Gottesdienst in der Friedenskirche, Ende der Zukunftswerkstatt
Thies Gundlach
1. Einführung in die Installation
Liebe Gemeinde in der Friedenskirche,
Sie haben eine wunderbare Kirche, auch ohne Installation; ein kräftiger Klang, eine mutige Gestaltung, klare Linien und Perspektiven, das hat Kraft und Klarheit, Ihre Kirche hat mich im Sturm erobert. Auch Ihre Pastoren und Ihr Kirchenvorstand, dass Sie diese Installation erlaubt und begrüßt haben, dass wir sozusagen für die Zukunftswerkstatt ihre gute Stube umgestalten durften, gar noch die Stühle und Bänke verrücken durften, Ihnen von Herzen vielen Dank. Ich will das nutzen und für alle in Kassel sagen, Ihrem Bischof, seinen Mitarbeiter/innen, herzlichen Dank, dass die Zukunftswerkstatt hier so freundlich aufgenommen wurde.
Aber jede neue Installation ist auch eine Verfremdung, eine Irritation, eine Überraschung. Sie verändert den Blick auf das Gewohnte, sie verändert den gewohnten Blick. Darum: Genießen Sie jetzt die Gelegenheit, die Installation zu erleben; wir können jetzt nämlich zusammen in den Himmel aufsteigen, nicht über, aber in den Wolken fliegen, mal mitten auf der Wolke sitzen, nicht nur immer die Münchner im Himmel. Wir wollen die Wolke der Zeugen schauen, natürlich auch der Zeuginnen, denn diese Wolken werfen keine Nebel oder machen die Sicht schlecht, sondern erstaunlicherweise gibt es Wolken, mit deren Hilfe kann man besser sehen!
Wir haben seit dem Frühjahr alle Menschen, die zur Zukunftswerkstatt eingeladen wurden, gebeten, mitzumachen bei der Vorbereitung. Sie sollten den Satz ergänzen, "Ich bin evangelisch, weil ...." Und sie sollten dies nur mit einem einzigen Satz erläutern, - was uns Protestanten naturgemäß schwer fällt. Und sie sollten dabei auch ihr Gesicht zeigen, Satz und Gesicht, Person und Aussage haben wir dann in das Internet gestellt, so dass man sich das Ergebnis auch ansehen konnte. Weit über 100 Antworten, ganz unterschiedlicher Art.
"Ich bin evangelisch, weil ... was würden Sie eigentlich antworten, wie lautet Ihr Satz? Haben Sie eine schöne Idee? Kommen Sie, lassen Sie uns mal ansehen, was den anderen eingefallen ist, aus allen Teilen Deutschlands, aus den verschiedenen Frömmigkeitsrichtungen, aus jedem Alter und Geschlecht. Sie sehen die Installation aber nur richtig, wenn Sie hier zu den beiden Türen gehen, rechts und links vom Altar.
2. Predigt zu Hebräer 12, 1 – 8
Gnade sei mit uns und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus, Amen.
Liebe Gemeinde,
welcher Satz hat Ihnen am besten gefallen? Nicht nach Schönheit der Gesichter gehen, sondern inhaltlich, mit den Augen des Herzens sehen? Haben Sie einen Lieblingssatz gefunden?
Ich habe mal versucht, ein bißchen zu sortieren – ich hatte es natürlich leichter, ich kannte die Antworten ja schon. Da ist mir aufgefallen, dass der freie, kritische Geist des Protestantismus immer wieder Thema war; darauf sind wir stolz, keine Frage. Die "Kirche der Freiheit" ist nicht nur ein frecher Titel eines Reformpapiers, sondern auch ein Stück Selbstverständnis aller Evangelischen:
"Weil wir in unserer Kirche frei sind, Gottes Wort selbst zu verstehen und einander davon zu erzählen", heißt es, oder: "weil evangelisch mich als gläubigen Menschen frei macht", oder "weil wir selbstständig denken wollen und können", "weil wir offen diskutieren können" usw. Eine Antwort in diesem Zusammenhang hat mir besonders gefallen:
Eine junge Frau sagt, sie sei evangelisch, weil die evangelische Kirche "es ihr als Frau nicht unmöglich macht, Papst zu werden." Es gilt zwar seit Benedikts Wahl die BILD-Überschrift: "Wir sind Papst", aber hinzufügen muss ich dennoch: Garantieren können wir Evangelischen einen solchen Aufstieg auch nicht.
Viele Antworten hatten noch einen anderen wichtigen Klang: Wir sind evangelisch, weil wir die Diakonie, das weltweite Engagement, die Hilfe für die Schwächsten wichtig und unerlässlich für unsere Gesellschaft finden; unerlässliche Hinweise.
Einer aber hat zum Beispiel auch gesagt: Ich bin evangelisch, "weil wir einen guten Pastor in der Gemeinde haben und einen sehr engagierten Diakon", auch ein schönes Lob, das man ruhig mal laut sagen darf.
Das Singen und die Kirchenmusik spielen bei vielen eine große Rolle, die Kulturoffenheit und die Kindergärten, die Gemeinschaft und Jugendarbeit waren vielen wichtig, auch die Bedeutung unserer Kirche in der Zeit der friedlichen Revolution und viele andere gute Gründe. Schon beeindruckend, wie viele gute Gründe es gibt.
Ich habe mich dann mal konzentriert auf jene Sätze, die versuchen, das Herzstück unseres Glaubens in Worte zu fassen: Ich bin evangelisch, weil ich ....woran glaube? Auch hier wurden gewichtige Sätze gefunden:
- weil mir das Grundprinzip der Vergebung und der grenzenlose Liebe wichtig ist
- weil mein Gefühl für Gott evangelisch ist
- weil ich hier die Liebe Gottes kennengelernt habe
- weil Luther recht hatte
- weil das Evangelium das Beste ist, was ich je hören werde usw.
Schöne Sätze, wichtige Sätze, und dennoch hatte ich eine Irritation, ein Störgefühl; und davon erzähle ich Ihnen mit Hilfe einer kleinen Geschichte:
Vor einiger Zeit hörte ich von einer Diskussion über die Bedeutung der Religion im öffentlichen Leben. Ein katholischer, ein evangelischer Christ, ein Jude und ein Muslim saßen zusammen und stritten sich anständig und tapfer darüber. Die einen waren für mehr Religion in Schulen und Universitäten, die andern hatten Sorge vor den missionierenden Gruppen oder antisemitischen Reaktionen. Am Ende der Sendezeit aber fragte der Moderator die Teilnehmenden offensichtlich unabgesprochen und überraschend: Sagen Sie doch mal: Was fehlt der modernen Gesellschaft, wenn es keine Religion geben würde?
Der erste hub an und erläutere den sozialen Schaden, der nächste entfaltete noch mal ganz kurz die Bedeutung der religiösen Werte, der dritte nannte die verlorene Seelsorge in unserer Welt, nur einer sagte ganz schlicht: Was der Gesellschaft fehlen würde? Gott würde ihr fehlen!
Eine große Antwort! Wir begründen mit unseren Sätzen "Warum evangelisch" die soziale Wirkung und die orientierende Kraft des Glauben, wir machen uns – selbstkritisch gesagt – nützlich, wie Schüler sagen wir gute Gründe auf für den Glauben, wie brave Soldaten nennen wir plausible Thesen dafür, dass die Kirche sein muss, - und das alles ist auch gut und richtig so! Das war auch während der Zukunftswerkstatt sehr eindrücklich: Wir hatten ja Ministerpräsident Koch, Innenminister Schäuble und Präsident Horst Köhler zu Besuch, eine hohe Ehrung für Kassel, für die Zukunftswerkstatt und auch für unseren Bischof Huber, - aber alle drei haben gesagt, wie wichtig und gut und nützlich und wertvoll es sei, dass es uns Christen gibt und den Reformprozess und überhaupt unsere Werte und unser Engagement.
Manchmal denke ich: Wir dürfen nicht nur nützlich, sinnvoll und wertvoll sein, wir müssen auch unnütz, wertlos, überflüssig sein können, denn auch Gott ist keineswegs immer nur nützlich und wertvoll. Ohne unseren Glauben würde auch der Gesellschaft etwas fehlen, aber vor allem und zuerst würde uns allen Gott fehlen. Er wäre gleichsam vereinsamt, er wäre ein im Stich gelassener Gott, wie ein verlassener Freund hätte er keine Wolke der Zeugen mehr um sich, sondern eine Wolke von guten, nützlichen Gründen für ihn. Manchmal frage ich mich, ob wir Zeugen und Zeuginnen ihn nicht eher verhüllen, ihn verdecken, ihn unsichtbar machen mit unseren ganzen guten Gründen, weil sie gar nicht mehr auf ihn zeigen, sondern auf unsere Nützlichkeit für die Gesellschaft.
Deswegen, liebe Gemeinde, ist die Installation in ihrer Kirche so eindrücklich und theologisch klug und tief geworden. Der Altar ist zwar sichtbar, aber doch etwas unklarer, entschwundener, mehr verhüllt als enthüllt. Ist das unsere Situation? Jedenfalls ist dies doch auch die geistliche Gefahr solcher Fragen nach den guten Gründen: Ob wir nicht gerade mit unseren guten Gründen, mit unseren stringenten Antworten, mit unseren klugen Erklärungen Gottes Gegenwart und Heiligkeit verhüllen. Die Wolke der Zeugen kann auch Nebel werfen, Unübersichtlichkeit schaffen, wir Menschen sind mit unseren Antworten keineswegs immer Hinweisschilder auf Gott, sondern auch verquere Straßenschilder des Glaubens. Gestern während des Stationenwegs kamen wir an solchen Straßenschildern vorbei:
Unterführung des Glaubens; Umleitung zu Gott; Pfad der Sehnsucht; Galerie der blinden Flecken, Kreisel der Unentschiedenen. Auch das sind wir, unsere Wolke wirft auch Schatten.
Auf diesen ja durchaus selbstkritischen Ton hat mich der Predigttext gebracht: "Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. Gedenkt an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst."
Die Wolke der Zeugen ist hier im Hebräerbrief eine Wolke der Verfolgten, sie haben noch keine guten Gründe für die Treue zu Gott, sondern nur den leidenden Christus vor Augen. Sie besucht noch kein römischer Kaiser, sie können auf wenig Diakonie verweisen und ihre Nützlichkeit als Wertevermittler kennen sie auch noch nicht. Die Wolke dieser Zeugen besteht noch gar nicht aus guten Gründen, sondern aus der Bereitschaft, Gott zu bekennen, der in Christus Mensch wurde.
Natürlich, wir haben bei uns keine wirkliche Verfolgungssituation, unser Situation kann man weder mit der Situation der frühen Christen vergleichen noch mit der Situation anderer Christen heute wie z.B. in Korea oder Indien oder in der islamischen Welt. Uns geht es gut, wir sind frei, wir können reden, lesen, sagen, was wir wollen. Und es sind Menschen mit ostdeutscher Biographie wie z.B. der Christian Führer, der während der Zukunftswerkstatt mit einem Preis für seine Lebenserinnerungen "Und wir sind dabei gewesen" ausgezeichnet wurde, die uns Wessis manchmal daran erinnern müssen, wie wenig selbstverständlich diese Freiheit ist.
Und dennoch haben wir auch eine Verfolgungssituation, sie ist ungleich harmloser und feinsinniger, weil es nicht zuerst um Leib und Leben geht, sie ist innerlicher und unsichtbarer, aber wir dürfen nicht meinen, dass wir völlig unangefochten dastehen: Darauf hat mich eine Antwort gebracht, die mich besonders berührt hat:
"Ich bin evangelisch, weil mir der Glaube eine innere Freiheit gibt, fremden Mächten und falschen Autoritäten zu widerstehen."
Das gibt es ja wirklich: Fremde Mächte auch in meinem Inneren, in meiner Seele, Mächte, die mich verfolgen, die mir das Leben schwer machen: Manchmal sind es Ängste, die mich verfolgen, manchmal Träume, die mir keine Ruhe gönnen, mancher Streit in der Ehe oder Beziehung findet keinen Ausgang aus meiner Seele, manche Einsamkeit ist wie eine Verfolgung durch ein Rudel heulender Hunde. Manchmal geht eine Seele verloren in all ihrer Selbstgefälligkeit, manchmal verfolgen mich meine völlig überzogenen Ansprüche an mich selbst, manchmal zwingt mich mein Ehrgeiz in die Knie und treibt mich in die Krise, manchmal erkrankt meine Seele an meiner inneren Leere. Ich kenne Menschen, die werden offensichtlich verfolgt von ihrem schlechten Gewissen, und andere, die geschunden werden von ihrer Äußerlichkeit, manche überfordern sich hemmungslos, und andere beuten sich aus mit ihrer Rechthaberei. Wir haben viel äußere Freiheit, aber innen, in der Seele, in der Mentalität auch einer Gemeinschaft, einer Kirche, eines ganzen Landes tauchen Verfolger auf und die Verfolgungen sind noch nicht zu Ende. Novalis, Friedrich von Hardenberg, der große romantische Geist aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts, hat einen Jahrhundertsatz formuliert: "Wo keine Götter sind, da herrschen Gespenster."
Deswegen, liebe Gemeinde, tröstet mich die Wolke der Zeugen, die im Hebräerbrief gemeint ist: Denn die Wolke der Zeugen sind ja die Figuren und Personen, die Geschichten und Gebete des Alten Testaments. Wenn wir heute Angst haben müssen, wenn wir innerlich verfolgt sind von Einsamkeit und Leere, wenn wir gemartert werden von Gottes Verborgenheit, wenn wir weinen müssen über die vermeintliche Bedeutungslosigkeit des Lebens, wenn wir Trauer tragen müssen um geliebte Menschen und zerstörte Lebenswege, dann hilft ein Blick auf diese Wolke der Zeugen.
Und es sind doch seither noch viele Zeugen und Zeuginnen hinzugekommen, die Wolke wächst. Natürlich glaube ich auch nicht, dass wir Menschen durch Dekret, durch eine Selig- oder Heiligsprechung definieren können, wer zu dieser Wolke der Zeugen gehört. Aber manche Heilige in dieser Wolke ahne ich schon; denn nach evangelischem Verständnis sind Heilige diejenigen Menschen, die es uns anderen leichter machen, an Gott festzuhalten. Und das tun nicht nur imposante Figuren wie Elisabeth von Thüringen oder Dietrich Bonhoeffer, die auch, aber auch jener kleine, unscheinbar englische Soldat im 9. Jahrhundert, den ich durch ein Buch kennen gelernt habe: Der damals - ausgespannt zwischen Druidenfrömmigkeit und dem neuen christlichen Glauben - sein Herz an Christus hängte und mit diesem Vertrauen die Härte seines Lebens ertrug.
Und kann man noch ahnen, wie viele Frauen im Mittelalter ihre Kinder unter Schmerzen geboren haben mit dem Vater unser auf den Lippen, weil es sie tröstete? Ahnen wir noch den inneren Stolz eines schwarzen Sklaven, der sein ausgebeutetes Leben aufrecht bestand, weil er zu Gott in Gospels singen konnte?
Die Wolke der Zeugen, liebe Gemeinde, ist auch eine Wolke der guten, inneren Worte, des aufrechten Ganges der Seele, der Heilungsgeschichten zum Leben, und nur von hier aus, nur aus dieser Mitte der Herzensfrömmigkeit aus, die in Christus ruhen und reifen kann, nur von hier aus wachsen dann auch die Kräfte, die uns gute Gründe für den Glauben in der modernen Gesellschaft nennen lassen.
So meint es wohl auch der Hebräerbrief: "Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist..." (und) "gedenkt an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst."
Amen.