Dialogpredigt über 1. Korinther 9,19 in der Reihe Freiheit im Dialog. Dialogpredigten zum 20. Jahrestag der friedlichen Revolution in der St. Matthäus-Kirche zu Berlin

Hermann Barth und Richard Schröder

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Die Planung der Predigtreihe weist uns für den heutigen Gottesdienst an eine Aussage des Apostels Paulus. Sie steht im  9. Kapitel seines 1. Korintherbriefs. In der Ankündigung der Predigtreihe ist diese Aussage, behutsam modernisiert, in der Fassung von Luthers Bibelübersetzung wiedergegeben worden:

"Wiewohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knechte gemacht, auf dass ich ihrer viel gewinne."

Dem stellen wir die Übersetzung der neuen Zürcher Bibel aus dem Jahr 2007 an die Seite:

"Weil ich frei bin gegenüber allen, habe ich mich zum Sklaven aller gemacht, um möglichst viele zu gewinnen."

Herr, heilige uns in deiner Wahrheit. Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.

Liebe Gemeinde!

I.

Es ist fast auf den Tag genau zwanzig Jahre her, dass sich in der DDR-Volkskammer eine denkwürdige Szene zutrug. Sie hat rasch Kultstatus erworben - was sich auch daran zeigt, dass sie über youtube als Video von 1 Minute und 25 Sekunden im  Internet verfügbar ist. Hauptdarsteller ist Erich Mielke, der Leiter des Ministeriums für Staatssicherheit, wie er, immerhin seit 1958 Mitglied der Volkskammer, am 13. November 1989 dort zum ersten Mal überhaupt das Wort ergreift und wie diese seine Einlassung mit lautem Gelächter quittiert wird. Meist wird er mit den Worten zitiert: "Ich liebe euch doch alle". Das Gestammel des Verunsicherten lautet aber in der originalen Fassung: "Ich liebe - Ich liebe doch alle - alle Menschen - Na, ich liebe doch - Ich setzte mich doch dafür ein". Am verräterischsten ist vielleicht der Schluss: die Ersetzung von "Ich liebe doch alle" durch "Ich setzte mich doch dafür [nämlich: für die gerechte Sache] ein". Da wird die Logik einer Rechnung sichtbar, mit der die Würde und der Wert jedes einzelnen Menschenlebens verraten und das Handeln stattdessen am vermeintlichen größtmöglichen Nutzen orientiert wird. Mielke sah sich selbst als Humanisten - oder besser: was er darunter verstand. Er bekannte sich zum abstrakten Prinzip der Menschenliebe, in dem der konkrete einzelne Mensch nicht viel zählte. In einem Stasi-Tonbandprotokoll von 1982 ist Mielke mit der Auffassung zu vernehmen: "Wir sind nicht gefeit, leider, dass auch mal ein Schuft unter uns sein kann ... Wenn ich das jetzt schon wüsste, dann würde er ab morgen schon nicht mehr leben. Ganz kurzer Prozess. Aber weil ich Humanist bin, habe ich solche Auffassungen. Lieber Millionen Menschen vorm Tode erretten als wie einen Banditen leben lassen ...".

Was für ein anderer Ton ist das beim Apostel Paulus! Seine Maxime heißt: "Bleibt niemandem etwas schuldig, außer dass ihr einander liebt" (Römer 13, 8). Er scheut es nicht einmal, jedermanns Knecht zu werden und dadurch in ein falsches Licht zu geraten. "Den Juden bin ich ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen, denen unter dem Gesetz einer unter dem Gesetz ..., um die unter dem Gesetz zu gewinnen. Denen ohne Gesetz bin ich geworden wie einer ohne Gesetz - obwohl ich vor Gott nicht ohne Gesetz bin, vielmehr Christus für mich maßgebend ist -, um die ohne Gesetz zu gewinnen ... Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, um die Schwachen zu gewinnen; allen bin ich alles geworden, um in jedem Fall einige zu retten." Die Frage drängt sich nachgerade auf: Wo steht dieser Paulus denn wirklich? So oder so ähnlich scheint Paulus tatsächlich aus seinen Gemeinden kritisch angefragt worden zu sein. Er geriet zwischen die Fronten, war den einen zu liberal, den anderen zu konservativ. Der Vorwurf fauler Kompromisse konnte nicht ausbleiben. Es wäre freilich ungerecht, dem Apostel vorzuhalten, er hänge in taktischer Behendigkeit sein Mäntelchen nach dem jeweils wehenden Wind des Zeitgeistes. Stereotyp wiederholt er die Formel, mit der er das maßgebliche Motiv seines Verhaltens offenlegt: "um möglichst viele zu gewinnen". Er wird allen alles, um die Akzeptanz und die Wirksamkeit des Evangeliums zu erhöhen. Der Preis, den er dafür bezahlen muss, ist eine gewisse Inkonsequenz. Ich halte als Zwischenergebnis fest: Wer sich allein von der Liebe leiten lässt, darf keine Angst vor Inkonsequenz haben.

Er muss aber aufpassen, dass er nicht als Chamäleon erscheint, nämlich heute so und morgen so statt heute so und morgen so. Berechnende Menschen sind uns unsympathisch, aber Menschen, die sich unberechenbar geben, doch auch. Unsere Mitmenschen wollen berechtigterweise von uns wissen, woran sie mit uns sind. Deshalb frage ich: Was für eine Freiheit meint Paulus eigentlich?

Auch wenn das viele enttäuscht - er meint nicht die politische Freiheit. Paulus hat nicht für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft. Er sagt einmal: Auch als Sklave bist du doch ein Freigelassener des Herrn, umgekehrt bist du als Freier ein Diener oder Sklave Christi. Beiden aber sagt er: Ihr seid teuer erkauft, werdet nicht Sklaven von Menschen (1. Korinther 7,22f).

Er meint auch nicht die Freiheit der Beliebigkeit: Ich kann doch tun und lassen, was ich will. Er sagt in unserem Abschnitt: Ich muss das Evangelium predigen, da liegt ein Zwang auf mir (1. Korinther 9,16).

Aber - so lese ich in Ihren Gedanken - Freiheit und Zwang, das sind doch Gegensätze! Dabei geht es doch um ein Entweder - oder! Wie passt das zusammen?
 
Lassen Sie mich diese eigentümliche Freiheit durch einen Vergleich verdeutlichen. Diplomaten vertreten in ihrem Gastland eine ausländische Macht. Deshalb hat die örtliche Polizei keinen Zugriff auf sie. Sie haben einen Diplomatenpass. Diese ihre Freiheit beruht darauf, dass sie in einem Dienstverhältnis stehen, aber keinem innerhalb des Staates, in dem sie Dienst tun. Sie sind frei durch Bindung. Paulus stellt sich zu Beginn des Römerbriefes vor als Apostel, was ja übersetzt „Gesandter“ heißt, und als Sklave Jesu Christi. In der Apostelgeschichte bringt Petrus das einmal auf die berühmte Formel: "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apostelgeschichte 5, 29).

Auf den ersten Blick schließen sich Freiheit und Gehorsam, Freiheit und "müssen", Freiheit und "nicht dürfen" oder "nicht können" aus. Aber nur auf den ersten Blick. Wenn jemand sagt: So etwas kann ich nicht tun, das bringe ich nicht übers Herz, oder: So darf man doch nicht mit Menschen umgehen, dann ist das ein Ausdruck von Freiheit, von Freiheit aus Bindung.
 
Von dieser Art ist auch die Bindung ans Gewissen. Die Freiheit vom Gewissen ist eben nicht mehr, sondern weniger Freiheit als die Bindung ans Gewissen. Nach christlichem Verständnis stehen wir mit unserem Gewissen in der Verantwortung vor Gott. Es ist üblich, von der Stimme des Gewissens zu reden. Nach christlichem Verständnis ist es passender, vom Ohr des Gewissens zu reden, jedenfalls, wenn wir uns an Luther halten. Er sagt einmal: "Sooft Gottes Wort verkündet wird, schafft es fröhliche, weite, sichere Gewissen in Gott ... Sooft Menschenwort verkündet wird, macht es das Gewissen traurig, eng, ängstlich."

Vor Gott stehen wir jeder für sich. Da kann und darf kein anderer Mensch kommandieren. Und hier gibt es nun doch einen Zusammenhang zwischen dieser Freiheit eines Christen-menschen in seiner Bindung an Gott und der politischen Freiheit, auch schon bei Luther. Kein Mensch und keine Obrigkeit hat das Recht, sich in die Gottesbeziehung anderer Menschen einzumischen. Deshalb wurde die Religionsfreiheit das älteste der bürgerlichen Freiheitsrechte, das sich aber sogleich im Fall des Gottesdienstes mit dem Recht der Versammlungsfreiheit verband.

II.

Das war, lieber Richard, eine wunderbare kleine Abhandlung über die christliche Freiheit. Wir sind das einer Predigtreihe, die unter der Überschrift "Freiheit im Dialog" steht und uns gemeinsam an eine der prominenten Freiheitsaussagen des Apostel Paulus weist, ja auch schuldig. Aber ehrlich: Wieviel hat der Vers, der uns zugefallen ist, tatsächlich über die christliche Freiheit zu sagen? Die die Texte für die Predigtreihe ausgewählt haben, sind nach dem Stichwort "frei" gegangen. Wenn sie sich in diesem Vers nur nicht getäuscht haben! Sie stünden dabei in einer ehrwürdigen Tradition. Denn kein Geringerer als Martin Luther hat behauptet, die beiden grund¬legenden Thesen seiner Freiheitsschrift stünden "klar bei St. Paulus 1. Korinther 9, 19", also in unsrem Predigttext. "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Es ist, finde ich, ein weiter Weg von unserm Vers bis zu den beiden Thesen der Freiheitsschrift. Aber Luther hat die Heilige Schrift konsequent von ihrer Mitte, von Jesus Christus her gelesen, und so hat er nicht sel-ten in biblischen Texten etwas gefunden, was er selbst mitgebracht und in sie eingetragen hat. Das ist die große Stärke und zugleich eine Schwäche seines Umgangs mit der Heiligen Schrift.

Mir soll es für heute vorrangig um das gehen, was nun wirklich "klar" in unserem Vers "steht". Darum lenke ich unsere Aufmerksamkeit noch einmal zurück auf die Aussage des Paulus: Ich habe "mich zum Sklaven aller gemacht". In äußerster Zuspitzung heißt es am Ende der darauf folgenden Konkretionen: "Allen bin ich alles geworden." Wie weit kann diese Anpassung eigentlich gehen, wie weit darf sie gehen? Wo stößt sie an Grenzen des Menschenmöglichen, und wo macht sie sich einer Grenzüberschreitung schuldig, indem nicht mehr Brücken zum Verständnis des Evangeliums unter gewandelten Bedingungen gebaut werden, sondern unter der Hand ein anderes Evangelium gelehrt wird? In der Geschichte der Auslegung und Wirkung des Predigttextes sind es diese Fragen, die regelmäßig gestellt und verhandelt werden. Heute spricht man auch gern von Inkulturation, von der Übersetzung des Evangeliums in die Vorstellungswelt einer anderen Kultur. Jeder, der sich schon mit der Übersetzung gehaltvoller Texte abgemüht hat, wird bestätigen: Übersetzungen gehen nicht glatt auf. Das gilt schon bei Sprachen und Kulturen, die einander recht nahestehen. Um so mehr aber trifft es zu für Sprachen und Kulturen, die wenig Berührungspunkte haben. Dennoch: Anpassung muss sein, und sie darf sein. Sie ist nötig um der Dialogfähigkeit willen, und zwar über alle Gräben und Barrieren hinweg, bis hin zum Solidarisch¬werden. Von Karl Barth stammt eine schöne Beschreibung, was in dieser Hinsicht "Solidarität der Gemeinde mit der Welt" heißt. Nämlich dass die Gemeinde "ehrlich und vorbehaltlos unter, bei und mit den Andern sein will: auf gleicher Ebene, auf gleichem Fuß, in gleichem Boot, in den gleichen Grenzen wie die ersten Besten unter ihnen, wie sie alle. Wie sollte [die Gemeinde] die Andern - mit Paulus zu reden - dafür gewinnen, ihn zu erkennen und an ihn zu glauben, wenn sie nicht allererst wie die Andern und mit ihnen menschlich und also weltlich sein wollte?"

Der Weg der evangelischen Kirche in den beiden deutschen Staaten ist ein Testfall dafür gewesen, wohin die Inkulturation des Evangeliums führen kann und führen darf. Ich finde es schwer, mir über Konzept und Wirklichkeit der "Kirche im Sozialismus" ein Urteil zu bilden. Denn ich bin in einer durch und durch westdeutschen Familie aufgewachsen, und auf ein bloß angelesenes Wissen möchte ich mich in dieser Frage nicht verlassen.

Merkwürdiges ist den evangelischen Kirchen in der DDR nach 1990 widerfahren. Erst galten sie als Mutter der Revolution, dann schlug das öffentliche Urteil um, sie galten als Stütze des Systems. Dafür gab es zwei Anlässe. Stasikontakte führender Kirchenvertreter wurden bekannt. Und man erinnerte sich an die Formel „Kirche im Sozialismus“.

Jene Stasikontakte sind längst gründlich untersucht worden. Es gab da alle Varianten, die unvermeidlichen, die vertretbaren, die bedenklichen und leider auch die inakzeptablen mit disziplinarischen Folgen.

Trotzdem stimmt es nicht, dass die SED mittels der Stasi die Kirchen dirigieren konnte. Dafür gibt es einen überzeugenden Beweis, nämlich von der SED selbst. Regelmäßig werden im Staatssekretariat für Kirchenfragen die Tagungen der Synoden höchst kritisch kommentiert. Die Kirchen waren in der DDR die einzigen Institutionen, die die SED sich nicht unterwerfen konnte, trotz intensivster Bemühungen. Deshalb konnten sie ja ein Dach werden für nonkonforme und kritische junge Leute, aber auch eine Bühne für Künstler mit Auftrittsverbot. Sie konnte einen Beitrag zur Herbstrevolution leisten, obwohl sie weder eine Revolution geplant noch gar organisiert hat. Ihr Beitrag war dies: Sie war ein Ort fürs freie Wort. Und das steht Kirchen immer gut an.

Aber die Formel „Kirche im Sozialismus“ - war das nicht eine Anbiederungsformel, also zu viel der Anpassung? Jedenfalls entsprach sie nicht den Erwartungen der SED. Die erwartete nämlich „Kirche für den Sozialismus“, und das sollte heißen: eine Ergebenheitsadresse oder eine pauschale Zustimmung zur Politik der SED, die ganz allein zu definieren beanspruchte, was unter Sozialismus zu verstehen ist, und bereits scharf protestierte, als Propst Heino Falcke einmal von verbesserlichem Sozialismus sprach.
 
Die Formel ist aufgekommen, als der Bund der Evangelischen Kirchen gegründet wurde, nämlich 1969. Auf der Bundessynode Juli 1971 in Eisenach heißt es im Bericht der Konferenz der Kirchenleitungen:

"Eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft von Kirchen in der DDR wird ihren Ort genau zu bedenken haben: in dieser so geprägten Gesellschaft, nicht neben ihr, nicht gegen sie. Sie wird die Freiheit ihres Zeugnisses und Dienstes bewahren müssen".

Und im Beschluss der Synode heißt es:

"In Zeugnis- und Dienstgemeinschaft [haben wir zu] lernen, was es heißt: nicht Kirche neben, nicht gegen, sondern im Sozialismus zu sein ...".

Das „für“ ist hier bewusst vermieden. Landesbischof Rathke hielt auf dieser Synode ein Grundsatzreferat unter dem Titel "Kirche für andere - Zeugnis und Dienst der Gemeinde". Da ist das „für“, und zwar in Anlehnung an einen Satz von Bonhoeffer aus seinen Gefängnisbriefen:  "Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist".

Das alles erscheint heute alles als sophistische Wortklauberei. Und das war es ja auch damals. Nur unter den Bedingungen der Zensur einer Weltanschauungsdiktatur geht es leider so wortklauberisch zu. Dass die Kirche die Freiheit ihres Zeugnisses und Dienstes betont und für andere da sein, sich also nicht nur mit sich selbst beschäftigen will, das war ganz in Ordnung und darum hat sie sich auch redlich bemüht. Trotzdem ist hier ein wunder Punkt: der unklare Gebrauch der Begriffe Sozialismus und sozialistische Gesellschaft. Erst 1988 meldete sich innerkirchliche Kritik an dieser Unklarheit. Im Februar 1989 erklärte dann Bischof Leich, er halte deshalb die Formel „Kirche in der DDR“ für geeigneter, leider eine recht späte Einsicht.

III.

Richard, ich kann diesen Gottesdienst nicht vorübergehen lassen, ohne eine Erfahrung mit unserer Kirche in der Zeit der deutschen Teilung anzusprechen, die mich bis heute schmerzt und verletzt. Ich hatte zwar keine Verwandten in der DDR, aber seit 1965 eine von der Evangelischen Studentengemeinde vermittelte Partnerschaft mit einem Theologiestudenten in Greifswald. Aus dem Theologiestudenten wurde ein Pfarrer, aus dem jungen Mann ein Familienvater. Hans Dieters Pfarramt und Gemeinde gehörten zum Görlitzer Kirchengebiet. 1985 war ich für einige Tage zu Besuch. An einem späten Abend wurde ich eingeweiht: Die Familie hatte bereits den Ausreiseantrag gestellt, die Kirchenleitung verweigerte ihre Zustimmung. Hans Dieter schilderte mir, dass er unter den Bedingungen der DDR für die Familie, insbesondere für die drei Kinder, keine Perspektive sehe. Die Lebenszeit rinne dahin, und nichts ändere sich. Sie seien jetzt entschlossen, auch ohne kirchliche Zustimmung auszureisen und die Konsequenz auf sich zu nehmen, dass er in absehbarer Zeit den Pfarrberuf nicht würde ausüben können. Je länger ich in der Folgezeit darüber nachdachte, wie meine Kirche mit dem konkreten Wunsch - keineswegs nur von Pfarrern - umging, der DDR den Rücken zu kehren, desto mehr wuchs das Unbehagen. Mein Ingrimm richtete sich insbesondere gegen die Behauptung, zu wissen, an welchen Platz Gott einen Menschen gestellt habe. Ist das nicht - Entschuldigung - anmaßend und eine Knebelung der Gewissen? Auch fehlt mir nach wie vor eine Erklärung für den Umstand, dass in der ethischen und rechtlichen Urteilsbildung die Berufung auf die grundlegenden Freiheitsrechte und die Achtung vor ihnen so unterbelichtet waren.

Im Beschluss der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg zur Ausbürgerungsproblematik vom 12. April 1988 heißt es unter anderem: Die Gemeinde darf es den Ausbürgerungsentschlossenen "nicht ersparen, sie immer wieder mit unserer im Glauben begründeten Hoffnung zu konfrontieren, die uns zum Leben in diesem Lande ermutigt ... Die Gemeinde Jesu Christi in der DDR und die ganze Gesellschaft brauchen jeden Menschen. Jeder, der geht, reißt eine Lücke und verliert auch mehr, als er zunächst selbst glaubt. Wir bitten die Kirchenleitung, ... die Christen immer neu zu ermutigen, ihr Leben in der Deutschen Demokratischen Republik als Auftrag Gottes anzunehmen und vorzuleben."

Gab es eine Alternative zu dieser Linie? Ich will kein Besserwisser sein - zumal ich die Erfahrung des Lebens, gerade auch des Lebens als Christ, in der DDR nicht geteilt habe. Aber ist es so fernliegend, in der Gruppe der Ausreise- und Ausbürgerungswilligen Schwache zu erkennen, von denen Paulus sagt, er sei ihnen ein Schwacher geworden? Und wenn das stimmt - kann dann an der Zumutung festgehalten werden, das Bleiben in der DDR als Auftrag Gottes anzunehmen?

Ich rede am besten erst mal von mir persönlich. Ich habe mich freiwillig zum Pfarrer in einer ostdeutschen Landeskirche ordinieren lassen und dazu gehörte die Verpflichtung, keinen Ausreiseantrag ohne Zustimmung der Landeskirche zu stellen. Wer ohne Zustimmung seine  Ausreise betrieb, konnte im Westen erst nach einer Karenzzeit wieder ins Pfarramt, in dieser Karenzzeit aber unter Umständen als Religionslehrer arbeiten. Die Ausreise selbst hat die Kirche natürlich nicht verhindert. Das war uns allen bei der Ordination klar. Nun kann es natürlich vorkommen, dass jemanden eine eingegangene Verpflichtung hinterher gereut. Dann entsteht jedenfalls eine schwierige Situation für beide Seiten, wie bei einer Scheidung.

Unter den Ausreisewilligen waren aber die Pfarrer zweifellos nicht die Schwächsten, denn der Staat wollte sie lieber heute als morgen loswerden. Da mussten andere viel mehr erdulden, ehe sie gehen durften. Pfarrer mussten auch nicht damit rechnen, dass sie wegen eines Ausreiseantrages unter Vorwand zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, denn die SED fürchtete den internationalen Eklat. Pfarrer hatten als einzige in der DDR gewissermaßen Narrenfreiheit.

Hätten die Kirchen gesagt: Wer will, kann gehen, das ist Privatsache, hätte sie damit rechnen müssen, dass das Pfarramt zum Zweck der Ausreise angestrebt wird. Denn das wäre dann das einzige risikofreie Schlupfloch durch die Mauer gewesen. Im Sprachenkonvikt, der Ostberliner Kirchlichen Hochschule, gab es in den achtziger Jahren einige Studenten mit Ausreiseantrag. Prompt kam von den Behörden der Vorwurf, es sei nur ein Parkplatz für „Antragsteller“, wie sie in SED-Jargon hießen. Man konnte nie wissen, welche Konsequenzen die Behörden daraus ziehen wollten.

In Härtefällen hat ja die Kirche ihre Zustimmung gegeben. Dabei musste sie nach Regeln verfahren, also begründete Entscheidungen fällen. Ob dabei immer fair und richtig entschieden wurde, kann man in der Tat kritisch fragen. Aber für dieses Problem: nach Regeln verfahren und doch dem Einzelfall gerecht werden, gibt es kein Patentrezept. Da muss man mit dem Herzen sehen können, und das ist eine Gottesgabe. Die kommt nicht automatisch mit der Verbeamtung.

Meist merken wir erst hinterher, dass wir nicht mit dem Herzen gesehen haben. Das immerhin können wir üben: den kritischen Rückblick auf unser Tun, als Beichte vor Gott. Und Gott bitten um das rechte Wort zur rechten Zeit, den klaren Blick fürs Menschendienliche, Geistesgegenwart und Freimut zum heilsamen Gebrauch der Freiheit. Dazu verhelfe uns Gott.

Amen.