Die östlichen Gliedkirchen der EKD mussten einen eigenen „Bund der evangelischen Kirchen in der DDR“ bilden. Im Kirchenamt der EKD tragen alle Sitzungsräume die Namen von Städten, die einst in der DDR lagen. Dass wir darauf heute zurückblicken können und nun bald zwanzig Jahre in uneingeschränkter Gemeinschaft Evangelische Kirche in Deutschland sein können, ist ohne Zweifel das größte Geschenk unserer Geschichte seit jenen Anfängen in Schwäbisch Gmünd.

Als „Konfliktgemeinschaft“ wurde die EKD zu Beginn bezeichnet. Inzwischen haben wir Wege entwickelt, auf denen die Gliedkirchen der EKD mit Differenzen in einer Weise umgehen, die Gemeinschaft nicht bedroht, sondern stärkt. Derzeit entwickeln wir ein Verfahren zur vorlaufenden Beratung und Verständigung „in wesentlichen Fragen des kirchlichen Lebens und Handelns“ innerhalb der Gemeinschaft der Gliedkirchen der EKD. Wir wollen damit erreichen, wie die Grundordnung der EKD sagt, „dass die Gliedkirchen, soweit nicht ihr Bekenntnis entgegensteht, in wesentlichen Fragen des kirchlichen Lebens und Handelns nach übereinstimmenden Grundsätzen verfahren.“ Wenn wir das auf der Grundlage einer freiwilligen Selbstverpflichtung praktizieren, wird das die kirchliche Gemeinschaft weiter stärken.

Aber nicht so sehr als „Konfliktgemeinschaft“, sondern eher als „Reformgemeinschaft“ möchte ich die Evangelische Kirche in Deutschland heute bezeichnen. Bei allen Unterschieden von Frömmigkeitsformen und Kirchenprofilen in den verschiedenen Regionen Deutschlands prägt sich immer deutlicher ein gemeinsamer Reformgeist und ein gemeinsamer Reformwille in unseren Kirchen aus. Eine Besinnung auf die Kernaufgaben der Kirche und eine Bereitschaft zum missionarischen Aufbruch, der Wille, durch Verkündigung wie durch Bildungsanstrengungen das Evangelium zu den Menschen zu bringen, das Bemühen um ansprechende und ausstrahlungsstarke Gottesdienste und die helfende Zuwendung zu Menschen in Not, die seelsorgerliche Bemühung um den einzelnen Menschen und das profilierte Wirken in die Öffentlichkeit hinein verbindet uns in der Evangelischen Kirche in Deutschland und gebt dem „Evangelisch in Deutschland“ Erkennbarkeit und Gewicht.

Und so ist es gut, wenn wir uns heute auf die Anfänge der EKD besinnen, wenn wir uns würdigend an Hans Asmussen erinnern und wenn wir dies an dem Ort tun, an dem er unverzichtbare Aufgaben für die EKD übernommen und sie dabei in erheblichem Maße mitgeprägt hat. Zu dem Ort und zu der Person, denen unser Erinnern an diesem Tag gilt, passt sehr gut das biblische Losungswort für den heutigen Tag, mit dem ich schließen möchte: „Herr, führe meine sache und erlöse mich; erquicke mich durch dein Wort“ (Psalm 119, 154).

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