Wo wohnt Gott? Zum Verständnis der Kirchen als Gotteshäuser, in Barth

Hermann Barth

Aus Anlass des 1. Barther Kirchbaufestes

Sehr geehrte Damen und Herren!

Für die Einladung zu diesem Vortrag will ich mich zunächst herzlich bedanken. Es ist schon ein besonderes Gefühl, in eine Stadt zu kommen, auf deren Ortsschildern der eigene Name steht. Man möchte sagen: Das wäre aber nicht nötig gewesen. Doch im Ernst: Heute geht ein Wunsch in Erfüllung, den ich schon lange hege, aber versäumt habe, aus eigener Initiative in die Tat umzusetzen, nämlich die Stadt kennenzulernen, die vermutlich wie ich ihren Namen dem Apostel Bartholomäus verdankt. Als Personenname ist "Barth" stark verbreitet, besonders im Süden Deutschlands, wo ich ursprünglich herkomme. Als Ortsname hingegen gibt es – wenn man sich am Postleitzahlenbuch orientiert – "Barth" nur einmal, eben hier, und das ist ein Grund mehr, dass Barth nach Barth reist. Aber nun zum Thema. Ich habe meinem Vortrag den Titel gegeben: "Wo wohnt Gott? Zum Verständnis der Kirchen als Gotteshäuser".

Die Christen haben Kirchen, die Juden Synagogen, die Muslime Moscheen, die Anhänger des Buddhismus und des Shintoismus Tempel oder Schreine und so fort. Alle Religionen kennen so etwas wie heilige Orte oder Orte des Gebets oder Orte, an denen sich die Gläubigen versammeln. In der Unterschiedlichkeit der Begriffe spiegelt sich die Unterschiedlichkeit ihrer Vorstellungs- oder Glaubenswelt. Das gilt auch für den Begriff "Gotteshaus". Gebräuchlich ist er heutzutage – wenn ich recht informiert bin – nur im Christentum; in einer nicht-theistischen Religion, also einer Religion ohne das Gegenüber eines personalen Gottes, wie dem Buddhismus ist er grundsätzlich gar nicht zu erwarten. Gleichwohl – seine Wurzeln reichen zurück in die Heilige Schrift sowohl des Judentums wie des Christentums; darauf komme ich gleich ausführlicher zurück. Wenn man ihn inhaltlich nicht zu eng fasst, dann kann er durchaus als Oberbegriff für die Gebetsstätten der meisten Religionen durchgehen.

Damit verbindet sich für mich eine Erinnerung meines Vaters, die er immer wieder einmal aufrief und die mich als Heranwachsenden ungemein beeindruckte. Sie bezieht sich auf Vorgänge am 9. und 10. November 1938, also in der sogenannten Reichskristall- oder besser Reichspogromnacht, als in der Zeit der Naziherrschaft zum ersten Mal in organisierter Form jüdisches Eigentum und jüdische Mitbürger angegriffen und viele Synagogen verwüstet oder niedergebrannt wurden. Mutigen Widerstand gegen diese inszenierten Übergriffe gab es so gut wie gar nicht, mutige Worte immerhin einige. Und einem solchen mutigen Widerspruch galt die Erinnerung meines Vaters. In dem Dorf, das dem Ort, an dem ich aufwuchs, benachbart war, wagte es nämlich der evangelische Pfarrer, am Vormittag des 10. November im Religionsunterricht Folgendes zu sagen: "Dass heute nacht die Synagoge angezündet wurde, ist ein Unrecht. Denn auch sie ist ein Gotteshaus." Mit anderen Worten: Ein Gotteshaus ist tabu. Das heißt natürlich nicht: Übergriffe auf andere Ziele sind weniger schlimm. Vielmehr: Was jüdischen Wohnungen, Geschäften und Menschen geschah, war ja schon schlimm genug. Aber wo kommen wir hin, wenn nicht einmal ein Gotteshaus verschont wird? Es gibt Orte und Räume, an denen vergreift man sich in einer zivilisierten Gesellschaft einfach nicht, die haben etwas Unantastbares. Dies immer wieder einzuschärfen tut auch heute not. Wir leben in einem Land, in dem die Anschläge auf jüdische und muslimische Gebetsstätten glücklicherweise selten geworden, jedoch nicht ausgerottet sind. Und vor unserer Haustür, nämlich auf dem Balkan, zuletzt im Kosovo, führen ethnische Kämpfe immer wieder zu gezielten Angriffen auf die Kirchen bzw. die Moscheen – um dem Gegner gewissermaßen zu signalisieren: Wir schrecken vor nichts zurück. Das Nachdenken über das Verständnis der Kirchen als Gotteshäuser hat sehr aktuelle Bezüge.

Ich habe meinen Vortrag in drei Teile gegliedert: In einem I. Teil soll es um die traditionsgeschichtlichen oder religionsgeschichtlichen Wurzeln des Verständnisses der Kirchen als Gotteshäuser gehen. Damit verbunden will ich mich der Frage widmen, in welchem Sinne es, wenn überhaupt, gelten kann, dass Gott in der Kirche "wohnt". In jedem Fall impliziert die Rede von den Kirchen als Gotteshäusern, dass es in der Welt Orte gibt, die durch Gottes Nähe oder Präsenz besonders ausgezeichnet sind. Das führt unmittelbar hinein in den II. Teil. Er beschäftigt sich mit der Frage, ob und inwiefern es möglich ist, die Kirchen als heilige Räume anzusehen. Der Protestantismus hat sich im allgemeinen schwer damit getan, von heiligen Orten oder Räumen zu sprechen. Aber diese Distanz oder sogar regelrechte Berührungsangst gegenüber der Kategorie des Heiligen erweist sich immer stärker als revisionsbedürftig. Der III. Teil hat es schließlich mit der Frage zu tun, wie die Vorstellung von den Kirchen als Gotteshäusern sich baugeschichtlich, also in der Architektur und der Ausstattung der Kirchen niedergeschlagen hat.

I. "Sollte Gott wirklich auf Erden wohnen?"

Diese Überschrift habe ich mir aus der Bibel geborgt, und zwar aus dem Gebet, das König Salomo bei der Einweihung des ersten Jerusalemer Tempels spricht. Die Frage, die er dabei stellt: "Sollte Gott wirklich auf Erden wohnen?", hat noch eine Fortsetzung: "Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?" (1. Könige 8,27) Die Geschichte von der Errichtung des Tempels und speziell das Gebet Salomos sind die biblischen Schlüsseltexte für die Thematik, die im I. Teil meines Vortrags zu verhandeln ist. Ansetzen aber will ich bei einem anderen alttestamentlichen Text, in dem – soweit wir erkennen können – der Begriff "Gotteshaus" das allererste Mal in der Bibel begegnet.

[1.] Ich meine die Erzählung aus dem 1. Buch Mose, in der Jakob von der Himmelsleiter träumt und, als er erwacht, einen Stein zum Gedenken an die ihm zuteilgewordene Erscheinung Gottes errichtet (1. Mose 28,11-19a). Jakob war auf der Flucht vor der Rache seines Bruders Esau

und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen. Und ihm träumte, siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der Herr stand oben darauf und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden ..., und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden ... Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein ... und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf und nannte die Stätte Bethel [das ist: Haus Gottes].

Es sind manche sehr altertümlichen Vorstellungen, die diese Erzählung durchziehen – bis hin zu dem Öl, das über das Steinmal gegossen wird. Aber wir Heutigen sollten uns hüten, hochmütig auf die angebliche Naivität früherer Zeiten herabzuschauen. Wenn es darum geht, das Unsagbare auszusagen, sind uns diese alten Texte immer noch überlegen. Drei Gedanken können wir für unser Thema mitnehmen:

(1) Diese biblische Geschichte rechnet damit, dass es Orte gibt, an denen wir dichter dran sind an Gott als an anderen Orten – Orte, an denen der Himmel gewissermaßen die Erde berührt. Wohlgemerkt: ein irdischer Ort, nicht der Himmel auf Erden, aber immerhin die "Pforte des Himmels". Von da aus lässt sich eine Linie ziehen bis zu Jesus, in dem der Himmel die Erde in einer noch nicht dagewesenen Weise berührt: "Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns" (Johannes 1,14). Die Geschichte nennt das selbst die Begegnung des Menschen mit dem Heiligen.
(2) Wo immer der Mensch dem Heiligen begegnet, löst das Furcht aus: nicht das Zittern vor dem Big Brother, sondern die Ehrfurcht vor dem Erhabenen. Der Religionswissenschaftler Rudolf Otto hat das im 20. Jahrhundert die Begegnung mit dem tremendum et fascinosum, also mit dem, das uns erbeben lässt und fasziniert, genannt. Davon muss auch in unseren Kirchen und Gottesdiensten etwas spürbar werden.
(3) Wer solche Erfahrungen macht, will der Erinnerung daran Haftpunkte geben. Jakob richtet den Stein auf und gibt dem Ort einen neuen Namen.

[2.] Mit diesen drei Gedanken im Gepäck kehren wir zurück zum Gebet Salomos bei der Einweihung des Jerusalemer Tempels (1. Könige 8). Es bewegt sich im Spannungsfeld zwischen drei Aussagen, die man geradezu im Schema von These, Antithese und Synthese lesen kann. These: "Ich habe ein Haus gebaut dir zur Wohnung, eine Stätte, dass du ewiglich da wohnest" (V13). Hier wird die Präsenz Gottes an einem herausgehobenen Ort wie dem Jerusalemer Tempel in ganz und gar menschlichen Farben dargestellt: Es ist, wie wenn er dort wohnte. Er hat dort eine feste Adresse. Freilich trifft man ihn nicht immer an. Antithese: "Sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel ... kann dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun ..?" (V27) Die Schlussfrage ist Ausdruck einer großen Verlegenheit. Denn Gott sprengt jede Festlegung. Dass er im Tempel "wohnt", kann nicht dasselbe meinen, wie wenn Menschen eine Wohnung beziehen. Synthese: "Wende dich zum Gebet deines Knechts und zu seinem Flehen ... Lass deine Augen offen stehen über diesem Hause Tag und Nacht, über der Stätte, von der du gesagt hast: Da soll mein Name sein ... Du wollest erhören das Flehen deines Knechts und deines Volkes Israel ...,  und wenn du es hörst in deiner Wohnung, im Himmel, wollest du gnädig sein" (V28-30). Weil jeder Ort im Himmel und auf Erden zu klein ist, um Gott zu fassen, muss Gottes besondere Nähe zu ihm noch anders beschrieben werden als mit dem Bild des Wohnens. Im Gebet Salomos geschieht dies so, dass das Gebet von diesem Ort aus und der "Name Gottes" ins Spiel kommen. Gott ist an den Ort nicht gebunden, wohl aber mit ihm verbunden.

Auch wir Heutige richten Orte ein, die besonders dem Gebet gewidmet sind – offenbar weil wir die Überzeugung teilen, dass das Gebet in die Nähe Gottes führt. Jeder Gottesdienst ist ein solcher Ort, und wer sich schwer tut mit dem Beten – im Gottesdienst oder in einer schlichten Andacht wird er ins Beten anderer mit hineingenommen. Das ist ja gerade das Geheimnis der Krankenhauskapellen. Ich denke auch an die Gebetswände, auf die im Schutz der Anonymität Dank und Bitten öffentlich werden, oder schlicht daran, dass mehr und mehr Gemeinden ihre Kirchen offen halten und den Kirchenraum als Ort des stillen Gebets und der Meditation anbieten.
 
Und wie steht es mit der Vorstellung, dass, wenn nicht Gott selbst, so doch der "Name" Gottes, gewissermaßen ein Stück Gott, etwas Göttliches, im Gotteshaus "da" ist? Gibt es auch dafür in unserer heutigen Gedankenwelt Parallelen? Man braucht nicht lange zu suchen. Im Sommer verbrachte ich mit meiner Familie den Urlaub in Schottland.  Am Sonntagmorgen nahmen wir in einer kleinen ländlichen Kirche am Gottesdienst teil. Er fing an mit einer Prozession, in der die Bibel auf die Kanzel getragen und aufgeschlagen wurde – ein Ausdruck der Verehrung, die der Bibel als dem Wort Gottes entgegengebracht wird. Und was den Reformierten, ja allen Protestanten die Bibel ist, das ist den Juden die Torarolle und den Katholiken das Tabernakel mit den Hostien – Zeichen der Anwesenheit Gottes an diesem Ort.

II. Brauchen Christen heilige Räume?

Das alte Israel – so viel hat der Blick auf eine der Jakobgeschichten und auf Salomos Gebet gezeigt – hatte einen Sinn für heilige Orte und Räume. Aber was folgt daraus? Geht den Menschen etwas Entscheidendes ab, wenn sie kein Verhältnis zum Heiligen gewinnen? Und mehr noch: Brauchen Christen heilige Räume? Ich beginne mit zwei biographischen Erinnerungen.

Meine Kindheit und Jugend habe ich in einem pfälzischen Dorf zugebracht. Wie die Pfalz insgesamt hat es eine bewegte Territorialgeschichte durchgemacht. Die Herrschaften  wechselten häufig und mit ihnen die Bevorzugung der einen oder der anderen christlichen Konfession. 1723 wurde den Katholiken das alleinige Recht an der Kirche und den Pfarrgütern zugesprochen. Die protestantische Mehrheit des Dorfes wich für ihre Gottesdienste in eine Scheune aus. Über diese Scheunenkirche heißt es in der Ortsgeschichte: Die ganze Einrichtung bestand zunächst aus "einer Notkanzel und ein paar Bänken. Aber die dünnen Lehmwände und das einfach gedeckte Dach schützten die Gemeinde nicht genug vor Wind und Wetter, so dass z.B. im Winter der Wind den Schnee durch das Dach wehte ... 1823 wurde ... der gottesdienstliche Raum durch eine Zwischenwand von der Scheune des Nachbarn getrennt. An dieser Wand wurde eine Empore angebracht und diese mit einer kleinen Orgel versehen, die man gebraucht ... erworben hatte. Schließlich gab ein kleines stumpfes Türmchen auf dem Dach dem Bau auch nach außen das Aussehen eines Kirchleins. Aber man sehnte den Tag herbei, an dem der Gemeinde wieder ein würdiges Gotteshaus zur Verfügung stehen würde." 1834 war das dann der Fall. Die Darstellung in der Ortsgeschichte gibt eine Anschauung davon, unter wie kümmerlichen Umständen die Gemeinde über viele Jahrzehnte ihre Gottesdienste gefeiert hat. So wenig braucht es für einen heiligen Raum! Auch eine zugige, armselige Scheune kann die Funktion eines heiligen Raums übernehmen. Aber zugleich wird deutlich, dass man die kümmerlichen Verhältnisse als unangemessen empfand. Ein heiliger Raum sollte mehr sein als eine Scheune mit ein paar Bänken. Die Bevölkerung des Dorfes bestand aus einfachen Leuten. Die beschriebenen Empfindungen zu einem heiligen Raum sind also nicht eine Frage des kultivierten Geschmacks, sondern Ausdruck eines elementaren Gefühls.

Die andere Erinnerung. Als Theologiestudent habe ich Mitte und Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts schneidig und kompromisslos für multifunktionale Kirchenräume gefochten. Was sei das für eine Verschwendung, beim Neubau von Gemeindezentren einen Kirchenraum vorzusehen, der den allergrößten Teil der Woche unbenutzt bleibt! Von dieser Verirrung wurde ich später gründlich geheilt. Meine Eltern lebten im Ruhestand in einer Gemeinde, deren Gemeindezentrum genau so multifunktional angelegt ist, wie ich es in meinen unreifen Jahren mit Nachdruck gefordert hatte. Jedes Mal, wenn ich meine Eltern am Sonntag besuchte und mit ihnen zum Gottesdienst ging, empfand ich den Raum als ausgesprochen defizitär: ohne Inspiration, ohne Andacht, ohne geistliches Aroma. Es kostete mich Anstrengung, gottesdienstliche Gefühle zu entwickeln. Da stimmte etwas nicht: ordinäres Fensterglas, Stühle wie beim Gemeindefest, eine Beleuchtung wie in einem Vortragssaal. Mit Beschämung und Erschrecken dachte ich an meine eigenen Irrtümer zurück, die freilich nicht allein die meinigen waren, sondern dem Geist der Zeit entsprachen. Heute denkt man anders darüber. Der Protestantismus beginnt, wieder ein Gefühl für den heiligen Raum zu entwickeln. Ja, wir brauchen heilige Räume. Wir können uns zur Not auch anders behelfen. Aber wir  spüren gerade dann, dass uns etwas fehlt.

[1.] Der Protestantismus hat in den vergangenen Jahrhunderten - trotz einiger bemerkenswerter Ausnahmen - im allgemeinen gegenüber dem Heiligen große Fremdheit  gezeigt. Die Gründe sind vielfältig. Eine nicht unerhebliche Rolle spielte die Abgrenzung zur katholischen Frömmigkeit. Seit einiger Zeit zeichnen sich nachhaltige Veränderungen ab. Auf breiter Front findet im Protestantismus eine Wiederentdeckung des Heiligen statt. Es tut diesem Veränderungsprozess gut, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was es mit dem Heiligen auf sich hat und was seine besondere Faszination ausmacht.

"Heiligkeit" und "heilig" gehören nicht zu den Begriffen, die heute Konjunktur haben. Es gibt aber ein paar alltagssprachliche Wendungen, die die Sache erschließen. Da sagt jemand: "Mein Mittagsschlaf ist mir heilig!" Oder da wird ein Mensch, der skrupellos alle Grenzen überschreitet, mit den Worten charakterisiert: "Dem ist nichts heilig." In beiden Fällen wird ein Unterschied gemacht: Es gibt gewöhnliche Dinge in der Welt, und es gibt Dinge und Zeiten und Orte und Handlungen, die das Gewöhnliche sprengen. Und damit sind wir beim Kern dessen, was "Heiligkeit" und "heilig" meinen.

Das Heilige ist das ganz andere. In der Welt ist nicht alles gleich, es ist nicht alles profan, sondern aus dem Meer des Gewöhnlichen und Verfügbaren ragt das Besondere, das Ausgesonderte, das Unberechenbare und Unverfügbare, also das Heilige heraus. Das Heilige führt über die Welt hinaus. Es stört den Lauf der Welt, aber gerade deswegen hat es die Kraft, den Lauf der Welt zu verändern und zu erneuern.

Einer der bedeutendsten Alttestamentler des vergangenen Jahrhunderts, Gerhard von Rad, hat es - religionswissenschaftliche und biblische Einsichten bündelnd - in seiner "Theologie des Alten Testaments" so beschrieben: Das Heilige ist "in keiner Weise von irgendwelchen anderen menschlichen Wertmaßstäben ableitbar. Es ist nicht deren Überhöhung, gesellt sich ihnen auch nicht zusätzlich bei, viel eher könnte man das Heilige als den großen Fremdling in der Welt des Menschen bezeichnen, d.h. als eine Erfahrungswirklichkeit, die sich der dem Menschen vertrauten Welt nie wirklich einordnen lässt und der gegenüber der Mensch zunächst viel eher Furcht als Vertrauen empfindet" (1)

Einem so bestimmten Verständnis des Heiligen steht in der christlichen Welt noch immer die moralisierende Deutung vergangener Epochen im Wege. Heiligkeit wird hier gleichgesetzt mit sittlicher Vollkommenheit. Das Gegenteil von "heilig" ist dann nicht "profan", sondern "böse", nicht die alltägliche Welt, sondern das moralisch angreifbare Verhalten. Im Katechismus für die Pfalz aus dem Jahr 1833, der von Geist und Theologie der Aufklärungszeit geprägt ist, wird auf die Frage: "Was heißt: Gott ist heilig?" geantwortet: "Gott ist selbst vollkommen gut und rein; er liebt und will daher nur das Gute und kann das Böse nie billigen; er hat Wohlgefallen an den guten Menschen, Missfallen an den Bösen." Mit denselben moralischen Kategorien wird auch die "Heiligung" des Menschen definiert. Aber so unerlässlich es ist, die ethischen Konsequenzen aufzuzeigen, die aus dem Achthaben auf das Heilige folgen - ein schon im Ansatz moralisierendes Verständnis steht in der Gefahr, das Heilige bloß in die gängige Moral einzuzeichnen.
Durch die Bibel, vor allem durch das Alte Testament, zieht sich der Gedanke hindurch, dass Gottes Heiligkeit auf die Welt übergreift. "Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott" heißt es in 3. Mose 19,2. Heiligkeit ist nicht die Vergötzung irdischer Dinge, sondern sie ist bestimmt als die Teilhabe und Widerspiegelung der Heiligkeit Gottes selbst. Der Streit um heilige Dinge und Zeiten und Orte und Handlungen ist darum immer ein Streit um das rechte Verständnis Gottes und den rechten Weg zur Erkenntnis Gottes. Die Bibel wird von den Christen Heilige Schrift genannt, weil sie ihnen nicht bloß als Weltliteratur gilt (das auch, so dass sie zu Recht im Feuilleton der Zeitung als "Fortsetzungsroman" abgedruckt und im Hörfunk "am Morgen vorgelesen" werden kann), sondern als Sammlung der Schriften, in denen Gottes Wort zu uns spricht. Das Essen von einem Brot und das Trinken aus einem Kelch wird, wo es der Einsetzung gemäß geschieht, zum Heiligen Abendmahl, weil es nicht um eine gewöhnliche Mahlzeit, sondern um die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch geht. Es ist gemeinsame (!) christliche Überzeugung, dass es Christenmenschen gibt, die aus dem Volk Gottes weit herausragen und darum "Heilige" genannt werden können, und "dass ein Gedenken an die Heiligen öffentlich stattfinden kann, damit wir so wie sie glauben und Gutes tun" (so das evangelische Augsburgische Bekenntnis von 1530 in Art. XXI).
Das Verständnis des Heiligen und der Umgang mit ihm sind in der katholischen und der evangelischen Tradition neben aller Gemeinsamkeit auch charakteristisch unterschieden. Im Blick speziell auf die Verehrung der Heiligen grenzt sich das Augsburgische Bekenntnis von einer Lehre und Praxis ab, durch die es das reformatorische "Christus allein" beeinträchtigt sieht: "Die Schrift lehrt nicht, dass man Heilige anrufen oder von den Heiligen Hilfe erbitten soll. Denn sie stellt uns den einen Christus als Mittler, Versöhner, Priester und Fürsprecher vor Augen. Den soll man anrufen, und er hat verheißen, dass er unsere Bitten erhören werde." Generell wird man die katholisch-evangelische Differenz so beschreiben können: Die Stärke des katholischen Weges besteht darin, die sinnliche, also weltliche Erfahrung Gottes zu erleichtern. Darum werden viele Orte und Zeiten und Dinge angegeben, an denen die Begegnung mit dem Heiligen geschehen kann. Umgekehrt hat der evangelische Weg seine Stärke darin, das "Christus allein", Gottes "Gnade allein", der "Glaube allein" zu betonen. Aller Verwechslung von Gottes Handeln und menschlichem (auch kirchlichem!) Tun soll gewehrt werden. Darum stößt die Tendenz zur Vermehrung heiliger Zeiten, Orten, Dinge und Personen auf Zurückhaltung und Misstrauen. Aber jeder Stärke korrespondiert eine Schwäche. Ohne falsche Harmonisierung wird man sagen dürfen: Der katholische und der evangelische Weg gehören in versöhnter Verschiedenheit zusammen. Sie korrigieren und bereichern sich gegenseitig.

Die Menschen sind in ihrem Verhältnis zum Heiligen einer doppelten Versuchung ausgesetzt: das Heilige nach eigenen Wertmaßstäben zu bestimmen und damit falsche Götter zu verehren oder auf der anderen Seite das, was nach Gottes Willen geheiligt werden soll, zu ihrem eigenen Schaden wieder in das Meer des Gewöhnlichen zurückzunehmen und alles gleich zu behandeln.

Heilig werden, Heiliges tun - das liegt nicht in der Reichweite menschlicher Möglichkeiten. Wenn alle Heiligkeit in der Welt nur aus der Teilhabe an Gottes Heiligkeit oder aus ihrer Widerspiegelung entsteht, dann ist sie den Menschen nur als erbetene und geschenkte zugänglich. Das kommt in einem Gebet Augustins wunderschön zum Ausdruck: "Atme in mir, du heiliger Geist, dass ich Heiliges denke. Treibe mich, du heiliger Geist, dass ich Heiliges tue. Locke mich, du heiliger Geist, dass ich Heiliges liebe. Stärke mich, du heiliger Geist, dass ich Heiliges hüte. Hüte mich, du heiliger Geist, dass ich das Heilige nimmer verliere."

[2.] Alle Heiligkeit in der Welt - so sagte ich - entsteht nur aus der Teilhabe an Gottes Heiligkeit oder aus ihrer Widerspiegelung. Dieser Gedanke macht die Zweifel und Vorbehalte nachvollziehbar, die im Protestantismus über lange Zeit gegenüber der Vorstellung von heiligen Räumen vorgeherrscht habe. Denn besteht bei dieser Vorstellung nicht die Gefahr, dass Menschen fälschlich glauben, das Heilige sei in ihre Hand gegeben und sie besäßen die Verfügungsgewalt über es? Ist es - in der Konsequenz einer solchen Befürchtung - nicht die angemessenere Vorstellung, dass Räume niemals an und für sich das Prädikat "heilig" erhalten können, sondern lediglich durch ihren Gebrauch geheiligt werden?

Um die gestellten Fragen aufzunehmen und zu beantworten, gehe ich einen kleinen Umweg. Ein paralleles Problem stellt sich nämlich im Blick auf heilige Zeiten. Der noch andauernde Streit um den Schutz des Sonntags ist ein lehrreiches Beispiel. Dreh- und Angelpunkt auch der christlichen Sonntagsheiligung ist das alttestamentliche Gebot: "Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest!" Heiligen heißt hier wie sonst: absondern, aus den gewöhnlichen Dingen herausheben. Den Sonntag heiligen bedeutet demnach: ihn von den übrigen sechs Tagen unterscheiden. Ohne Sonntag gibt's nur Werktage. Im Gebot der Feiertagsheiligung geht es der Sache nach um die heilsame Unterbrechung der täglichen Arbeit und Daseinsvorsorge. Die Heiligung des Sonntags, ja schon die bloße Existenz des Sonntags erinnern daran: Der Mensch definiert sich nicht allein über seine Arbeit, der Mensch ist nicht einfach das, was er aus sich macht. Daraus geht deutlich hervor: Wer die Auffassung verträte, die Zeit werde allein durch den Gebrauch geheiligt, der hätte den Sonntag, jedenfalls argumentativ, bereits preisgegeben. Würde die Zeit allein durch den Gebrauch geheiligt, dann bekämen diejenigen recht, die das Gebot der Sonntagsheiligung im Zeichen zunehmender Individualisierung schon dadurch als erfüllt ansehen, dass jeder genügend arbeitsfreie Zeit bekommt und den arbeitsfreien Tag nach eigenem Belieben wählt.

Ich kehre zurück zur Frage nach den heiligen Räumen. Hier nicht anders als bei der Frage nach den heiligen Zeiten ist die Entgegensetzung von vorgegebener Heiligkeit und Heiligung durch Gebrauch eine falsche Alternative. Heiligen heißt: einen Unterschied machen, etwas aus den gewöhnlichen Dingen herausheben. Ich erinnere an die schöne und eindrückliche Formulierung Gerhard von Rads, wonach man das Heilige als den großen Fremdling in der Welt des Menschen bezeichnen könne. Heilige Räume sind in diesem Sinne solche Räume, die ausgesondert, hervorgehoben, beiseitegesetzt sind. Sie haben eine eigene Aura, einen besonderen Geschmack, sie sind anziehend durch ihre Fremdheit, sie sind faszinierend, aber immer auch verunsichernd, vielleicht sogar furchterregend.

Dass der Protestantismus lange Zeit misstrauisch war gegen die von heiligen Räumen ausgehende Faszination, hat sicher auch mit einer einseitigen Betonung der Jesusüberlieferung und der urchristlichen Verhältnisse zu tun. Die biblische Tradition ist aber reicher. In der Jesusüberlieferung, also den Geschichten von dem jüdischen Wanderprediger Jesus und seinen Jüngern, spielen heilige Räume eine völlig untergeordnete Rolle. Wer den Ernst der Nachfolge damit beschreibt, dass 'die Füchse Gruben haben und die Vögel unter dem Himmel Nester, der Menschensohn aber nichts habe, wo er sein Haupt hinlege' (Matthäus 8,20), der hat andere Prioritäten gesetzt, als seinen Nachfolgern den Sinn für heilige Räume zu vermitteln. Aber während Jesus und seine Jünger im Bewusstsein des nahe bevorstehenden Hereinbrechens der Königsherrschaft Gottes lebten - "Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis der Menschensohn kommt" (Matthäus 10,23), -, müssen sich Kirchen und Christen in der Welt einrichten, auch mittels heiliger Räume. Auch die frühen christlichen Gemeinden entwickelten keinen Sinn für heilige Räume, konnten ihn nicht entwickeln. Teils waren sie Gemeinden im Werden, die sich hin und her in den Häusern trafen, teils waren es Gemeinden in Verfolgungssituationen, Untergrundgemeinden, die andere Sorgen hatten als die Einrichtung heiliger Räume. Wer in der Bibel etwas über heilige Räume erfahren will, der muss zu den Teilen des Alten Testaments greifen, die sich auf die kultischen Ordnungen, den Jerusalemer Tempel oder die Vorstellung eines neuen Tempels beziehen, also vor allem zu den Psalmen, den Büchern 2. und 3. Mose und einem Teil der prophetischen Literatur. Der Protestantismus hat bis zum heutigen Tage einen gewissen Nachholbedarf, seine Fremdheitsgefühle gegenüber den dort anzutreffenden prallen und schwelgerischen Schilderungen heiliger Räume zu überwinden, und sich zu öffnen für die sinnliche Seite der Gotteserfahrung: "In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron, und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße, und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens, und das Haus ward voll Rauch" (Jesaja 6,1-4).
In solchen Schilderungen kommt zum Ausdruck, dass Gott - von dem alle Heiligkeit herkommt und abhängig ist - die Erfahrungswirklichkeit der Welt überschreitet. Er ist unberechenbar und unverfügbar. Insofern ist es immer eine lächerliche religiöse Selbstüberschätzung, wenn Menschen fälschlich glauben, Gott stünde ihnen mit heiligen Zeiten oder Orten oder Räumen gewissermaßen zur Verfügung. Ein Gott, dessen sich Menschen mit heiligen Zeiten oder Orten oder Räumen zu bemächtigen wähnen, ist nichts als ein Götze. In dieser Beziehung erweist es sich geradezu als ein kritisches Korrektiv, die Heiligkeit von Räumen zugleich an den entsprechenden Gebrauch zu binden. Kein heiliger Raum - weder der Tempel in Jerusalem, solange er bestand, noch irgendeine Synagoge noch irgendein christlicher Kirchenraum - kann gewährleisten, dass in ihm tatsächlich das Heilige anwesend und erfahrbar ist. Darum das inbrünstige Gebet Augustins, Gott selbst möge uns locken, stärken und hüten, dass wir Heiliges denken, Heiliges tun, Heiliges lieben.

[3.] In jüngerer Zeit gibt es immer wieder Erfahrungen, die auf ein wiedererwachtes Interesse an heiligen Räumen hinweisen. Ich beschränke mich exemplarisch auf die Vorgänge, die im vergangenen Jahrzehnt mehrfach im Zusammenhang von Unglücksfällen, Schreckenserfahrungen und Krieg zu beobachten waren. Ich denke an das ICE-Unglück von Eschede im Jahr 1998, natürlich auch an den Schock des 11. September 2001, hier in Deutschland ebenso wie in den USA, den Amoklauf eines Todesschützen im Gutenberg-Gymnasium in Erfurt am 26. April 2002, zuletzt die Tsunami-Katastrophe am Jahresende 2004. Immer war es so, dass unter dem unmittelbaren Eindruck der Katastrophe, aber nicht minder anderswo Menschen einen Ort brauchten und dann auch aufsuchten, an dem sie ihren Gefühlen der Erschütterung, der Klage und Anklage, der Sehnsucht nach einem Hoffnungsschimmer Ausdruck verleihen konnten. Als solche Orte erwiesen sich wieder und wieder die Kirchen, also die in unserer Kultur vom Christentum geschaffenen und gepflegten heiligen Räume. Dass die Kirchenräume, aber ebenso die in ihnen gefeierten Gottesdienste, die dort begangenen Rituale und die bei diesen Gelegenheiten verwendeten überlieferten Texte zu Orten der Zuflucht, des Trostes und Ermutigung wurden, gilt im übrigen nicht nur für die dem christlichen Glauben verbundenen Menschen, sondern auch - und vielleicht noch mehr - für die kirchenfremden, die "religiös unmusikalischen" Menschen.

In den Medien ist diese Erfahrung häufig berichtet und reflektiert worden. Als Beispiel seien einige Sätze aus der Meldung einer Nachrichtenagentur vom 1. Mai 2002, also wenige Tage nach dem Massaker in Erfurt, zitiert:

Die Erfurter Kirchen, so heißt es dort, erleben "nach den Todesschüssen den größten Zustrom an jungen Menschen seit der Wendezeit. Dabei ist für viele die Atmosphäre eines Kirchenraumes unübersehbar eine neue Erfahrung ... Als Beweggründe nennen sie vor allem die Stille des Ortes, die ihnen angesichts des grausamen Geschehens wichtig ist. Hier könne man selbst zur Besinnung kommen ... 'Wo sonst sollen wir mit unseren Gefühlen hin?', sagt eine Lehrerin, die eine Gruppe jüngerer Schülerinnen und Schüler begleitet."

Es ist vor allem der Satz der Lehrerin, der sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat: "Wo sonst sollen wir mit unseren Gefühlen hin?" Das ist in kürzest möglicher, aber zugleich intensiv verdichteter Form das treibende Motiv für die Wiederentdeckung heiliger Räume. Sie haben eine Kraft, eine Ausstrahlungs- und Anziehungskraft, die in unserer Lebenswelt nicht ihresgleichen hat.

Der Verweis auf die Erfahrungen, die im Zusammenhang von Unglücksfällen und Katastrophen gemacht werden, könnte den Eindruck hervorrufen, die Kirchen machten sich hierbei zu "Profiteuren" des Schreckens. Um so mehr kommt es darauf an, sich zu vergegenwärtigen, dass dieselben Erfahrungen - wenngleich naturgemäß nur auf kleinerer Flamme - nicht nur in Extremsituationen, sondern auch unter "normalen" Bedingungen gemacht werden können. Das zeigt sich beispielsweise an dem ungebremsten, ja wachsenden Interesse an offenen Kirchen, an der großen Nachfrage nach pädagogisch gut konzipierten Kirchenführungen oder an der Resonanz, die das Angebot von stiller Zeit, Retraiten oder Meditationswochenenden in Klöstern findet.

Ich schließe diesen Teil meines Vortrags ab mit einer respektvollen Verbeugung vor Fulbert Steffensky. Er ist unter den zeitgenössischen Theologen derjenige, bei dem man am meisten über heilige Räume lernen kann. 2002 hat er beim Evangelischen Kirchbautag in Leipzig ein Referat gehalten unter dem Titel: "Der heilige Raum, der die Sehnsucht birgt"(2). Ich zitiere eine kurze Passage:

"Der heilige Raum ist der fremde Raum, nur in der Fremde kann ich mich erkennen. Der Raum erbaut mich, insofern er anders ist als die Räume, in denen ich wohne, arbeite und esse. Ich kann mich nicht erkennen, ich kann mir selbst nicht gegenübertreten, wenn ich nur in Räumen und Atmosphären lebe, die durch mich selbst geprägt sind, die mir allzu sehr gleichen und die mich wiederholen. Die Räume, die mich spiegeln - das Wohnzimmer, das Arbeitszimmer -, gleichen mir zu sehr. Der fremde Raum ruft mir zu: Halt! Unterbrich dich! Befreie dich von deinen Wiederholungen! Er bietet mir eine Andersheit, die mich heilt, gerade weil sie mich nicht wiederholt, sondern mich von mir wegführt. Kirchen heilen, insofern sie nicht sind wie wir selber."

III. Worin zeigt sich die Andersheit der Gotteshäuser?

[1.] Ich frage nach all dem Gesagten erst gar nicht, ob Gotteshäuser anders sind und anders sein sollen. Ich frage vielmehr sofort, worin sich ihre Andersheit zeigt, und fange zur Abwechslung nicht vorn, bei ihrer Errichtung, sondern hinten, bei ihrem Sekundärgebrauch im Falle einer Entwidmung an. Denn an den Schwierigkeiten, die dabei auftreten, lässt sich, gewissermaßen ein letztes Mal, ablesen, dass Gotteshäuser - gemäß der Beschreibung des Heiligen durch Gerhard von Rad – "der große Fremdling in der Welt des Menschen" sind. Sicher gibt es sekundäre Nutzungen, die kein Störgefühl auslösen – ich denke an meinen Lieblingskonzertsaal in Edinburgh: Queen's Hall, ehedem ein Kirchenraum. Aber bei manchen Sekundärnutzungsideen überkommt einen intuitiv ein Unbehagen oder ein Abwehrreflex, weil - ich beschränke mich auf zwei Beispiele – Kirche und Supermarkt oder Kirche und Disco einfach nicht zusammenpassen. Einfach? Wohl dem Land und den Menschen, die sich dafür noch ein Gespür bewahrt haben!

Ich füge an dieser Stelle noch zwei Konstellationen an, die ebenfalls nur verständlich werden, wenn das Kirchengebäude in seiner Andersheit einen Respekt besonderer Art genießt: Ich meine zum einen die jedenfalls in Deutschland immer noch starke Zurückhaltung, sich von einer Kirche zu trennen, und zum anderen das bemerkenswerte Phänomen, dass in Ostdeutschland die Erhaltung vieler Kirchen vor allem deshalb gelingt, weil sich nicht nur  Kirchenmitglieder, sondern auch Nichtkirchenmitglieder – und das heißt dann in vielen Fällen: Ausgetretene – engagieren. Ein Kirchengebäude ist eben kein gewöhnliches Haus, das man aufgrund einer kühlen Rechnung aufgibt. Vielmehr hängen Erinnerungen daran, eigene oder solche der Familie, und auf dem Land sind es weithin immer noch die Kirchen und die Kirchtürme, die dem Dorf seine charakteristische Ansicht und damit seine Identität geben. Aber es wäre eine Engführung, nur von den kleinen Dorfkirchen zu sprechen. Die Idee, die Dresdner Frauenkirche wieder aufzubauen, schlug ja nur deshalb so ein, weil es neben den Großspenden etwa aus der Wirtschaft unzählige große, mittlere und kleine Spenderinnen und Spender gab, die aus einer persönlichen Beziehung heraus den Traum mitträumten, sogar ein solches Riesenprojekt stemmen zu können und das in der Erinnerung aufbewahrte Bild Dresdens vor dem Feuersturm des 13. und 14. Februar 1945 wiederherzustellen.

[2.] Aber die Andersheit einer Kirche macht sich - genauso oder sogar noch markanter - schon am Anfang ihrer Geschichte, das heißt: bei ihrer Errichtung, bemerkbar. Besonders augenfällig ist das bei den großen Domen und Kathedralen in der Zeit der Romanik und der Gotik. Keine mittelalterliche Stadt beherbergte ein Gebäude, das – wenn es dort einen Dom oder eine Kathedrale gab – ihnen an Bauvolumen, künstlerischem Aufwand oder Bauzeit gleichkam. Vor 35 Jahren erschien von David Macaulay das wunderbare Kinderbuch "Cathedral: The Story of Its Construction", das dann ein Jahr später in der deutschen Ausgabe den Titel "Sie bauten eine Kathedrale"(3)  bekam. 86 Jahre dauert es in Macaulay's fiktiver Geschichte, bis die Kathedrale vollendet ist, und der Bau kann nur gelingen als ein gigantisches Gemeinschaftswerk: drei Generationen umspannend, in den religiösen Beweggründen verbunden, die Dienste vieler einheimischer und fremder Handwerker in Anspruch nehmend.

Nicht ganz so edel, aber unter Menschen um so wirkungsvoller waren Motive des Wettstreits. Bei Macaulay liest sich das so: "Im nahen Amiens, in Beauvais und Rouen wurden ebenfalls neue Kathedralen gebaut", da wollte man sich nicht lumpen lassen und "nicht hinter den anderen zurückstehen, im Himmel noch weniger als auf Erden ... Zur Ehre und zum Lob Gottes sollte die höchste und die schönste, die längste und die breiteste Kathedrale in ganz Frankreich errichtet werden." Der Einfluss, den der Wettbewerb um diese besondere Art des altius, citius, fortius, also des "höher, schneller, kraftvoller", auf den Kirchenbau gehabt hat, kann im übrigen weit über das Mittelalter hinaus, vor allem im Nebeneinander von evangelisch und katholisch, gar nicht überschätzt werden.

[3.] Dass Gotteshäuser keine gewöhnlichen Häuser sind, sondern sich aus dem Meer des Gewöhnlichen herausheben, findet seinen Ausdruck natürlich insbesondere in zahlreichen Details ihres Bauplans und ihrer Ausstattung. Das gilt gerade für die Kirchengebäude, die aus einer Zeit stammen, in der für den Kirchenbau die renommiertesten Baumeister und Handwerker gewonnen wurden; das Beste war für den Bau herausragender Kirchen gerade gut genug, und die Bautraditionen, die sich auf dieser Grundlage bildeten, beeinflussten den gesamten Kirchenbau. In neuerer Zeit kann nicht mehr davon die Rede sein, dass die renommiertesten Architekten und Firmen mit kirchlichen Bauaufträgen ausgestattet werden; das Neubauvolumen ist bescheiden. Die reizvollen Großaufträge kommen heute von der öffentlichen Hand für den Reichstag oder den Hauptbahnhof in Berlin oder von der Wirtschaft für kühne Produktionsstätten oder repräsentative Firmenzentralen. Darum spricht man auch gern von den Hauptbahnhöfen oder von den großen Museen als den Kathedralen der Gegenwart.

Der Blick auf die Kathedralen und Kirchen der Vergangenheit kann selbstredend nur in Auswahl geschehen. Der Reichtum ihrer im Bauplan sowie in Stein und Holz und Glas untergebrachten Leitgedanken ist so riesig, dass Kirchenführung eine Renaissance erlebt und Kirchenpädagogik neu entwickelt worden ist. Ich beschränke mich hier auf drei Beispiele:

  • Eines der charakteristischsten Merkmale der herkömmlichen Kirchenbauten sind der oder die Türme. Sie betonen die Vertikale, das heißt: neben dem horizontalen Geschehen der Versammlung der Gemeinde die Priorität des vertikalen Geschehens zwischen Gott und Mensch.
  • Vielen evangelischen Kirchen ist es in der Anlage des Kirchenraumes gemeinsam, dass Altar, Orgel und Kanzel an der Stirnseite übereinander angeordnet sind. Darin kommt zum Ausdruck. In allem, was in diesem Raum geschieht: am Altar, beim Gesang der Gemeinde und in der Predigt, geht es um das Lautwerden und Sichtbarwerden des Wortes Gottes. Dafür ist das Kirchengebäude da: dass das Wort Gottes bei uns Menschen Glauben schafft.
  • Die Kirchenbauten, die Bauteile aus bis zu 900 Jahren einschließen, liefern eine lebendige Anschauung von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Glaubensfragen. So finden sich an der Westwand von Kirchengebäuden, die bis ins Mittelalter zurückreichen, nicht selten apotropäische Figuren. Darunter versteht man Figuren, die die Dämonen, die aus dem Westen, der Nacht, der Finsternis kommen, abwehren und fernhalten sollen. Das ist offenkundig ihr ursprünglicher Sinn. Ob er von den Menschen - sagen wir – des 18. und des 19. Jahrhunderts noch geteilt wurde, ist ungewiss. Aber die Figuren blieben erhalten. So ist es auch mit dem Glaubenserbe. Alte Bestände sollen nicht eliminiert, sie sollen neu interpretiert und angeeignet werden.

[4.]  Wer bei seinem Urteil über die Moderne dem gängigen Klischee folgt, Moderne und Säkularisierung sei ein und dasselbe, der traut modernen Kirchen nicht zu, die Erfahrung heiliger Räume möglich zu machen. Wie so häufig führt das Klischee aber in die Irre. "Gottes neue Häuser"(4) können sehr wohl eine Transzendenz-Erfahrung vermitteln. Gerade in den letzten Tagen las ich einen faszinierenden Bericht über die im Jahr 2000 fertiggestellte Kirche in Berlin-Wartenberg, den ich in Auszügen wiedergebe:

"Wer vom Foyer aus den Kirchenraum betritt, wird von hohen weißen Wänden umgeben. Stille kehrt ein. Der Blick fällt auf ein filigranes Eisenkreuz hinter dem Altar und wandert nach oben. Die Decke scheint über dem Gottesdienstraum zu schweben – ein umlaufendes Fensterband setzt die Konstruktion von den Wänden ab. 'Der Raum hebt den Blick, und er hebt das Herz ... Wenn wir eine Kirche betreten, spüren wir, dass das, was unsichtbar ist, nicht alles ist ... Der Raum ermöglicht uns eine Transzendenz-Erfahrung. Wir erleben im Endlichen die Anschauung des Unendlichen' ... Um den beschriebenen Effekt zu erzeugen, greifen Architekten zu Mitteln, die sich über Jahrhunderte bewährt haben. Eines davon ist, den Raum durch seine Größe oder Form endlos erscheinen zu lassen. Zu diesem Zweck sind die himmelwärts in Unendliche führenden gotischen Säulen und Bögen erdacht worden. In der Kirche von Wartenberg ist es hingegen die Form der offenen Parabel, die dem Kirchenraum seine entgrenzende Wirkung verleiht"(5).

Ich schließe mit einem kleinen Werbeblock und weise hin auf die  KiBa. Hinter dieser Abkürzung verbirgt sich die Stiftung zur Bewahrung kirchlicher Baudenkmäler in Deutschland. Allzu viel brauche ich gar nicht auszuführen. Denn die hiesige St. Marien-Kirchgemeinde nimmt derzeit an der KiBa-Aktion AUS 2 MACH 3 teil. Seit ihrer Errichtung im Jahr 1997 hat die Stiftung über 590 Sanierungsvorhaben mit einem Gesamtaufwand von mehr als 17,25 Millionen Euro gefördert. Ihr Leitwort heißt: "Bewahren Sie mit uns ein Stück Heimat." Der Einsatz für die Rettung der Kirchen lohnt sich. Jede der "Schönheiten vom Lande", wie wir die architektonisch und kunsthistorisch oft bedeutsamen Dorfkirchen  nennen können, ist einzigartig. Sie sollen noch lange das Gesicht unserer Kulturlandschaft prägen.

Fußnoten:

1 G.v.R., Theologie des Alten Testaments, Bd. I, 5., durchgesehene Aufl., München 1962, S. 216ff (Zitat: 218).

2 F.S., Der heilige Raum, der die Sehnsucht birgt, in: Sehnsucht nach heiligen Räumen. Berichte und Ergebnisse des 24. Evangelischen Kirchbautages, hg. v. H. Adolphsen und A. Nahr, Darmstadt 2003, S. 81-94 (Zitat: 87).

3 D.M., Sie  bauten eine Kathedrale, 6. Aufl., Zürich und München 1977.

4 Das ist der Titel eines von M. Ludwig und R. Mawick herausgegebenen Bandes über "Kirchenbau des 21. Jahrhunderts in Deutschland": edition chrismon, Frankfurt am Main 2007.

5 U. Hanselmann, Kirchenraum zwischen Plattenbauten, in: Evangelischer Kirchenbote. Sonntagsblatt für die Pfalz, Nr. 36 zum 7. September 2008, S. 6; vgl. auch: Gottes neue Häuser, S. 30ff.