Predigt über Psalm 92 in der Reihe der Nikolausberger Psalmenpredigten, Göttingen
Hermann Barth
(2) Das ist ein köstlich Ding, dem Herrn danken
und lobsingen deinem Namen, du Höchster,
(3) des Morgens deine Gnade
und des Nachts deine Wahrheit verkündigen
(4) auf dem Psalter mit zehn Saiten,
mit Spielen auf der Harfe.
(5) Denn, Herr, du lässest mich fröhlich singen von deinen Werken,
und ich rühme die Taten deiner Hände.
(6) Herr, wie sind deine Werke so groß!
Deine Gedanken sind sehr tief.
(7) Ein Törichter glaubt das nicht,
und ein Narr begreift es nicht.
(8) Die Gottlosen grünen wie das Gras, und die Übeltäter blühen alle –
nur um vertilgt zu werden für immer!
(9) Aber du, Herr, bist der Höchste
und bleibest ewiglich.
(10) Denn siehe, deine Feinde, Herr, siehe, deine Feinde werden umkommen,
und alle Übeltäter sollen zerstreut werden.
(11) Aber mich machst du stark wie den Wildstier
und salbst mich mit frischem Öl.
(12) Mit Freude sieht mein Auge auf meine Feinde herab
und hört mein Ohr von den Boshaften, die sich gegen mich erheben.
(13) Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum,
er wird wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon.
(14) Die gepflanzt sind im Hause des Herrn,
werden in den Vorhöfen unsres Gottes grünen.
(15) Und wenn sie auch alt werden,
werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein,
(16) dass sie verkündigen, wie der Herr es recht macht;
er ist mein Fels und kein Unrecht ist an ihm.
Herr, heilige mich in deiner Wahrheit. Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.
Liebe Gemeinde!
I.
Es war auf den Tag und die Stunde genau vor drei Wochen. Nur nicht hier in Göttingen-Nikolausberg, sondern im Gottesdienst meiner Heimatgemeinde in Hannover-Döhren. An der Liedtafel war angeschlagen: 302,1-2+7 – "Du, meine Seele, singe", eines dieser wunderbaren Paul-Gerhardt-Lieder, seine dichterische Fassung von Psalm 146. Die Verse 1 und 2 kann ich auswendig:
"Du, meine Seele, singe, wohlauf und singe schön
dem, welchem alle Dinge zu Dienst und Willen stehn ...
Wohl dem, der einzig schauet nach Jakobs Gott und Heil!
Wer dem sich anvertrauet, der hat das beste Teil,
das höchste Gut erlesen ..."
Für Vers 7 brauchte ich das Gesangbuch:
"Er ist der Fremden Hütte, die Waisen nimmt er an,
erfüllt der Witwen Bitte, wird selbst ihr Trost und Mann.
Die aber, die ihn hassen, bezahlet er mit Grimm,
ihr Haus und wo sie saßen, das wirft er um und um."
Als der letzte Ton verklungen ist, erhebt sich unser Pastor, wendet sich zur Gemeinde und macht folgende Ansage: "Es tut mir leid, ich habe mich beim Aufschreiben der Verse vertan, Vers 7 wollte ich gar nicht singen lassen, sondern natürlich Vers 8. Und den" – so schloss er und setzte sich wieder – "singen wir jetzt auch noch." Und so geschah es.
Während der Schlussvers gesungen wurde, begann eine Frage in meinem Hirn zu kreisen. Was hat mein geschätzter Ortspastor gegen Vers 7? Die Antwort ist nicht schwer, und dessen, dass meine Antwort ins Schwarze trifft, habe ich mich in einem kleinen Gottesdienstnachgespräch vergewissert: Mein Pastor tut sich schwer mit der zweiten Hälfte:
"Die aber, die Gott hassen, bezahlet er mit Grimm,
ihr Haus und wo sie saßen, das wirft er um und um."
Der Psalm, der heute Grundlage und Gegenstand der Predigt ist, hat ähnliche Aussagen zu bieten, und das gleich mehrfach:
"Die Gottlosen grünen wie das Gras, und die Übeltäter blühen alle -
nur um vertilgt zu werden für immer ...
Siehe, deine Feinde, Herr, siehe, deine Feinde werden umkommen,
und alle Übeltäter sollen zerstreut werden ..."
Es würde mich sehr wundern, wenn nicht manche, wahrscheinlich sogar viele von uns bei diesen Aussagen einen inneren Widerstand, wenigstens ein leises Unbehagen empfinden. Was ist es eigentlich, das diese Distanznahme auslöst? Was ist die Ursache des Störgefühls? Ich vermute: Wir kriegen diese Aussagen nicht zusammen mit unserem Bild, unserem Verständnis von Gott. Wir empfinden: Das passt nicht zusammen – das Vertrauen auf die grenzenlose Güte und Barmherzigkeit Gottes und die Vorstellung, er könne den Hass der Gottesverächter mit Grimm heimzahlen. Vielleicht gibt es auch den einen oder die andere, die den Gegensatz verrechnen auf den Unterschied zwischen altestamentlichem – häufig wird an dieser Stelle gesagt: alttestamentarischem, das ist ganz was Schlimmes – und neutestamentlichem Denken.
Mir ist diese Empfindung nur allzu verständlich, aber sie schüttet das Kind mit dem Bade aus. Ja, mehr noch: Das Bild von einem lieben Gott, der nur Streicheleinheiten verteilt, stimmt mit dem biblischen Zeugnis, dem Zeugnis des Alten wie des Neuen Testaments, von Gott nicht überein. "Irret euch nicht", schreibt der Apostel Paulus, "Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten" (Galater 6,7).
II.
Der Mensch wird ernten, was er gesät hat. Psalm 92 entfaltet das nach beiden Seiten, nach der Seite der Gerechten ebenso wie nach der Seite der Übeltäter:
"Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum,
er wird wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon.
Die gepflanzt sind im Hause des Herrn,
werden in den Vorhöfen unsres Gottes grünen."
Darin und dahinter steckt die tiefe Überzeugung: Wie es dem Menschen ergeht – dem einzelnen so gut wie ganzen Völkern und Weltregionen - , das verdankt sich nicht dem bloßen Zufall. Vielmehr besteht zwischen dem Tun und dem Ergehen ein Wirkungszusammenhang. Zu allen Zeiten haben sich Menschen darum bemüht, diesem Zusammenhang nachzuspüren, ihre Erkenntnis in Erfahrungssätzen festzuhalten und sie an andere, vor allem in der Erziehung, weiterzugeben. Nicht wenige dieser Erfahrungssätze sind in das Sprichwortgut eingegangen: Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein (vgl. Sprüche 26,27). Oder: "Wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um" (Jesus Sirach 3,27). Wenn die Sprichwörter banal klingen, dann doch nur deswegen, weil wir uns an sie als eine Selbstverständlichkeit gewöhnt haben. Aber hinter dem falschen Schein der Selbstverständlichkeit steckt ein staunenswerter Tatbestand: Die Welt ist nicht einfach ein unerklärliches Widerfahrnis. Im Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen sind wir einem Ordnungsprinzip der Welt auf der Spur. Die Sprichwörter fassen zusammen, wie die Welt "tickt". Wenn es mit rechten Dingen zugeht, also wenn die Welt nicht in Unordnung geraten ist, dann können wir uns darauf verlassen: "Die Hand drauf: Der Böse bleibt nicht ungestraft; aber der Gerechten Geschlecht wird errettet werden" (Sprüche 11,21).
Man darf nicht verkennen, dass ein Erfahrungssatz wie dieser eine geradezu seelsorgerliche Funktion ausübt. Denn er kann Menschen aufrichten, die am Erfolg der Bösen irre zu werden drohen oder unter ihrer Herrschaft zu leiden haben. Er kann die Gewissheit stark machen: Auch diese Bäume werden nicht in den Himmel wachsen. Warum ist es beispielsweise für Angehörige der Opfer eines Gewaltverbrechens so wichtig, dass der Täter gefasst und verurteilt wird und seine Strafe abbüßen muss? Warum nehmen wir es mit Befriedigung auf, wenn der Schwindel und die Veruntreuung eines Wirtschaftsstraftäters auffliegen und ihm der Prozess gemacht wird? Man könnte noch viele andere Beispiele danebenstellen – immer geht es um denselben Effekt: Unser Gerechtigkeitsempfinden wird unterhöhlt, wenn die böse Tat folgenlos, sanktionslos bleibt. Das Gerechtigkeitsempfinden verlangt in einem solchen Fall nach Genugtuung.
Ist das gesagt, muss freilich auch das andere gesagt werden: Diese Rechnungen gehen nicht glatt auf. Das Menschenleben und das Weltgeschehen sind kein Mechanismus, den wir berechnen könnten. Wer die Erfahrungssätze für Gesetzmäßigkeiten hält, wird selbst am Leben und an Gott irre und produziert bei anderen Enttäuschung und Verzweiflung. Es geht – Gott sei's geklagt – nicht immer gerecht zu in der Welt. Der Gang der Welt und gerade auch Gottes Handeln haben dunkle, undurchdringliche Seiten. Sie lassen sich nicht bewältigen, wenn wir die störenden Gegenerfahrungen wegerklären oder mit Gewalt in das System unserer Überzeugungen einpassen. Wir können nur versuchen, ihnen selbst im Maß der menschlichen Kräfte standzuhalten und denen, die davon umgetrieben und angefochten werden, beizustehen.
III.
Von dem Zweifel und der Anfechtung eines Hiob ist Psalm 92 weit weg. Die Gegenerfahrungen finden allenfalls dort ein leises Echo, wo von den Toren und Narren die Rede ist; sie lassen sich von den Gegenerfahrungen irre machen; ihnen fehlt der lange Atem, um zur Wahrheit durchzudringen:
"Herr, wie sind deine Werke so groß!
Deine Gedanken sind sehr tief.
Ein Törichter glaubt das nicht,
und ein Narr begreift es nicht."
Insgesamt genommen repräsentiert Psalm 92 ein ungebrochenes Vertrauen darauf, dass es letztlich gerecht zugeht in der Welt und Gottes Treue zu denen, die sich zu ihm halten, unerschütterlich feststeht. Der idealtypische Beter von Psalm 92 ist einer von denen, die
"verkünden, wie der Herr es recht macht;
er ist mein Fels und kein Unrecht ist an ihm".
Wer in dieser Gewissheit lebt, für den ist es wahrlich "ein köstlich Ding, dem Herrn danken und lobsingen deinem Namen, du Höchster, des Morgens deine Güte und des Nachts deine Treue verkündigen". In dem Lied von Ludwig Helmbold, das wir vor der Predigt gesungen haben, klingt das noch nach: Aus dem "köstlich Ding", Gott zu danken und zu loben, wird die "sel'ge Stunde": "Lobt ihn mit Herz und Munde, welchs er uns beides schenkt. Das ist ein sel'ge Stunde, darin man sein gedenkt; denn sonst verdirbt all Zeit, die wir zubring'n auf Erden ...". Was für ein Lob des Gotteslobs! Ohne dass wir Gott mit Herz und Mund loben, verdirbt unsre Lebenszeit. Wir leben nicht, wenn wir nicht loben. Kein Leben ohne Loben!
Eine Kleinigkeit in den Anfangsversen des Psalms soll nicht übergangen werden: der gleitende Übergang von der Rede über Gott zur Anrede an Gott. Fast unmerklich gehen Aussage über Gott und Gebetsanrede ineinander über: "Das ist ein köstlich Ding, dem Herrn danken und lobsingen deinem Namen, du Höchster". Wir unterscheiden heutzutage scharf zwischen Gebet und Verkündigung: entweder das eine oder das andere. In vielen Psalmen sind die Grenzen fließend. Beten ist kein Sonderbezirk unsres Redens, sondern nur ein Perspektivwechsel.
IV.
Psalm 92 ist vielfach, natürlich vor allem in der reformierten Tradition, in Liedform gebracht worden. Nachdem das alte EKG davon gar keines aufgenommen hatte, enthält das neue EG gleich zwei. Das jüngere davon, dessen rhythmusbetonte Melodie von dem badischen Kantor Rolf Schweizer stammt, werden wir gleich als Lied nach der Predigt singen. Sein Text erinnert noch einmal an die kleine Gottesdienstszene, die ich eingangs geschildert habe. Während mein Pastor in Hannover das von ihm empfundene Problem am liebsten durch Auslassen des textlich unbehaglichen Verses gelöst hätte, geht Rolf Schweizer einen radikaleren Weg: Er lässt die störenden Aussagen aus seiner Nachdichtung einfach ganz heraus, da kann man sich nicht einmal mehr bei der Versauswahl vertun. Mit dem anderen Lied des EG zu Psalm 92 käme man übrigens vom Regen in die Traufe: Auch da ist ganze Arbeit geleistet worden. Nichts erinnert mehr an die Aussagen über das schmähliche Ende der Übeltäter. Anders ist es bei den Liedern über Psalm 92 aus der reformierten Tradition, z.B. von dem niederrheinischen Matthias Jorissen aus dem 18. Jahrhundert. Aber davon steht keines im Stammteil des EG.
Deutlicher kann es nicht mehr werden, dass die christliche Gemeinde von heute ein Problem hat mit dem biblischen Gedanken, wonach der Böse nicht ungestraft bleibt. Hier wie auch sonst im Umgang mit der Bibel gilt aber die Regel. Nicht eliminieren, sondern interpretieren. Nicht weg damit, sondern ihm einen guten Sinn abgewinnen. Nicht aus den Augen, aus dem Sinn, sondern der Bibel mehr zutrauen als unserem zeitgebundenen Störgefühl. Denn:
Herr, heilige uns in deiner Wahrheit. Dein Wort ist die Wahrheit.
Amen.