Predigt über Philipper 2,12-13 am Reformationstag 2008 in der Schlosskirche zu Wittenberg

Hermann Barth

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Der Predigttext, der in diesem Jahr für den Reformationstag vorgesehen ist, steht im Brief des Apostels Paulus an die Philipper im 2. Kapitel:

Daher, meine Lieben: Wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit,[so] schaffet [auch], dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist's, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.

Herr, heilige uns in deiner Wahrheit. Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.

Liebe Gemeinde!

I.

Zu den größten Schätzen in meinen Bücherregalen gehören etliche Bände mit Predigten meines Urgroßvaters. Bei mir sind die Jahrgänge zwischen 1906 und 1916 gelandet. Einen davon habe ich zum Vorzeigen mitgebracht. Es war noch mein Urgroßvater selbst, der dafür gesorgt hat, dass seine in feiner Sütterlinschrift mit der Hand geschriebenen Predigten jahrgangsweise zu einem Buch gebunden wurden. Die Predigten folgen alle demselben Aufbau. Sie haben aber noch etwas anderes gemeinsam, und das macht sie interessant für den heutigen Predigttext: Über jeder Predigt meines Urgroßvaters stehen die drei Großbuchstaben „I. H. G.“. Ich habe zunächst gerätselt, was das zu bedeuten hat: „I. H. G.“. Aber dann fand ich die Lösung: „Im Herrn Geliebte“. So redete mein Urgroßvater die Gemeinde an. Nicht: „Liebe Gemeinde“. Auch nicht: „Meine Lieben“. Schon gar nicht: „Liebe Freunde und Freundinnen“. Sondern: „Im Herrn Geliebte“. Macht das einen Unterschied? Und was für einen! Er führt uns direkt in das Allerheiligste der Reformation.

Liebe lebt davon, dass man einander liebenswert findet. In Gottes Augen sind wir Menschen aber nicht anziehend und der Liebe wert. Die Bibel stellt uns die Diagnose: Wir sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollen (Römer 3,23). Auf eine solche Situation reagieren wir Menschen gern mit einer Verdoppelung unserer Anstrengungen. Sind wir nicht liebenswert, dann müssen wir uns eben liebenswert machen. Müssen, machen, die Anstrengungen erhöhen – das ist das Vokabular, das wir beherrschen. Und ich weiß, wovon ich rede.

Die Reformation hat die Verkündigung der Kirche neu ausgerichtet: Ihr braucht euch nicht wie im Hamsterrad abzumühen, bei Gott einen guten Eindruck zu hinterlassen. Denn „Gott erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“. Wir sind „mit Gott versöhnt worden ... durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren" (Römer 5, 8+10). Lange bevor wir auf den Gedanken kommen können, unsere Verdienste und Vorzüge geltend zu machen, sind wir bereits I. H. G., "im Herrn Geliebte" – geliebt, nicht weil wir in der himmlischen Buchführung einen so hohen Kontostand aufwiesen, sondern um Jesu Christi willen. Darum ist auch die Kleinigkeit der Beachtung wert, dass der Predigttext in seiner originalen griechischen Fassung nicht eröffnet wird mit der Anrede: "meine Lieben", sondern: "meine Geliebten". Mir ist das nur recht. Ich mag es nicht, bei der Begrüßung oder am Telefon als "Mein Lieber" adressiert zu werden. Das hat leicht einen ironischen oder paternalistischen Beigeschmack. Ganz anders bei der Anrede: "Meine von Gott Geliebten". Sie ist die Ultrakurzfassung der reformatorischen Kernbotschaft: Niemand kann sich Gottes Liebe verdienen, niemand braucht sie sich zu verdienen, sie wird geschenkt.

II.

Die reformatorische Kernbotschaft in Ultrakurzfassung – das ist ein guter Einstieg für einen Predigttext am Reformationstag. Aber die Fortsetzung bringt uns ins Stolpern. Es handelt sich, bei Lichte betrachtet, um zwei Stolpersteine.

Der erste hat es mit der Frage des Zusammenwirkens zwischen den Möglichkeiten des Menschen und der Kraft Gottes zu tun. Paulus ist es selbst, der diese Frage wachruft. An die Gemeinde zu Philippi adressiert er, in Luthers Übersetzung, folgende Mahnung: "Schaffet, dass ihr selig werdet". Die katholische "Einheitsübersetzung" macht daraus: "Müht euch um euer Heil", und die neue Zürcher Bibel übersetzt: "Wirkt auf eure eigene Rettung hin". Man kann sich wirklich nicht wundern, wenn reformatorisch gesonnene Christen die Welt nicht mehr verstehen und sich aus ihrem Eigentum vertrieben fühlen. Wir haben als Epistel vorhin jene Stelle aus dem Römerbrief (3,28) gehört, in der Luthers reformatorische Grunderkenntnis in fast sprichwörtlicher Verdichtung dargeboten wird: "So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben." Ja, aber was gilt nun? Ohne des Gesetzes Werke oder schaffen, wirken und sich um das Heil mühen? Allein kraft der Gnade und allein mittels des Glaubens oder doch ein Zusammenwirken von göttlicher Gnade und menschlicher Anstrengung? Die Schlange hätte im Garten Eden nicht so leichtes Spiel mit Adam und Eva gehabt, wäre da nicht deren kaum zu bremsender menschlicher Betätigungsdrang gewesen. Auch in das Nachdenken über den heutigen Predigttext bahnt sich die Schlange an eben derselben Stelle einen Weg und stellt ihre versucherischen Fragen: Sollte es wirklich zutreffen, dass der Mensch ausgerechnet, wenn es um sein Heil geht, nicht viel mehr ist als "Stein und Klotz"? Sollte er gerade in seiner Gottesbeziehung nicht gefordert sein als ein tätiges, um sein Heil bemühtes Wesen, für das es jede Menge zu tun gibt?

Das war der eine Stolperstein. Der andere liegt, um im Bilde zu bleiben, unmittelbar daneben. Paulus ergänzt nämlich seine Mahnung: "Schaffet, dass ihr selig werdet" um die Näherbestimmung: "mit Furcht und Zittern". Der Gedanke an "Furcht und Zittern" weckt keine positiven Assoziationen, schon gar nicht bei jemandem, der an der Parkinsonschen Krankheit leidet. Aber das durch neurologische Erkrankungen ausgelöste Zittern wird hier vermutlich gar nicht im Blick sein, eher das Zittern, das durch furchtsame Gefühle ausgelöst wird. Der Ausdruck "mit Furcht und Zittern" würde dann zwei Seiten derselben Sache beschreiben: die inneren Empfindungen, die mit der Furcht einhergehen, und die körperlichen Reaktionen, die davon ausgelöst werden. Aber der Weg ist noch weit, einen Zugang zum tieferen Verständnis zu bahnen. Wer das erfolgreich tun will, muss erst den Schutt der Mißverständnisse beiseite räumen, der sich über dem Gedanken von der Furcht Gottes angesammelt hat. Furcht Gottes hat heutzutage keinen guten Leumund. Die meisten hören heraus Furcht vor Gott und stellen sich dabei einen Big Brother-Gott vor, und zwar den Big Brother im Geiste George Orwells, nicht den harmlosen Big Brother von RTL 2, also einen einschüchternden, auf Schritt und Tritt kontrollierenden, rigoros bestrafenden Gott, der Angst einflößt und einflößen will. Es wird sehr viel Mühe kosten, aber es ist auch der Mühe wert, die Vorstellung von der Furcht Gottes von solchen Entstellungen zu reinigen und für das Verständnis heutiger Hörer und Leser neu zu erschließen.

Ich habe die beiden besonders schwierigen Stellen des heutigen Predigttextes mit Bedacht "Stolpersteine" genannt. Stolpersteine haben auch ihr Gutes. Sie zwingen zur Aufmerksamkeit. Seit ein paar Jahren gibt es eine wachsende Zahl von Städten – und Wittenberg gehört dazu -, die "Stolpersteine" zu einem künstlerischen Projekt gemacht und damit auf vergessene und verdrängte Vorgänge der jüngeren Stadtgeschichte hingewiesen haben. Solche "Stolpersteine" gibt es auch in Texten und nicht zuletzt in der Bibel. Was zuerst störend wirkt, erweist sich im Fortgang als Hilfe, um auf vernachlässigte Elemente der biblischen Texte aufmerksam zu machen.

III.

Was für vernachlässigte Elemente der biblischen Texte sind es nun, auf die uns die Stolpersteine aufmerksam machen? Auf der evangelischen Seite gibt es eine große Scheu, dem Menschen für seine Seligkeit auch nur die kleinste aktive Rolle zuzuschreiben – aus der Sorge heraus, man schaffe ein Einfallstor für die Rechtfertigung aus dem, was wir tun und leisten, und gefährde in der Folge die Heilsgewissheit. Die Folge ist, dass der Protestantismus dazu tendiert, die Bibel selektiv zu lesen: Nur ja nicht zu sehr betonen, dass der rechte Glaube Früchte trägt und es in der Bergpredigt Jesu heißt: "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." Bloß nicht den biblischen Texten zu nahe kommen, in denen davon die Rede ist, dass die Taten der Liebe ihren Lohn im Himmel haben werden und wir uns deshalb – statt Schätze zu sammeln auf Erden – Schätze im Himmel sammeln sollen. Kein Gedanke an eine evangelische "Sonntagspflicht", an die Einschärfung, dass nicht nur Katholiken am Sonntag den Gottesdienst aufsuchen und die Gemeinschaft der Gemeinde stark machen sollten, im Gegenteil: den geistlichen Hochmut so weit treiben, dass man sich noch etwas darauf einbildet, den Ruf der Freiheit gegen die "Sonntagspflicht" auszuspielen. Das schlägt sich dann in der schiefen Beschreibung nieder: Die armen Katholiken – die müssen am Sonntag in die Messe. Aber wir Protestanten genießen die Freiheit der Kinder Gottes.

Ich will nicht, dass die "Werkgerechtigkeit" fröhliche Urständ feiert. Der entscheidende Prüfstein ist, wie wir es mit dem Rühmen halten. Der Predigttext selbst ist es, der uns das Rühmen austreibt. Er macht die Aktivität Gottes, nicht die Aktivität der Menschen groß: „Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“ Überall, wo in der Bibel das Thema des falschen und des richtigen Rühmens auftaucht, geht es um das Zusammenspiel von Gott und Mensch. Der Leitton heißt: An Gottes Segen ist alles gelegen; wer sich rühmt, der rühme sich Gottes. Aber dabei verschwindet der Mensch nicht in der Belanglosigkeit. Er wird gewürdigt, Gottes Mitarbeiter zu sein.

Den Gedanken der Gottesfurcht schließlich können wir am ehesten dann wiedergewinnen, wenn wir durchbuchstabieren, was Ehrfurcht bedeutet. Die pure Blasphemie war es, den Einsatz von Raketen und Bombern am Beginn des letzten Irakkrieges als eine Strategie von shock and awe zu bezeichnen. In der Ehrfurcht vor Gott geht es vielmehr grundlegend darum, dass wir um Gott wissen und mit ihm rechnen und dass wir uns nicht vom verbreiteten Bazillus der Gottvergessenheit anstecken lassen. Ehrfurcht vor Gott hilft dazu, Gott nicht zu verharmlosen, ihn nicht auf menschliches Maß zurückzustutzen. Es gibt keine wirklich religiösen Empfindungen ohne das Bewusstsein eines unendlichen Abstandes zwischen Gott und Mensch, also ohne Erschaudern vor der Größe Gottes, darum auch ohne das Erschrecken angesichts der Frage: Wie soll ich im Gericht Gottes bestehen, wenn ich angesichts einer aktuellen Herausforderung meiner Zivilcourage nicht widerstehe und etwas Tapferes tue?

Es soll auch nicht vergessen werden, wie Luther im Kleinen Katechismus bei der Erklärung der Zehn Gebote von der Gottesfurcht redet, nämlich in enger Verbindung mit der Liebe zu Gott und dem Vertrauen zu Gott. Es ist wie eine Überschrift über alle zehn Gebote, dass Luther das 1. Gebot so erklärt: "Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen." Zu Unrecht wird der Gedanke der Gottesfurcht mit Misstrauen beäugt. Er kann vielmehr unser Verständnis Gottes von der Harmlosigkeit befreien, wie sie weit verbreitet ist. Er hat das Potential, unserer Gottesbeziehung mehr Tiefe und größeren Ernst zu geben. Darum nicht trotz, sondern wegen der Gottesfurcht: „Nun freut euch, lieben Christengmein, und lasst uns fröhlich singen“. Es gibt auch ein Zittern vor lauter Freude.


Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,
bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Weiter, liebe Brüder und Schwestern:
Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht,
was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat,
sei es eine Tugend, sei es ein Lob – darauf seid bedacht!
Was ihr gelernt und empfangen ... habt, das tut,
so wird der Gott des Friedens mit euch sein.

Amen.