Bildung im größer werdenden Europa - Festvortrag beim Festakt des Berthold-Gymnasiums Freiburg „Fünfzig Jahre Hirzbergstraße“

Wolfgang Huber

I.
Unsere Erinnerungen sind von Ungewissheiten umgeben. Sie sind umso unsicherer, je weiter sie in die Vergangenheit zurückreichen. Früheste Erinnerungsfetzen tauchen oft nur schemenhaft in unserem Gedächtnis auf.

Trotzdem steht mir das Bild klar vor Augen, mit dem mein persönliches Erinnern beginnt: der glutrote Nachthimmel über den Bergen des Schwarzwalds am 27. November 1944. Unsere Familie hatte damals im Schwarzwald Zuflucht gefunden, von wo aus der Widerschein der brennenden Stadt Freiburg beängstigend zu sehen war. Ob ich das als damals Zweijähriger wirklich aus eigenem Erleben im Bewusstsein habe oder weil mir das Ereignis durch die Erzählungen meiner älteren Brüder derart lebendig wurde und blieb - woher soll ich das wissen?

Jedenfalls ist das erste Erinnerungsbild in meinem Gedächtnis unlöslich mit dem Geschick des Berthold-Gymnasiums verknüpft. Denn bei dem britischen Luftangriff auf Freiburg am 27. November 1944 wurde auch das Gebäude des Berthold-Gymnasiums zerstört. Nur als Ruine lernten wir späteren Schüler dieses Schulgebäude noch kennen - zum Beispiel dadurch, dass wir es in den frühen fünfziger Jahren für die Fronleichnamsprozession schmückten - eine aus meiner Sicht bemerkenswerte ökumenische Aktion, deren weit reichende Bedeutung ich als Zehnjähriger eher ahnte, als sie zu durchschauen.

Die drangvolle Enge im Gebäude des Friedrich-Gymnasiums, in dem wir den größeren Teil unserer Gymnasiumsjahre verbrachten, ist oft geschildert worden. Den Charme des Schichtunterrichts in einem Schulgebäude, das wir mit einem Mädchengymnasium teilten, sollte man dabei nicht ganz verschweigen. Aber wir Schüler begrüßten den Umzug in den neuen, hellen, malerisch an der Dreisam gelegenen Bau. Als Unterprimaner, also als Schüler der Jahrgangsstufe 12, verzierten wir den Umzug durch eine Theateraufführung von Molières „Médecin malgré lui“ auf Französisch; unser Klassenkamerad Michael Bader vertrat uns Schülerinnen und Schüler würdig durch eine Ansprache beim Festakt zur Einweihung des Gebäudes. Allein schon durch diese beiden symbolischen Akte entwickelten wir ein Gefühl dafür, im neuen Gebäude angekommen zu sein.

Die Ortswahl war mit dem Verzicht auf eine zentrale Lage in der Stadt verbunden; der alte Standort war leider nicht mehr verfügbar. Ich gebe gern zu, dass ich zu denen gehörte, die sich mit dem relativ weiten Weg schwer taten. Schon meine Anfangsjahre im Berthold-Gymnasium - also in der Zeit, in der es seinen Ort noch am Aschoffplatz in Herdern hatte - waren durch einen vergleichsweise weiten Schulweg quer durch die Stadt gekennzeichnet. Dass ich ihn mit dem Fahrrad zurücklegte, fanden meine Eltern zu gefährlich; die Straßenbahn aber war zu teuer. Also musste ich zu Fuß gehen oder mich notfalls bei einer älteren Schulkameradin auf die Fahrradstange schwingen; dass das nicht nur verboten, sondern gefährlicher war, als selber Fahrrad zu fahren, war mir auch schon als Sextaner durchaus bewusst. Für einige Zeit hatte ich dann, da unsere Familie umgezogen war, einen vergleichsweise kurzen Schulweg an den Aschoffplatz; dann aber musste ich wieder die ganze Stadt durchqueren - nun längst auf dem eigenen Fahrrad, mit dem ich freilich bisweilen zu spät in der Hirzbergstraße ankam. Dann blieb mir nichts anderes übrig, als schuldbewusst meine verschmierten Hände vorzuweisen, durch die ich die abgesprungene Fahrradkette sinnenfällig machen wollte.

Doch von der Frage des pünktlichen Schulbeginns einmal abgesehen und die üblichen Verklärungen der eigenen Schulzeit, die sich mit wachsendem Abstand zu steigern pflegen, einmal abgezogen, teile ich mit vielen meiner Altersgenossen eine dankbare Erinnerung an unsere Zeit im Berthold-Gymnasium und an die Lebensorientierung, die sie uns gegeben hat. Es hat mir darüber hinaus immer Freude gemacht, durch Familienangehörige der nächsten beiden Generationen eine nicht nur virtuelle Verbindung zu der Schule zu behalten, die für achteinhalb Jahre - Dank sei dem Kurzschuljahr 1952/53 - mein Leben zu großen Teilen bestimmt hat.

II.
Aber was war das Bestimmende? Nun gilt die Warnung erst recht, dass unsere Erinnerungen von Ungewissheiten umgeben sind. Dennoch wage ich für mich selbst die Aussage, dass mir die Schulzeit an einem, an diesem humanistischen Gymnasium in besonderer Weise dabei geholfen hat, mich in Europa zu orientieren und mich Schritt für Schritt als Europäer zu verstehen.

Natürlich gilt das nicht bruchlos. Unser Geschichtsunterricht beispielsweise war zwar europäisch orientiert, so weit es um die Antike ging. Aber je stärker er sich der Neuzeit näherte, umso mehr verengte sich die Geschichte zur Nationalgeschichte. Auch eine andere gravierende Lücke dieses Unterrichts muss eingeräumt werden: Unser Geschichtsunterricht der fünfziger Jahre erreichte die Zeit des nationalsozialistischen Regimes nicht. Unser Geschichtslehrer, der in dieser Zeit selbst unterrichtet hatte - Joachim Fest hat ihm in seinen Lebenserinnerungen auf seine Weise ein Denkmal gesetzt - , äußerte sich im Unterricht zu dieser Zeit nach meiner Erinnerung nicht; nur außerhalb des Unterrichts drückte er mir die Aufzeichnungen von Ulrich von Hassell, einem der Widerständler des 20. Juli 1944, in die Hand, um mich auf ein Phänomen aufmerksam zu machen, über das wir in der Schule kaum etwas zu hören bekamen.
 
Aber richtig war eben auch: Die lebendige Begegnung mit der griechisch-römischen Antike führte uns nahe an den geistigen wie politischen Wurzelgrund Europas. Der selbstverständlich akzeptierte Rang des Religionsunterrichts - eines hervorragenden noch dazu - bewahrte uns zugleich davor, das antike Menschenbild absolut zu setzen. Wir begegneten in einer lebendigen Auseinandersetzung dem Miteinander von Christentum und antiker Kultur. Dass das eine nicht ohne das andere zu haben ist, lernte ich erst sehr viel später als die Doppelhelix zu bezeichnen, durch die unsere abendländische Kultur geprägt ist. Doch dieser Begriff, mit dem Francis Crick und James Watson 1953 die räumliche Struktur der menschlichen DNA beschrieben, war zu unserer Schulzeit ja vollständig neu. Wie sollte man damals schon auf die Idee kommen, das geistige Gerüst Europas - das Ineinander von jüdisch-christlicher Glaubensgewissheit und griechisch-römischer Geisteshaltung - mit diesem räumlichen Bild zu beschreiben. Das hat erst vor wenigen Jahren der israelische Forscher Guy Strousma getan.

Dieses geistige Gerüst ist für die Identität Europas von großer Bedeutung. Denn im Unterschied zu allen anderen Kontinenten ist Europa in erster Linie keine geographische, sondern von Anfang an eine kulturelle Größe. Nur seine kulturelle und religiöse Geschichte begründet, warum wir Europa einen Kontinent nennen. Und in seiner kulturellen Gestalt ist es von Anfang an nicht durch einen, sondern durch mehrere prägende Faktoren bestimmt.

Für diese kulturelle und religiöse Prägung sind drei Namen kennzeichnend: Athen, Rom und Jerusalem.
Den Griechen verdankt Europa den Geist der Philosophie, den Aufbruch zur Wissenschaft, die Offenheit für die Künste. Ein Erbe ist das übrigens, dessen Überlieferung zu einem erheblichen Teil dem mittelalterlichen Islam zu danken ist. Den Römern verdankt Europa die Stiftung einer Rechtsordnung, den Sinn für politische Einheit und gestaltete Herrschaft. Jerusalem schließlich verdankt Europa die Bibel, die prägende Religion, das bestimmende Bild vom Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Das Christentum ist aus dem Judentum hervorgegangen; die Bibel der Christen schließt die Hebräische Bibel ein. Jesus, Petrus und Paulus - um nur diese drei zu nennen - waren Juden. Wann immer das Christentum sich von diesen jüdischen Wurzeln emanzipieren wollte, hatte das schreckliche Folgen. Für die Zukunft hat deshalb nur ein Christentum Berechtigung, das sich seiner Herkunft aus dem Judentum bewusst ist.

Wer von den christlichen Wurzeln Europas spricht, muss sein Verhältnis zum antiken Erbe ebenso wie die jüdischen und islamischen Einwirkungen auf die europäische Entwicklung ins Auge fassen. So wenig es einen Grund gibt, das Christliche an Europa zu marginalisieren, so unbegründet ist es auch, Europa mit dem Christentum gleichzusetzen. Für keine Epoche der europäischen Geschichte ist das angemessen. Keine noch so geläufige Rede vom christlichen Europa oder vom christlichen Abendland kann und darf darüber hinwegtäuschen. Die Rede von der christlichen Prägung Europas kann deshalb niemals in einem exklusiven, mit einem Monopolanspruch versehenen Sinn gemeint sein.

Aber wer vor Einseitigkeiten im Bild des Menschen bewahrt bleiben will, sollte von der jüdisch-christlichen Prägung Europas nicht absehen. Denn der Impuls zu einer Solidarität, die Grenzen überschreitet, hat in der jüdisch-christlichen Überzeugungsgeschichte seinen Ursprung. Die Compassion hat erst durch die jüdisch-christliche Glaubensgeschichte Eingang in das Gottesbild gefunden. Seitdem ist unser Menschenbild nicht auf die Vorstellung vom untadeligen, olympischen Individuum beschränkt; neben diesen olympischen ist vielmehr der jesuanische Mensch getreten: „Seht, welch ein Mensch - ecce homo.“ Die Verletzlichkeit des Menschen gehört zum Menschen wie seine Vollkommenheit; seine Schuldhaftigkeit ist ebenso in sein geschichtliches Geschick verwoben wie der Glanz seiner Taten. Die Fürsorge für andere bestimmt seine Bereitschaft zu verantwortlichem Leben ebenso wie seine selbstbestimmte Eigenverantwortung. Dass der Mensch, den Sophokles als das Staunenswerteste unter allem bezeichnete, was uns in Staunen versetzt, sein Leben als Geschenk empfängt und über dieses Leben Rechenschaft schuldig ist: das zusammen macht erst das Bild eines Menschen aus, der aus Freiheit zur Verantwortung fähig und berufen ist.

Nicht erst der Neuhumanismus des 19. Jahrhunderts, sondern bereits die geistigen Bewegungen der Renaissance, des - in Freiburg durch Erasmus und Zasius vertretenen - Humanismus und der Reformation haben an diese Arbeit am Menschenbild angeknüpft. Dass der Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird und so an einer unantastbaren Würde Anteil hat, die Gott ihm verleiht, begründet im reformatorischen Denken den gleichen Zugang aller zu Gott ebenso wie ihren prinzipiell gleichen Rang in der Gesellschaft. Die unterschiedlichen den Menschen anvertrauten Gaben begründen aber zugleich die Pflicht, diese Gaben in den Dienst des Nächsten zu stellen und sie um dieser Aufgabe willen auch zur Entfaltung zu bringen. Deshalb gilt in der reformatorischen Tradition die Bildung als eine der vornehmlichen Folgen der christlichen Freiheit. Melanchthon - auch er seiner Herkunft nach ein Badener - gab für diese Bildung eine klare Parole aus: „Wähle dir vom Besten das Beste aus, und zwar, was zur Kenntnis der Natur und zur Bildung des Charakters beiträgt. Vor allem ist hierbei die griechische Bildung vonnöten, die die gesamte Naturwissenschaft umfasst, um über die Ethik sachkundig und gewandt sprechen zu können.“

Europa in seiner durch Antike und Christentum geprägten Gestalt und eine Bildung, die diese Gestalt  erschließt, gehören zusammen. Zu diesem geistigen Gerüst Europas und zu einer ihm entsprechenden Vorstellung von einem Leben in verantworteter Freiheit einen Zugang gewonnen zu haben, werde ich immer als den entscheidenden Sinn humanistischer Bildung ansehen. Sie wurde  im neuhumanistischen Bildungsideal nur verkürzt wiedergegeben, wenn dieses nach Wilhelm von Humboldts Auffassung besagen sollte, jeder Mensch existiere eigentlich nur für sich, es gehe deshalb allein um die „Ausbildung des Individuums für das Individuum und nach den dem Individuum eigenen Kräften und Fähigkeiten“. Eine vergleichbare Verkürzung lag auch in der Vorstellung, es gehe allein darum, durch humanistische Studien einen bildungsbürgerlichen Vorteil zu erlangen, der einem eine sichere Karriere im Staatsdienst eröffne. Nein, in einem ernsthafteren Verständnis geht es darum, eine Bildung zu erfahren, deren Ziel in der Entfaltung der humanitas, also in der Bereitschaft zu einem reflektierten und selbstkritischen Menschsein besteht.

III.
Das Europa von 2008 ist nicht mehr das Europa von 1958. In unsere Schulzeit fiel die Bildung des Europa der 6. Wir hatten das Gefühl, diesem Vorgang nahe zu sein. Wir lernten, den politischen Machtverhältnissen der Nachkriegszeit in Südbaden folgend, Französisch; dadurch bekamen wir zumindest eine Ahnung davon, was es bedeutete, dass französische Politiker wie Robert Schuman und Guy Monnet für eine Politik eintraten, in der Versöhnung an die Stelle von Vergeltung trat. Einzelne von uns hatten die Chance zum Schüleraustausch mit französischen Schülern, zu denen die persönliche Beziehung zum Teil bis heute anhält. In meinem Fall war das so, obwohl meine Eltern mich warnten, als in Straßburg Geborener könne ich bei Reisen nach Frankreich von der Polizei festgehalten und zum französischen Militärdienst eingezogen werden. Das gehörte zu den Warnungen, denen ich keinen Glauben schenkte - ohne dass mir das geschadet hätte. Als Schüler erlebten wir den Abschluss der römischen Verträge zwischen Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden, mit denen zum 1. Januar 1958 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde. Das Bild von Europa, das sich unter der Herrschaft des Kalten Krieges herausbildete, war westeuropäisch und, wenn man so will, kleineuropäisch geprägt.

Welch gewaltiger Weg war von diesem Europa der 6 zum Europa der 27 zurückzulegen, in dem wir heute leben. Für mich besteht kein Zweifel daran, dass nach der Befreiung Europas von der Geißel der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Jahr 1945 das Ende der europäischen Teilung und in Deutschland der Fall der Mauer das größte weltgeschichtliche Geschenk war, das unserer Generation zuteil wurde. Bald liegen die Ereignisse von 1989/90 zwei Jahrzehnte hinter uns. Aber wir sind noch ganz von der Aufgabe in Atem gehalten, dieses geschichtliche Geschenk eines freien und geeinten Europas zu verarbeiten. Dabei fällt es uns schon nicht leicht, Deutschlands Einheit in Freiheit zu würdigen und ihr eine überzeugende politische Gestalt zu geben. Wie viel weiter ist der Weg dazu, das größer gewordene Europa zu verstehen und zu gestalten!

Das Europa der 25, das mit dem 1. Mai 2004 ins Leben trat und sich inzwischen mit dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens zu einem Europa der 27 erweiterte, ist ein anderes Europa als das Europa der 6, der 12 oder der 15. Die Vorstellung, dass der Name Europas allein für den Westen des Kontinents in Anspruch genommen werden könne, hat endgültig ein Ende gefunden. Inzwischen wird die Frage nach den Grenzen Europas unter ganz anderen Gesichtspunkten diskutiert. Das Verhältnis zur Türkei, zu Russland oder zu Marokko wird dafür ein Prüfstein sein.

Mit der Osterweiterung der Europäischen Union ist Europa nicht nur kulturell, sondern auch sozial vielschichtiger und vielgestaltiger geworden. Ob dieses Europa in der globalisierten Welt bestehen und seinen Wohlstandsvorsprung verteidigen kann, wird zu einer wachsenden Herausforderung. Zugleich wiederholen sich die sozialen Unterschiede, die wir global beobachten können, in Europa selbst. Wie sich der Egoismus der Wirtschaftssubjekte, die Solidarität der Personen und die soziale Verpflichtung des Gemeinwesens zueinander verhalten, ist ungeklärt. Neujustierungen sind unausweichlich. Die Meinung, dass diese Neujustierung mit dem Hinweis auf die Eigendynamik der Marktwirtschaft, auf die Eigenverantwortung der Einzelnen sowie auf die abnehmende Leistungsfähigkeit des Sozialstaats schon abschließend beantwortet sei, wird zwar oft wiederholt; sie entwickelt aber keine bezwingende Überzeugungskraft.

Lange wurde versucht, das Paradigma von Solidarität und Gerechtigkeit, an dem sich beispielsweise das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen von 1997 orientiert, durch das Paradigma von Freiheit und Wettbewerb zu ersetzen. Im Geist eines solchen Paradigmenwechsels wurden „Individualisierung“ und „Eigenverantwortung“ zu bestimmenden Stichworten. Sie haben ihr unbezweifelbares Recht. Weder ist es falsch, das Individuum, die unverwechselbare menschliche Persönlichkeit hoch zu schätzen. Noch ist es verkehrt, jedem das Maß an Eigenverantwortung zuzumuten, das er auch zu tragen im Stande ist. Heute spürt man jedoch neu, dass über diese Stichworte hinausgefragt werden muss. Dabei reicht das Rufen nach einem fürsorglichen Staat nicht aus. Vielmehr sind auch Verantwortung und Solidarität der Einzelnen gefragt. Das Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft und die Bereitschaft, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Verantwortung zu übernehmen, treten in den Blick. Gibt es überhaupt Chancen für solche Werte?

Angesichts der Aporien der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung stellt sich die Frage neu, worin der Charakter des größer gewordenen Europa als einer ertegemeinschaft zu sehen sei. Was sind, so wird damit gefragt, die verbindenden Grundhaltungen, die das so vielfältige, kulturell plurale und wirtschaftlich gegensätzliche Europa zusammenhalten? Die Überzeugung gewinnt an Gewicht, dass diese Grundhaltungen mit dem Menschenbild zusammenhängen, das sich in Europa aus dem Zusammenfinden von antikem Erbe und christlichem Glauben entstanden ist: eben jenem Zusammenklang von Freiheit und Verantwortung, von Selbstbestimmung und Solidarität, von Vernunft und Compassion, den ich bereits als den Gehalt der europäischen Doppelhelix zu beschreiben versuchte.

Dieser Zusammenklang von Selbstbestimmung und prosozialem Verhalten versteht sich keineswegs von selbst. Aber in einer deutlichen Werteverschiebung macht er sich gerade bei der jungen Generation verstärkt bemerkbar. Wünschen möchte man dann nur, dass Jugendliche, die danach fragen, in der älteren Generation auch auf überzeugende Vorbilder stoßen und nicht mit einem gesellschaftlichen Leitbild konfrontiert werden, das Aktienkurse wichtiger findet als Arbeitsplätze, Autos attraktiver als Menschen, Hunde  akzeptabler als Kinder. Wenn wir von einer notwendigen Wertorientierung in unserer Gesellschaft sprechen, dann müssen wir Älteren aufpassen, dass wir nicht durch unser praktisches Verhalten den Jüngeren die Werte austreiben, nach denen sie sich sehnen. Aber auch Eltern sind auf der Suche nach Bildungsorten, die den ganzheitlichen Auftrag von Bildung ernst nehmen. Mit einer der scharfzüngigen Formulierungen von Heike Schmoll gesagt: „Inzwischen scheint bei aller Pisa-Seligkeit unter den Eltern das Bedürfnis gewachsen zu sein, ihren Kindern Bildungserfahrungen zu vermitteln, die sich nicht in skills oder Kompetenzen für die Durchsetzung in der Wettbewerbsgesellschaft niederschlagen.“

Wer sich an tragfähigen Werten orientieren will, hat auch ein Recht darauf, in diesem Bemühen ernst genommen zu werden. Wer nach einer Bildung sucht, die in einem ganzheitlichen Sinn Menschenbildung - also humanistische Bildung - ist, soll sie auch heute finden können. Wer die Bereitschaft entwickelt, in der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen, wird damit zu einer bestimmten Art von Elite gehören, die wir auch heute und morgen brauchen werden: nicht zu einer Standes-, Besitz- oder Bildungselite, wohl aber zu einer Verantwortungselite. Der Zugang zu solchen Bildungsmöglichkeiten soll möglichst breit sein; das gehört zu den Voraussetzungen einer Befähigungsgerechtigkeit, für die wir in unserer Gesellschaft streiten müssen. Aber dass wir um der Gerechtigkeit willen auf die Ausbildung einer Verantwortungselite in unserer Gesellschaft verzichten könnten, ist grundfalsch; das Gegenteil ist richtig. Damit eine Gesellschaft ausreichend starke Kräfte hat, die sich um einen Zusammenklang von Freiheit und Gerechtigkeit bemühen, braucht diese Gesellschaft jene Gruppen verantwortungsbereiter und zur Verantwortung fähiger Menschen, die ich ohne Scheu als „Verantwortungselite“ bezeichne.

Wird unser Bildungswesen dieser Aufgabe gerecht? Die Gefahr ist mit Händen zu greifen, dass hierzulande aus den PISA-Studien auf dramatische Weise verkürzte Konsequenzen gezogen werden. Man beschränkt sich auf die Suche nach Wegen, das kognitive Leistungsniveau zu steigern - und zwar bezogen auf seine testbaren Dimensionen. Man betreibt sozusagen eine Digitalisierung der Lernprozesse. Dabei wird verkannt, dass das Lernen nur verbessert, wer die Bedingungen des Lernens - sein soziales Setting sozusagen - verändert. Verkannt wird ebenfalls, dass die PISA-Studien als wichtigste Schwächen unseres Bildungswesens den Mangel an Fähigkeit zum Transfer des Gelernten auf neue Fragestellungen, zur Suche nach eigenen Lösungswegen, zum eigenständigen Verstehen von Gelerntem aufgewiesen haben.

Dass Bildung es aus diesem Grund nicht nur mit Lernen, sondern auch mit Verstehen zu tun hat, ist deshalb alles andere als altmodisch. Man merkt das auch an der verstärkten Nachfrage nach einer Art von Bildung, „die sich nicht in Skalen und Zahlen niederschlägt“ (H. Schmoll). Fächer, die nicht einfach Nützlichkeitsimperativen folgen, sondern in denen das Denken gelernt und geübt wird, verdienen wieder verstärkte Beachtung. Dazu zählen genauso wie Mathematik oder Philosophie, Kunst oder Musik eben auch die Beschäftigung mit Literatur und in besonderer Weise Griechisch und Latein. Ich persönlich zähle die Nachricht, dass der Anteil der Lateinanfänger unter den Gymnasiasten wieder wächst, und ebenso die Nachricht, dass das Interesse an Griechisch wieder zunimmt, zu den Hoffnungszeichen unserer Zeit.

Das Ziel zeitgemäßer Schulreformen tritt erst dann zureichend in den Blick, wenn eine neue Balance von Leistungsorientierung und Lebensorientierung, von nachprüfbarem Wissen und Identitätsbildung, von Kulturtechniken und kultureller Verwurzelung erreicht wird. Dabei muss man sich die Balance zwischen diesen beiden Dimensionen nicht im Sinn von zwei kommunizierenden Röhren vorstellen, wonach der Zugewinn auf der einen Seite mit einem Verlust auf der anderen Seite erkauft wird. Vielmehr muss man es für möglich halten und darauf hinzielen, dass eine Verstärkung auf der einen auch zu einer Verstärkung auf der anderen Seite zu führen vermag. Und Schulreformprojekte sind daran zu messen, ob das auch gelingt. Zu ihnen gehört dann aber in jedem Fall auch, für Schülerinnen und Schüler Räume zu schaffen, in denen sie ihrer Freiheit gewiss werden und sie verantwortlich zu gebrauchen lernen.

Ich halte es für notwendig - und die Entwicklung zur Ganztagsschule, die auch vor dem Berthold-Gymnasium nicht Halt macht, verstärkt diese Notwendigkeit - , dass die Schule Gelegenheiten schafft, Verantwortung wahrzunehmen. Das fängt mit kleinen Aufgaben und freiwillig übernommenen Pflichten an. Aber es kann sich darin fortsetzen, dass Schülerinnen und Schüler sich an umfangreicheren Sozialprojekten beteiligen. Einige Wochen in der Altenpflege verändern das Weltbild junger Menschen tiefgreifend. Die erste Begegnung mit einem Asylbewerberheim schafft für Kinder aus bürgerlichen Verhältnissen ein neues Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit. Trägt man die Aufgabe, Verantwortung zu lernen, auf eine solche Weise in die Schule hinein, dann muss sie nicht nur im Curriculum der Schule verankert sein. Auch die Schulatmosphäre insgesamt muss von dem Geist geprägt sein, um dessentwillen es Projekte des Verantwortung-Lernens, des Service Learning gibt. Soziale Verantwortung baut auf eine Kultur der Anerkennung auf. Sie zu entwickeln, gehört zu den schwersten und wichtigsten Aufgaben der Schule überhaupt. Aber genau an dieser Stelle kann die Schule verstärkt wieder auf das Leben vorbereiten. Denn nicht nur die Schule, sondern die Gesellschaft hat es nötig, dass wir Verantwortung lernen - und praktizieren. Um dieser Aufgabe willen wünsche ich dem Berthold-Gymnasium - meiner Schule - eine gute Zukunft.