Grußwort zur Eröffnung der Ausstellung „ getauft – verstoßen – deportiert“ in der Evangelischen Kirchengemeinde St. Thomas, Berlin
Wolfgang Huber
Denk an deine Gemeinde, Gott, die du vorzeiten erworben!
Deine Widersacher lärmten an deiner heiligen Stätte,
stellten ihre Banner auf als Zeichen des Sieges.
Sie sagten in ihrem Herzen: „Wir zerstören alles.“
Und sie verbrannten alle Gottesstätten ringsum im Land.
Wie lange, Gott, darf der Bedränger noch schmähen,
darf der Feind ewig deinen Namen lästern?
Diese Worte aus dem 74. Psalm habe ich zusammen mit Erzbischof Robert Zollitsch wie ein Leitwort über unsere gemeinsamen Überlegungen zum morgigen 9. November gestellt. In den unmittelbaren Zusammenhang dieses besonderen Datums gehört ja auch die Ausstellung, die wir heute eröffnen.
Der 9. November ist ein denkwürdiges Datum in der deutschen Geschichte. Im Jahre 1918 wurde an diesem Tag die Republik ausgerufen. 1923 marschierte Hitler in München auf die Feldherrnhalle zu. Für uns Heutige ist vor allem der 9. November 1989 mit lebhaften Erinnerungen verbunden – der Tag, an dem die Berliner Mauer geöffnet und ein neues Kapitel der Freiheit und Einheit in Deutschland aufgeschlagen wurde. Im Jahr 2008 aber muss unser Blick sich in besonderer Weise auf die dunkelste Epoche unserer Geschichte richten. Während die Jahrestage 1918 und 1989 deutsche und europäische Aufbrüche der Freiheit und des Rechts symbolisieren, steht der 9. November 1938 mit seinem Vorspiel am 9. November 1923 für Hass und Gewalt, für Niedertracht und das Erblinden des Gewissens. Er war ein Widerruf jener Freiheitsversprechen, mit denen die erste deutsche Republik einst angetreten war, und bedeutete für die deutschen Juden, dass sie keine sichere Heimstatt im eigenen Lande mehr besaßen.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 steckten Mitglieder SA und der SS und ein randalierender Mob in ganz Deutschland Synagogen in Brand, zerschlugen ihre Einrichtung, brachen in die Geschäfte und Wohnungen jüdischer Deutscher ein, misshandelten die Bewohner und plünderten ihr Eigentum. Anlass für diesen angeblich „spontanen“ Volkszorn war das Attentat des siebzehnjährigen polnischen Juden Herschel Grynszpan auf den Legationsrat Ernst vom Rath in Paris wenige Tage zuvor. Als am Abend des 9. November die Todesnachricht kam, war alles gut vorbereitet für eine Zerstörungsaktion, die mit dem auslösenden Vorgang in Wahrheit nur wenig zu tun hatte. „Sie verbrannten die Gotteshäuser im Lande“. Dietrich Bonhoeffer markierte diese Stelle in seiner Bibel und fügte hinzu: 9. November 1938.
In den November-Pogromen von 1938 wurden wehrlose Menschen gedemütigt, gepeinigt und ermordet, Gotteshäuser geschändet und zerstört. Die schrecklichen Bilder von brennenden Synagogen haben sich in unser Gedächtnis gebrannt. Sie lehren auch heute: Wo es keinen Respekt vor dem Heiligen und dem für den menschlichen Zugriff Unverfügbaren gibt, dort gibt es auch keinen Respekt vor den Menschen. Aber ins Gedächtnis gebrannt hat sich auch das gleichgültige Dabeistehen, das unbeteiligte Wegschauen, der Mangel an Empathie. Ins Gedächtnis einbrennen muss sich auch, dass Menschen mit subjektiver Überzeugung auch angesichts dieser öffentlichen und unübersehbaren Ereignisse sagten, sie hätten „nichts gewusst“.
Dass die Pogrome von 1938 nur ein Auftakt waren, sollte sich in der Entwicklung nach dem 9. November 1938 mit bedrückender Intensität zeigen – in dem sich steigernden Maß, in dem Jüdinnen und Juden in Deutschland rechtlos gemacht, ihrer Lebenshoffnung beraubt, deportiert und umgebracht wurden. Eine Geschichte des Grauens, an der wir auch als Kirche beteiligt waren. Von dieser Beteiligung und von einzelnen Taten der Rettung erzählt auch diese Ausstellung, in deren Zentrum der Pfarrer dieser Kirche Willy Oelsner steht. Er gehört zu den Christen jüdischer Herkunft, die noch rechtzeitig fliehen konnten; für andere kam solche Rettung zu spät. Wieder andere überlebten, was im Rückblick wie ein Wunder wirken mag. Die einen wurden deportiert, andere nahmen sich das Leben, weil sie den täglichen Demütigungen und der täglichen Angst nicht mehr gewachsen waren.
Drei Bücher begleiten mich in diesen Tagen ganz besonders. Es ist zunächst der Briefwechsel zwischen Helmut Gollwitzer, dem Theologen, dessen einhundertsten Geburtstag wir am 28. Dezember zu erinnern haben, und Eva Bildt, dem „Mischling ersten Grades“, den Gollwitzer im Hause von Jochen Klepper kennen gelernt hatte. Wenige Wochen nach der ersten Begegnung verlobten Helmut Gollwitzer und Eva Bildt sich. Der Briefwechsel schildert die Geschichte dieser Liebe – mit einer vergleichbaren Intensität wie die Briefe zwischen Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer. Die Heiratsgenehmigung, die beide brauchten, da Eva Bildt „Halbjüdin“ war, wurde wieder und wieder verweigert. Eva Bildts Lebensmut – „Ich will dir schnell sagen, dass ich lebe, Liebster“ heißt der Titel dieses Buchs – war den Strapazen dieses Lebens nicht gewachsen. Als die Bedrohung durch das Naziregime zu weichen begann, dafür aber die Rote Armee sich näherte, nahm sie sich das Leben.
Das zweite Buch stammt von Irène Alenfeld. Es führt uns ebenfalls in die Atmosphäre von Christen jüdischer Herkunft in jener Zeit. Es zeigt im einzelnen, dass nicht etwa die christliche Taufe besonderen Schutz sicherte, sondern eher schon eine Lebenssituation, die in der Sprache der damaligen Zeit auf den demütigenden Begriff einer „privilegierten Mischehe“ gebracht wurde. Dass ein Jude mit einer Nichtjüdin verheiratet war und aus dieser Ehe Kinder hervorgegangen waren, das konnte, wie das Beispiel der Familie Alenfeld – die übrigens genau in der Straße wohnte, in der ich heute zu Hause bin – das Überleben ermöglichen.
Und schließlich, gerade erschienen: „Evangelisch getauft, als Juden verfolgt. Spurensuche Berliner Kirchengemeinden.“ Ich bin dankbar dafür, dass eine ganze Reihe von Berliner Kirchengemeinden sich seit 2002 auf die Suche begeben und dem Schicksal von Christen jüdischer Herkunft nachgespürt haben. Sie haben sich im Rahmen unseres „Forums Erinnerungskultur“ in dem „Arbeitskreis Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus“ zusammengefunden und haben den Opfern nationalsozialistischen Rassewahns und kirchlicher Gleichgültigkeit Namen und Gesicht gegeben. Das geschah unter besonderen Bedingungen: mit geringen Forschungsmitteln, mit einem bewundernswerten Maß ehrenamtlichen Engagements, mit deutlichen Grenzen, die auch durch die Wahrung der Persönlichkeitsrechte betroffener Personen gegeben waren. Ich will die erste Gelegenheit nach der Veröffentlichung dieses Buches nutzen, um allen, die diese Aufgabe auf sich genommen und das Vorhaben begleitet und koordiniert haben, meinen herzlichen Dank auszusprechen. Nach dem vorangehenden Vorhaben, das dem Schicksal von Zwangsarbeitern gewidmet war, die in kirchlichen und diakonischen Zusammenhängen eingesetzt wurden, ist dies ein zweites Vorhaben, in dem wir als Kirche unsere Schuld bekennen und die Namen, die Geschichte und die Würde der Betroffenen ehren wollen. In diesen Zusammenhang tritt für mich auch die Ausstellung, die wir heute eröffnen.
Heute sind wir in einem Gotteshaus zusammengekommen, um die Ausstellung „getauft – verstoßen – deportiert“ zu eröffnen. Die evangelische Kirchengemeinde St. Thomas möchte mit dieser besonderen Ausstellung ihren Beitrag dazu leisten, dass das Gedächtnis geprägt, die Gewissensbildung gefördert und die Zukunftsgestaltung verantwortet werden kann.
Thomas Pfarrer Wilfried Oelsner war von 1932 bis 1939 Seelsorger an St. Thomas. Nach den Nürnberger Rassegesetzen galt der evangelische Theologe Ölsner als Volljude. Wie durch ein Wunder gelang dem Pfarrer von St. Thomas zu Beginn des Jahres 1939 die Emigration nach England. Vor einigen Jahren versuchte ein Kreis von Gemeindegliedern eine Biografie ihres früheren Pfarrers zu erstellen. Diejenigen, die sich auf die Spurensuche begaben, stießen auf die Lebenswege anderer. Es kam mehr zum Vorschein als erwartet. In einem Schreiben der St. Thomas Kirchengemeinde heißt es: „In unserer Ausstellung thematisieren wir die Lebensgeschichten von Menschen, die ähnlich und oft noch schrecklichere Verfolgungen erlitten haben. Wir wollen auch danach fragen, inwieweit die St. Thomas-Gemeinde diesen Gemeindemitgliedern – ob sie nun in der Köpenicker Straße, am Engeldamm, in der Melchiorstraße oder an anderen Orten des Gemeindegebiets wohnten – geholfen hat, zumindest wollen wir die Namen und die Geschichte der Menschen, die als getaufte „Nichtarier“ verfolgt wurden, soweit uns das möglich ist, in das Gedächtnis zurückholen. Unsere Ausstellung...soll sich insbesondere auch an Jugendliche und an Schulklassen richten.“
Nun haben wir uns angewöhnt, die Taufe gering zu schätzen. Ob einer getauft ist, was zählt das schon? So höre ich viele reden, auch in unserer Kirche. Dass die Taufe ein Sakrament ist, scheint weithin vergessen zu sein. Erst zögernd beginnen wir in unseren evangelischen Gemeinden die Handlungsvollzüge des Glaubens wieder ernst zu nehmen. Die Taufe aber ist ein grundlegender Handlungsvollzug des Glaubens. Paulus macht das mit starken Worten deutlich: Wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln. ... Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir mit ihm auch leben werden. (Römer 6, 3.4.8)
Intensiver lässt sich nicht schildern, dass wir in der Taufe Anteil am Geschick Jesu erhalten, an seinem Tod, an seinem Grab, an seiner Auferweckung. So werden wir Glieder an seinem Leib. So werden wir aus unserem Verderben befreit und bekommen Teil an der Gerechtigkeit, die Christus uns schenkt.
Was war mit der Taufe derjenigen Menschen, an die diese Ausstellung erinnert? Hat unsere Kirche ernst genommen, dass sie Anteil hatten am Tod, am Grab, an der Auferweckung Jesu Christi? Hat sie sich ihrer angenommen und mit ihnen zusammen auch all der nicht getauften Jüdinnen und Juden, die doch auch wehrlose Brüder und Schwestern Jesu Christi waren. Hat das Zeichen der Taufe unsere Gemeinden dazu gebracht, sich zu Christus als ihrem Herrn zu bekennen und deshalb seinen wehrlosen Brüdern und Schwestern zur Seite zu stehen, den nicht getauften wie den getauften? Wir müssen es heute aussprechen: Das war nicht der Fall. Es waren wenige, die sich für Christen jüdischer Herkunft einsetzten.
Damit geschah zweierlei zugleich: Es unterblieb der Protest dagegen, dass Jüdinnen und Juden rechtlos gemacht und der Vernichtung preisgegeben wurden; und die Zugehörigkeit von getauften Mitchristen zur christlichen Gemeinde wurde geleugnet. Dadurch wurde die Einheit des Leibes Christi selbst geschändet. Die Preisgabe der gleichen Würde jeder menschlichen Person verband sich mit einer Aufkündigung des geistlichen Bands, das durch die Taufe geknüpft wird. Wie tief die geistliche Schuld jener Zeit ging, kann man daran sehen. Die gemeinsame Teilhabe am Kreuzestod, am Grab, an der Auferweckung Jesu Christi zählte nichts gegenüber dem vermeintlichen Band von Rasse und Blut. Darin zeigte sich eine abgrundtiefe Gleichgültigkeit gegenüber der Taufe. Ja, darin zeigte sich der Glaubensverrat, die Häresie unserer Kirche in jenen Jahren.
So gründete der Pfarrer Karl Themel schon Mitte der dreißiger Jahre die „Kirchenbuchstelle Alt-Berlin“. Unter diesem harmlos klingenden Titel ging es um nichts anderes als darum, der „Reichsstelle für Sippenforschung“ zuzuarbeiten und Getaufte als „Rassejuden“ zu identifizieren. Es klingt zynischerweise beinahe betrübt, wenn Themel 1941 in einer Bilanz seiner Arbeit feststellt, dass er 255 469 Urkunden für den „Ariernachweis“ ausgestellt habe, aber nur in 2 612 Fällen eine jüdische Abstammung habe ermitteln können.
Aber was ist in diesen 2 612 Fällen geschehen? Auf Grund solcher Feststellungen wurden Christen verschleppt und dadurch aus der Kirche ausgestoßen. Unsere Kirche hat sich am Buß- und Bettag 2002 öffentlich zu ihre besondere Schuld an diesen Mitchristen mit folgender Formulierung bekannt: „Wir klagen uns an, dass die Leitung unserer Kirche sie nicht geschützt und unsere Gemeinden sie nicht geborgen haben. Wir erinnern uns zugleich an die Menschen, die damals versucht haben, dem Rad in die Speichen zu greifen. Es waren wenige und es geschah spät. Aber mit ihrem Widerstand setzten sie Zeichen der Menschlichkeit inmitten des Grauens.“
Auf diesem Hintergrund ist es in meinen Augen von großer Bedeutung, dass sich einzelne Berliner Kirchengemeinden auf eine Spurensuche begeben haben, um herauszufinden, welchen Weg die als Juden verfolgten evangelischen Christen gehen mussten. Auf diesem Weg lässt sich Schuld sicherlich nicht ungeschehen machen. Doch die in diesem Prozess engagierten Personen haben uns auf praktische Weise gezeigt, dass unsere Kirche in der Verantwortung steht, den einzelnen Lebenswegen nachzugehen.
Mein Dank gilt deshalb sowohl allen, die an der Entwicklung der Ausstellung in St. Thomas beteiligt waren, als auch dem Arbeitskreis Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, der rechtzeitig zum 9. November 2008 ein Buch herausgegeben hat, dass die Spurensuche der evangelischen Gemeinden dokumentiert. Der Ausstellung wünsche ich zahlreiche Besucherinnen und Besucher und dem Buch „Evangelisch getauft als Juden verfolgt“ einen breiten Leserkreis.
Es ist im übrigen der großzügigen Förderung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zu verdanken, dass die Besucherinnen und Besucher des morgigen Konzerts den „Musikalischen Religionsdialog“ gratis erleben können. Das ist zugleich ein Hinweis auf die Frage nach aktuellen Folgerungen aus der Erinnerungsarbeit, zu der auch diese Ausstellung ihren Beitrag leistet.
Die morgigen Veranstaltungen zum Gedenken an die Reichspogromnacht 1938 würde ins Leere laufen, wenn wir sie nicht mit der Frage nach der praktischen Solidarität verbänden, die wir den in unserer Zeit zu Unrecht Verfolgten und den Opfern von Gewalt schulden. Leider sind Antisemitismus und Rassismus auch heute nicht überwunden. Auch in Europa prägen Ausgrenzung und Diskriminierung den Alltag vieler Menschen. Die Sünde der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Anderen stirbt nicht aus. Allzu schnell legt sich der Schleier der Abgrenzung über unsere Augen und versperrt die Sicht auf das Antlitz des Nächsten. Jedem Menschen, gleich welcher Hautfarbe, Volkszugehörigkeit oder Religion, ist das Bild Gottes eingeprägt. Keiner darf preisgegeben werden. Davon in Wort und Tat Zeugnis abzulegen, sind wir als Christen in besonderer Weise gefordert. Die Erinnerung an die Schreckensnacht und ihre Folgen ist gerade auch heute, da die Zeitzeugen allmählich verstummen, von großer Bedeutung. Mahnt sie uns doch, alles zu tun, um eine Gesellschaft in Freiheit und gegenseitiger Achtung zu gestalten, die sich ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen stellt.