Unmittelbar vor ihrem fünfzigjährigen Jubiläum, das wir am Ersten Advent begehen werden, wird die Aktion „Brot für die Welt“ mit dem Europäischen Kulturpreis ausgezeichnet.
Das Ziel von „Brot für die Welt“ ist es, Ursachen der Armut zu bekämpfen, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten und damit zum Aufbau einer gerechteren Welt beizutragen; dafür wird in einer großen Breite die Hilfsbereitschaft in unserem Land in Anspruch genommen. Für viele sind „Brot für die Welt“ und das Weihnachtsfest besonders eng verbunden. Man kann sich nicht über die Weihnachtsgaben freuen, ohne mit Menschen in Not zu teilen. Für diesen Geist der Nächstenliebe steht Brot für die Welt. Dass dieser Geist ausgezeichnet wird, freut mich sehr. Das ist in einer Zeit, in der sich kalter Egoismus bedrohlich ausgebreitet hat, ein gutes Zeichen. Ein gutes Zeichen auch deshalb, weil wir gerade in diesen Tagen spüren, dass pure Eigensucht kein zukunftsfähiges Lebensmodell ist. In vielen Hinsichten kommt diese Auszeichnung zur rechten Zeit. Ich gratuliere dazu herzlich.
Das Engagement der evangelischen Aktion „Brot für die Welt“ gründet in der Mitte des christlichen Glaubens und ist in der Mitte evangelischer Kirchengemeinden fest verankert. Nicht nur der Kollektenaufruf in der Advents- und Weihnachtszeit, sondern zahlreiche weitere Spendenaktionen, Basare und Vortragsveranstaltungen haben einen festen Platz im Gemeindeleben. Durch die Aktion „Brot für die Welt“ werden die Ursachen von Armut und Ungerechtigkeit in einer breiten Öffentlichkeit erfolgreich thematisiert. 1,8 Milliarden Euro hat „Brot für die Welt“ in seiner fünfzigjährigen Geschichte einnehmen können.
Den Gründungsimpuls bildete das Elend, das die vormaligen Kolonialherren beispielsweise in Indien und in Afrika zurückgelassen hatten. Darauf antwortete der Aufruf „Menschen hungern nach Brot“; er markiert den Beginn einer engagierten Auseinandersetzung mit der Frage, wie christliche Nächstenliebe partnerschaftlich und unabhängig von wirtschaftlichen oder politischen Eigeninteressen in die Welt getragen werden kann. Seitdem ist uns bewusst, dass der Impuls christlicher Nächstenliebe, also der Impuls diakonischen Handelns nicht nur im eigenen Land Fuß fassen muss, sondern die Grenzen von Ländern und Kontinenten überschreitet. Wir wissen uns verpflichtet zu weltweiter Diakonie ebenso wie zur Diakonie im eigenen Land. Im einen wie im andern Fall ist die Überzeugung leitend, dass Nächstenliebe sich ebenso darin zeigt, dass Gerechtigkeit eingefordert und verwirklicht wird, wie darin, dass wir uns barmherzig dem hilfsbedürftigen Nächsten unmittelbar zuwenden. Durch Gerechtigkeit wie durch Barmherzigkeit soll Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden. „Helfen, sich selbst zu helfen“ – so formulierte Bischof Otto Dibelius bereits im Dezember 1959 einen entscheidenden Grundsatz der Arbeit von „Brot für die Welt“; er gilt bis heute.
„Menschen hungern nach Brot“ – dieser Gründungsimpuls war zugleich der Beginn eines Nachdenkens über die Verantwortung der Industrienationen für die Lage in den sogenannten ‚Entwicklungsländer’. Von der „Entwicklungshilfe“ zur „Entwicklungszusammenarbeit“: schon in dieser begrifflichen Veränderung zeigt sich ein Klärungsprozess, der durch „Brot für die Welt“ ebenso angestoßen wurde wie durch die Bildungsinitiativen und die Öffentlichkeitsarbeit des Kirchlichen Entwicklungsdiensts, der zehn Jahre später ins Leben trat; vor wenigen Tagen haben wir seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert. Akute Not zu lindern, aber zugleich die Wurzeln dieser Not wahrzunehmen und im Blick auf diese Wurzeln Veränderungen zu bewirken sowie partnerschaftlich Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten – auf dieses Konzept baut „Brot für die Welt“ nach wie vor.
In der Zeit der deutschen Teilung war „Brot für die Welt“ eine bemerkenswerte gesamtdeutsche Gemeinschaftsaktion. Sie grenzte gerade angesichts der sich verhärtenden politischen Fronten zwischen Ost und West an ein Wunder. Dass wieder zusammenwachsen konnte, was zusammengehört, haben wir nach 1990 an der Aktion „Brot für die Welt“ besonders dankbar erlebt. Aber ebenso wie alle evangelischen Landeskirchen beteiligen sich auch die evangelischen Freikirchen an dieser Initiative. Der breite Konsens unter den evangelischen Christen in Deutschland wie die tiefgehende ökumenische Übereinstimmung in solchen Fragen sind ein kostbarer Schatz.
In der Aktion „Brot für die Welt“ kam von Anfang an auch die Dankbarkeit dafür zum Ausdruck, dass Deutschland selbst in schwierigster Zeit selbstlose Hilfe aus der ökumenischen Gemeinschaft der Kirchen empfangen hatte. Hier in Stuttgart kam das in Gang; die „Stuttgarter Schulderklärung“ vom Oktober 1945 ebnete dem die Bahn. Der Strom der Hilfe, der danach unter Eugen Gerstenmaiers Leitung im Evangelischen Hilfswerk kanalisiert wurde, ist legendär. Nach dem von Deutschland zu verantwortenden Weltkrieg und angesichts der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen war dies alles andere als selbstverständlich. Es rief nach einer Antwort. Schon bald bildete sich im Hilfswerk eine eigenständige Abteilung, die sich der Hilfe für andere zuwandte. Daraus entstand die Diakonie Katastrophenhilfe, die heute unter dem Dach der Ökumenischen Diakonie im Diakonischen Werk der EKD als Schwesterorganisation von „Brot für die Welt“ arbeitet.
„Wir wollen helfen!“ So hieß es 1959. Hatte man zunächst Hilfe empfangen, so wollte man nun selbst aktiv helfen. „Da stehen die Tonnen“, beschwor Bischof Dibelius seine Zuhörerinnen und Zuhörer: „Vor zwölf Jahren ist darin Milchpulver für hungernde Berliner aus Amerika gekommen. Jetzt haben wir aus Dankbarkeit dafür, dass uns geholfen worden ist, unser Dankopfer hineingeschüttet, damit es zu den Hungernden der Erde gehe. Die Antwort der Dankbarkeit nach überwundener Not ist die Liebe zu denen, die noch auf Hilfe warten“.
In dieser Woche hat die Diakonische Konferenz zugestimmt, dass „Brot für die Welt“ und „Diakonie Katastrophenhilfe“ in wenigen Jahren mit dem Evangelischen Entwicklungsdienst zusammengeführt werden. Dann wird die Zusammengehörigkeit von Entwicklungsdienst und Diakonie im „Evangelischen Zentrum Entwicklung und Diakonie“ einen noch prägnanteren Ausdruck finden. Ich begleite diese Entwicklung mit Dankbarkeit und Respekt. Aber ich begleite ihn auch in Solidarität und mit Verständnis für die Situation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier in Stuttgart, denen durch diese Entwicklung Härten auferlegt und schwierige Entscheidungen abverlangt werden.
Seit der Gründung von „Brot für die Welt“ hat sich die Menschheit verdreifacht, über eine Milliarde Menschen leben in absoluter Armut. Die Aufgabe von „Brot für die Welt“ ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts genau so dringlich wie vor fünfzig Jahren. Ich kenne den Einwand, alles, was man da tun könne, gleiche doch dem Tropfen auf den heißen Stein. Aber er bleibt mir im Halse stecken, wenn ich Menschen in einem sudanesischen Flüchtlingslager sehe, denen durch neue Brunnen Zugang zu sauberem Wasser gewährt wird, wenn ich in Äthiopien jungen Leuten begegne, die auf einen Beruf vorbereitet werden, oder wenn ich in Südafrika erlebe, wie die Treatment Action Campaign die Behandlung von Aids-Kranken mit antiretroviralen Medikamenten durchsetzt. Das sind nur zufällige Beispiele, die ich in jüngster Zeit mit eigenen Augen gesehen habe; es sind Projekte, die „Brot für die Welt“ mit deutschen Spendengeldern fördert.
Fünfzig Jahre „Brot für die Welt“ sind eine eindrucksvolle Erfolgsgeschichte. Den vielen Aktiven, die diese Initiative in den Gemeinden und Gruppen mittragen, den zahllosen Spenderinnen und Spendern, den Partnern in vielen Ländern der Dritten Welt sowie den engagierten beruflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gebührt dafür ein außerordentlicher und herzlicher Dank. Ich freue mich darüber, dass der Europäische Kulturpreis diesen Dank auf eine besonders schöne Weise zum Ausdruck bringt.