Predigt im Berliner Dom (Markus 12, 28-34)
Hermann Barth
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Wir sind dem Predigttext bei der Lesung des Evangeliums bereits begegnet. Aber man kann diesen Schriftabschnitt nicht oft genug hören:
(28) Und es trat zu Jesus einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen?
(29) Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: "Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein,
(30) und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften."
(31) Das andre ist dies: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Es ist kein anderes Gebot größer als diese.
(32) Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur einer und ist kein anderer außer ihm;
(33) und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.
(34) Als Jesus aber sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.
Herr, heilige uns in deiner Wahrheit, dein Wort ist die Wahrheit. Amen.
Liebe Gemeinde!
I.
Fragen stellen - das ist der Königsweg, um die Welt und die anderen Menschen kennenzulernen. Das Ziel aller Bildung lässt sich geradezu daran messen, ob jemand gelernt hat, zu fragen - und nicht nur dies, sondern: die richtigen Fragen zu stellen. Es kann Ausdruck höchsten Lobes sein, eine Frage mit der Bemerkung zu quittieren: "Gute Frage!" Fragen stellen verrät Neugier, und solche Neugier ist kein Vorwitz, der zu tadeln wäre, sondern steht für die Lust, Neues zu entdecken. Das zeigt sich schon in der Kindheit. Zu Kindern, die den Erwachsenen jede Menge Fragen stellen, sagt man gewöhnlich - halb bewundernd, halb unwirsch -: Ihr fragt einem ja ein Loch in den Bauch.
So viel zu der Seite, die Fragen stellt. Dem steht gegenüber die Seite, der Fragen gestellt werden. Dabei gibt es aber zwei verschiedene Fälle: den Fall, dass man sich zu Fragen geradezu aufgefordert und eingeladen fühlt, und den gegenteiligen Fall, dass man sich vorkommt wie vor einem Schneckenhaus, in das sich die Schnecke im Nu zurückgezogen hat. Jesus war offenbar jemand, der zum Fragen und Nachfragen einlud - und dazu steht der Schluss des Predigttextes nur scheinbar im Widerspruch. Die Szene endet ja mit der Feststellung: "Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen." Wie das? Hat er etwa - und so etwas gibt es! -, die, die Fragen an ihn richteten, abgekanzelt, blamiert und entmutigt, so dass sie sich hüteten, noch einmal vorgeführt zu werden? Ich komme gleich auf diesen scheinbaren Stolperstein zurück.
Der Predigttext gehört in einen größeren Zusammenhang von drei kleinen Fragegeschichten. Die beiden vorausgehenden Geschichten handeln von der Frage nach der Steuer für die römische Besatzungsmacht und der Frage danach, wie es nach der Auferstehung zugeht. Insbesondere die zweite Fragegeschichte ist vielsagend: Die Fragesteller legen Jesus einen Fall vor. Es waren, so ist die Ausgangskonstellation, "sieben Brüder. Der erste nahm eine Frau; er starb und hinterließ keine Kinder." Für diesen Fall sieht das biblische Gesetz vor, dass der nächste Bruder die Frau heiratet und, wie es in biblischer Sprache heißt, "ihr Kinder erweckt". Und so geschah es: Der "zweite nahm sie und starb und hinterließ auch keine Kinder ... Und alle [weiteren ebenso] ... Zuletzt nach allen starb die Frau auch. Nun ... wenn sie auferstehen, wessen Frau wird sie sein ...?" Man kann sich die klammheimliche Freude der Fragesteller lebhaft vorstellen. Sie reiben sich schon siegesgewiss die Hände. Sie stellen gar keine echten Fragen, sondern sie wollen Jesus mit einer Fangfrage in Verlegenheit stürzen und möglichst zu angreifbaren Aussagen verleiten. Es ist diese gemeine und hintertückische Art zu fragen, die mit dem Schlusssatz des Predigttextes eine Abfuhr erfährt. Jesus ermutigt zum Fragen; nur dazu gehört die Kehrseite, die Fangfragensteller abblitzen zu lassen, so dass keiner mehr wagt, das wertvolle Instrument der Frage als bloßes Werkzeug für fiese Absichten zu missbrauchen.
Fällt auf die Christen und ihre Gemeinden von heute wenigstens ein schwacher Abglanz des souveränen Auftretens, das die Evangelien vom Meister berichten? Haben wir etwas von der Fähigkeit abbekommen, hintertückische Fangfragensteller abblitzen zu lassen? Manche Fangfragen kommen so plump daher, dass nicht viel dazugehört, sie ins Leere laufen zu lassen. So wird immer wieder der Eindruck erzeugt, die Kirchen in Deutschland seien so reich, dass sie auf die Beibehaltung der Kirchensteuer genauso gut verzichten könnten: "Warum" - so wird etwa gefragt - "macht ihr nicht einfach die Filetstücke eures Grundbesitzes zu Geld?" Als ob Gebäude und Grundstücke wie etwa im Fall des Kölner oder des Berliner Doms ein Vermögen darstellten, das so ohne weiteres zu Geld gemacht werden kann.
Ein anderes Kaliber sind demgegenüber Anfragen an missionarische Aktivitäten in islamischen Ländern, wie sie zuletzt in einer Sendung des ZDF laut wurden. Es ist nicht zu akzeptieren, dass dabei mit keiner Silbe das Recht auf freie Wahl und Ausübung der Religion erwähnt wurde. Ins Unrecht setzt sich ja nicht derjenige, der das Verbot christlicher Mission missachtet, sondern der, der entgegen dem Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte ein solches Verbot erlässt. So richtig diese grundsätzliche Feststellung ist - sie erübrigt nicht die sorgfältige Prüfung, was in der konkreten Situation missionarischen Handelns verantwortet werden kann. Dies gilt insbesondere in den Fällen, wo Menschen in einer Doppelrolle tätig werden sollen: offiziell humanitäre Hilfe und unter der Hand missionarische Bemühungen. Sie gefährden sich ja nicht nur selbst, sondern auch die, denen sie das Evangelium bringen wollen.
Mit Fangfragen sollten wir im übrigen keine Zeit vergeuden. Denn wer sich an ihnen ab-arbeitet, hält sich bei Themen auf, die andere gesetzt haben. Viel lohnender ist es, selbst Themen ins Spiel zu bringen und vor allem daran zu arbeiten, dass christliche Gemeinden einladen zum Fragen und Nachfragen und keine Langweiler sind. Man muss ja nur darüber nachdenken, warum der Schriftgelehrte an Jesus herantritt und ihn fragt. Es steht sehr konkret da: Er hatte ihnen zugehört, "wie sie miteinander stritten", und gesehen, dass Jesus ihnen "trefflich geantwortet" hatte. Wir stehen unter Beobachtung, wir werden daran gemessen, was für eine Figur wir abgeben, wie wir uns im öffentlichen und privaten Gespräch schlagen und wie glaubwürdig unser Tun im Verhältnis zu unserem Reden ist.
Ich will nur zwei Beispiele nennen: Zunächst die "Zukunftswerkstatt", die als Station und Zwischenbilanz des Reformprozesses geplant war. Vor zwei Wochen fand sie in Kassel statt und präsentierte in der sogenannten "Galerie guter Praxis" viele ermutigende und anregende Ideen im Gemeindeformat. Ich erinnere aber auch an das Wort der Evangelischen Kirche in Deutschland zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, das unter die Überschrift gestellt war "Wie ein Riss in einer hohen Mauer" und noch längst nicht ausgeschöpft ist. Beispiele wie diese haben Menschen neugierig gemacht auf die evangelische Kirche. Und das ist nicht das Schlechteste, was man von einer Aktivität sagen kann.
II.
Die konkrete Frage, die der Schriftgelehrte Jesus vorlegt, lautet: Welches ist das höchste, man kann auch sagen: das wichtigste Gebot von allen? Nicht bloß: Was ist ein wichtiges, nein, was ist das wichtigste, das höchste Gebot? Der Superlativ reizt, damals wie heute. Er verspricht Ordnung und Orientierung. In der rabbinischen Tradition des Judentums zählte man in der Tora, das heißt: in den fünf Büchern Mose, 613 Gebote. Da liegt die Frage nahe: Worauf kommt es wirklich an, und was ist nur Nebensache?
Freilich - eine solche Einteilung der Gebote nach Wichtigkeit ist nicht einfach und nicht unumstritten. Ein Teil der rabbinischen Tradition hat sich einer Antwort auf die Frage, was das höchste Gebot sei, ganz verweigert. Wir können es ja bei uns selbst ausprobieren: Als Lesung aus dem Alten Testament haben wir in diesem Gottesdienst die Zehn Gebote gehört. Was ist davon das wichtigste Gebot? Schon bei einer Wahl aus 10 Geboten, geschweige denn aus 613, fällt uns eine überzeugende Antwort nicht leicht. Möglicherweise würden viele von uns zu der Lösung Zuflucht nehmen, die schon Jesus bei der Beantwortung der Frage des Schriftgelehrten gewählt hat: sich der Zuspitzung auf ein einziges Gebot zu verweigern, nicht nur ein Gebot zu benennen, sondern mehrere.
Man spricht im Blick auf die Antwort Jesu gern vom Doppelgebot der Liebe. Aber genau betrachtet geht diesem Doppelgebot noch der Appell voraus, nur einem einzigen Gott und Herrn zu folgen: "Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein." Es sind diese drei Gebote, in denen Jesus den gesamten Willen Gottes zusammengefasst und gebündelt sieht.
Das "Höre, Israel" stammt ursprünglich aus einer Zeit, in der der Gott Israels und die Götter der Völker noch Eigennamen hatten. Erst unter dieser Voraussetzung tritt der ursprüngliche Sinn des Appells klar hervor: "Höre, Israel, Jahwe ist unser Gott, Jahwe allein." Später ist das Aussprechen des Gottesnamens gemieden und der Eigenname durch das Wort "Herr" ersetzt worden. Dadurch gewinnt dieses Gebot auch für Christen eine grundlegende Bedeutung. Es geht in diesem Gebot darum, dass ein Christ sich entscheiden muss, zu welchem Herrn er gehören will. Da gilt nicht "sowohl - als auch", sondern "entweder - oder". Da geht es nicht nach dem beliebten Verfahren, sich alle Optionen offenzuhalten; die Frage lautet: Welche Bindung gehe ich ein? Jesus hat in der Bergpredigt selbst eine bleibend aktuelle Konkretisierung geliefert: "Niemand kann zwei Herren dienen ... Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon" (Matthäus 6, 24).
Das Verhältnis zwischen Gott und seinem menschlichen Partner - das ist das zweite von den drei höchsten Geboten - soll durch und durch von Liebe bestimmt sein, und zwar einer Liebe, die das ganze Herz, die ganze Seele, das ganze Denken und alle Kraft mobilisiert. Man kann es gar nicht hoch genug schätzen, dass Liebe den Kern des Miteinanders von Gott und Mensch ausmacht. Denn Liebe - das ist gleiche Augenhöhe und Partnerschaftlichkeit; Liebe - das ist kein Geschäft auf Gegenseitigkeit, sondern Vertrauensvorschuss, Großmut und Geduld; Liebe - das heißt: Verzicht auf alle Sicherungsklauseln und statt dessen Hingabe und Sich-Ausliefern. Das ist unter Menschen schon schwer genug, die sich doch von gleich zu gleich begegnen. Und da sollte es klappen zwischen Gott und Mensch? So etwas ist nur möglich, weil Gott uns mit seiner Liebe zuvorgekommen ist, weil er Mensch geworden ist und damit von sich aus schon längst gleiche Augenhöhe hergestellt hat.
Das letzte der drei höchsten Gebote ist das Gebot der Nächstenliebe. In seinem Fall fällt es besonders leicht zu zeigen, dass und wie es viele Einzelgebote zusammenzufassen vermag. Der Apostel Paulus hat das auf die radikale Formel gebracht: "Seid niemand etwas schuldig, außer, dass ihr euch untereinander liebt" (Römer 13, 8). Überboten wird dies nur noch vom Kirchenvater Augustin mit seiner ultrakurzen Version: Ama et fac quod vis (Übe Liebe und ansonsten tu, was du willst).
Jesus verknüpft ganz bewusst die Liebe zu Gott und die Nächstenliebe. Sein Doppelgebot funktioniert wie die zwei Seiten einer Medaille: Das Gebot der Liebe zu Gott kann gar nicht anders gehalten werden als dadurch, dass man auch seinen Nächsten liebt: "Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht? ..." (1. Johannesbrief 4, 20) . Die Erfüllung des Gebots der Nächstenliebe aber ist uns überhaupt nur möglich, wenn wir selbst getragen und umfangen sind von Liebe: "Lasset uns lieben, denn Gott hat uns zuerst geliebt" (1. Johannes 4, 19).
III.
Die Stelle, die mich im Predigttext nicht erst seit der Vorbereitung auf die heutige Predigt beschäftigt, ist das Schlusswort Jesu: "Du bist nicht fern vom Reich Gottes." Er richtet es an den Schriftgelehrten, und was in der negativen Aussage "nicht fern" sehr verhalten klingt, ist nichts als Understatement und bedeutet in Wahrheit: Du bist eigentlich auch Mitbürger im Reich Gottes, du hast so gut wie andere teil am Reich Gottes. Das wird nur noch überboten von der Szene mit den beiden Übeltätern in der Kreuzigungsgeschichte: Einer der beiden Übeltäter, die mit Jesus am Kreuz hingerichtet wurden, "lästerte ihn ... Da wies ihn der andere zurecht und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? ... Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst. Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein" (Lukas 23, 39-43).
Wir sind nicht Jesus. Wir haben nicht seine Vollmacht. Aber verstehen möchten wir schon, was es bedeutet, dass Jesus so über den Schriftgelehrten und den Übeltäter urteilt. Ein Bekenntnis zu Jesus Christus als Herrn und Heiland haben sie nicht abgelegt, allenfalls der Übeltäter ein implizites, unterwiesen in dem, was Jesus Christus gelehrt hat, sind sie auch nicht, getauft schon gar nicht. Was ist es, das jemanden zum Bürger des Reiches Gottes macht? Diese Frage geht uns nicht nur persönlich an. Sie bewegt uns auch im Blick auf die ungezählten Menschen - hierzulande und in fernen Ländern -, die entweder der Guten Nachricht von der Liebe Gottes nie begegnet sind oder von ihr nicht gepackt und überwältigt wurden. Die Lieder unseres Gesangbuchs, die von der Mission der Kirche handeln, wollen uns in das Gebet mit hineinnehmen, dass das Licht des Evangeliums endlich auch zu denen gebracht werde, die bisher nicht davon erleuchtet wurden. So dürfen und sollen wir beten. Aber heißt das automatisch, dass diese Völker und Menschen fern von Gott und dem Reich Gottes sind und mehr als wir alle "im Todesschatten wohnen"?
"Sieh auf deine Millionen, die noch im Todesschatten wohnen,
von deinem Himmelreiche fern. Seit Jahrtausenden ist ihnen
kein Evangelium erschienen, kein gnadenreicher Morgenstern" (EG 256, 4).
Ich habe in meiner Lebenszeit eine Reihe von Menschen erlebt, die - nach dem herkömmlichen Verständnis und so weit sich das von außen erkennen lässt - 'nicht gläubig' waren und die gleichwohl in eindrucksvoller Weise vorlebten, wie wir Christen uns ein rechtschaffenes, gutes, ja getrostes Leben vorstellen. Ich weiß zwar nicht, aus welchen Quellen sie Kraft und Orientierung schöpfen. Aber ich halte nichts davon, ihnen sozusagen "am Zeug zu flicken" und das in Zweifel zu ziehen, was sie für sich in Anspruch nehmen und was jedenfalls von dem, was vor Augen ist, nicht dementiert wird. Ich bin vielmehr froh, wenn es auch andere Quellen der Hoffnung, des Mutes und der Gewissheit gibt, als ich sie auf meinem Lebensweg kennengelernt habe.
Gott hat viele Wege, um die Gaben seines Geistes in der Welt und unter den Menschen wirken zu lassen. Darüber freue ich mich, und nichts davon will ich madig machen. Die Kirche und die Christen sind gesandt, zum Glauben an Jesus Christus einzuladen und diesen Weg anziehend und verlockend zu machen. Das ist unsere Aufgabe, der wir so überzeugend wie möglich nachkommen wollen. Alles andere können wir getrost Gott überlassen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Weiter, liebe Schwestern und Brüder: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es ein Lob - darauf seid bedacht.
Amen.