„In das Hülferufen der Meisten über den Untergang der Religion stimme ich nicht ein, denn ich wüsste nicht, dass irgend ein Zeitalter sie besser aufgenommen hätte als das gegenwärtige.“ Diesen Satz aus Friedrich Schleiermachers Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern von 1799 hat Wilhelm Gräb zwei Jahrhunderte später aufgenommen und ans Ende seiner Berliner Antrittsvorlesung aus dem Jahr 2000 gestellt. Nahezu trotzig hat er damals hinzugefügt: Dieser Satz Schleiermachers „gilt für mich heute erst recht“.
Eine so positive Deutung der religiösen Lage in Berlin hört man selten; wohltuend hebt sie sich von manchem Lamentieren ab, das ja auch sonst einer Stadt nicht gerade fremd ist, der es schon als ein hohes Lob gilt, wenn einer sagt, er habe doch nicht gemeckert. Wir wollen heute in Wilhelm Gräb angesichts seines 60. Geburtstags nicht das Gefühl aufkommen lassen, wir hätten ihn dadurch gelobt, dass wir nicht gemeckert haben. Wir wollen ihm vielmehr für die positive Perspektive und die Weitung des Horizonts danken, die er in unsere „religiöse Gegenwartskunde“ gebracht hat.
Nicht nur für Berlin ist das ein großer Gewinn. Religiöse Phänomene in ihrer Vielfalt wahrzunehmen, ästhetische Erfahrungen hinsichtlich ihres religiösen Gehalts zu deuten, die moderne Medienreligion in ihren Sinngehalten zu erschließen, der Religionsproduktivität des Individuums in der Theologie Respekt zu verschaffen: wer all das mit einer solchen Unermüdlichkeit tut, hat unseren Dank verdient – gerade in Berlin, jener Stadt, die von manchen als gottlos, von anderen mindestens als religiös unmusikalisch angesehen wird. Dabei ist es, um nur von der Musik zu reden, nach meiner Einschätzung die Stadt mit der größten Weihnachtsoratoriumsdichte in der ganzen Welt.
Es kann eben doch etwas Gutes haben, wenn der Lebensweg einen aus dem Südbadischen, in diesem Fall aus Säckingen am Hochrhein, nach Berlin führt. Ich bekenne mich an dieser Stelle zu einer gewissen Wahlverwandtschaft. Ich freue mich deshalb besonders darüber, dass Hanna und Paul Gräb ihren vertrauten Ort inmitten ihrer eindrucksvollen Bildersammlung in Bad Säckingen für kurze Zeit verlassen haben und zu uns nach Berlin gekommen sind. Für die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und für die Evangelische Kirche in Deutschland danke ich Wilhelm Gräb für sein großes praktisch-theologisches Werk ebenso wie für seine hilfreiche Konzentration auf die kultur- und religionshermeneutische Erschließung unserer Gegenwart. Besonders zu danken habe ich dem Berliner Universitätsprediger dafür, dass er die Berliner Universitätsgottesdienste zu seiner Sache gemacht und ihnen seinen unverwechselbaren Stempel aufgedrückt hat.
Wer sich mit einem solchen „heute erst recht“ eine Schleiermachersche Perspektive zu Eigen macht, hat – daran kann kein Zweifel sein – das Zeug zu einem streitbaren Geist. Ebenso groß wie die Fähigkeit, sich die Berliner Tradition von Schleiermacher bis Harnack und Troeltsch zu Eigen zu machen, ist auch die Bereitschaft, nicht gleichermaßen geschätzte Traditionen an andere Orte abzuschieben, nach Bonn oder Basel beispielsweise. Da möchte man gelegentlich ein „Quousque tandem?“ dazwischen rufen und sich ausmalen, wie diese Theorie gelebter Religion wohl aussähe, wenn sie sich auch dieser eher verdrängten Traditionen in ihrer produktiven Bedeutung annähme. Auch Wilhelm Gräbs Bild von der Kirche gibt immer wieder Anlass zu produktivem Streit, wenn beispielsweise die inhaltliche Bestimmtheit kirchlicher Lehre allzu leichthin als Dogmatismus betrachtet, wenn eine missionarische Neuausrichtung kirchlichen Handelns als Ausdruck eines dogmatischen Wahrheitsabsolutismus dargestellt oder wenn der Religionsunterricht – als ordentliches Unterrichtsfach wohlgemerkt! – in ein für alle Schülerinnen und Schüler verbindliches bekenntnisfreies Fach der Sinn- und Wertorientierung eingefügt und einbezogen werden soll.
„Irgendwie fühl ich mich wie Frodo ...“ Unter diesem Titel hat Wilhelm Gräb mit anderen eine Studie zum Phänomen der Medienreligion vorgelegt. Frodo – nämlich Jan Frodeno – hat sich, wie Sie wissen, in dieser Woche durchgekämpft. Nach eineinhalb Kilometern Schwimmen, vierzig Kilometern Radfahren und zehn Kilometern Laufen ließ er die Konkurrenz stehen und errang Gold im olympischen Triathlon. „Frodo, komm, kämpf dich durch! Mach uns den Herrn der Ringe!“ hatte der Reporter ihm auf den letzten achtzig Metern zur Goldmedaille beschwörend zugerufen. Vergleichbares rufen wir heute Wilhelm Gräb zu und wünschen ihm für das neue Lebensjahrzehnt unermüdliche Kampfbereitschaft, damit sich der Buchtitel wirklich erfüllt: „Irgendwie fühl ich mich wie Frodo ... „
Zur Zuversicht besteht dabei aller Grund. Der jüngste Text von Wilhelm Gräb, der mir in die Hand kam, beschreibt die „Zukunft eines Glaubens, der bei Verstand ist“ und endet mit der Beschreibung dieses Glaubens als einer unbedingten Lebensgewissheit, aber auch als der Kraft zu Anklage und Protest in den Erfahrungen der Ungerechtigkeit und ... Ja, Sie haben richtig gehört: Der Text endet, möglicherweise ungewollt, einfach mit dem Wörtchen „und“. Danach folgt nichts, kein Komma und kein Punkt. Ein offenes Ende. Ein Text zum Weiterschreiben. Ein Glaube zum Weiterdenken. Eine hermeneutische Aufgabe, die keinen Abschluss kennt. Von Herzen wünsche ich Ihnen, lieber Herr Gräb, dass Sie mit dieser Offenheit in das neue Jahrzehnt Ihres Lebens eintreten. Verstehen Sie den heutigen Tag, mit dem wir Sie ehren, als ein solches verheißungsvolles „und“.