Predigt am Buß- und Bettag in der Marktkirche Hannover
Margot Käßmann
Liebe Gemeinde,
Gerechtigkeit erhöht ein Volk – dieser Vers steht über dem heutigen Buß- und Bettag in den Herrnhuter Losungen. Nie werde ich vergessen, wie wir um diesen Vers gerungen haben, als es darum ging, ob er Losung für den Deutschen Evangelischen Kirchentag 1997 in Leipzig werden sollte. Was ist denn Gerechtigkeit? Und können wir das Wort „Volk“ überhaupt unbefangen gebrauchen als Deutsche? Ist der Begriff nicht sowohl durch die völkische Ideologie des Nationalsozialismus als auch durch den Ruf „Wir sind das Volk“ aus dem Herbst 89 viel zu sehr belastet bzw. besetzt? Sind wir nicht in absoluter Ungerechtigkeit gelandet? So die Überlegungen damals, acht Jahre nach der Wende.
Ich sage es gleich: Ich habe die Abstimmung verloren und konnte mich damals als Generalsekretärin nicht durchsetzen mit dem Vorschlag. Sie sehen: typisch evangelisch standen etliche auf im Gestus eines Martin Luther: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Die Losung wurde wesentlich weicher, eleganter, offener: Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben.
Als mir der Vers aber bei der Predigtvorbereitung gestern wieder begegnete, dachte ich: und er hat doch viel Tiefe, auch heute! Gerechtigkeit erhöht ein Volk. Das heißt doch: Ein Volk erhöht sich nicht selbst, weil es etwa meint, besonders toll, groß, erfolgreich oder erfinderisch zu sein. Die Ehre oder auch der Respekt vor einem Volk zeigen sich darin, wie die Schwachen leben im Lande. Denn das ist das Kriterium von Gerechtigkeit in der Bibel. Geht es bei uns gerecht zu, dann ergeht es allen im Lande wohl.
Wenn wir nun heute am Buß- und Bettag zusammen kommen, dann ist Gerechtigkeit ein entscheidender Maßstab. Der griechische Begriff für Buße, metanoia meint ja Umkehr. Der Buß-und Bettag ist eine Gelegenheit, inne zu halten und nachzudenken, wo Veränderung bei uns gefordert ist. Eine Chance, als Einzelne,. Wie als Volk zu fragen, was wir denn ändern können, ja ändern müssen, um ein Leben in Gottes Licht zu leben, aufrecht, frei, verantwortlich.
In der Friedensbewegung der DDR in den 80er Jahren hat der Buß- und Bettag eine besondere Bedeutung bekommen, weil er innerhalb der Friedensdekade ein Höhepunkt war. Ein Ort der Freiheit, an dem Mauern thematisiert werden, Wahrheiten ausgesprochen werden durften. Was wären das für Wahrheiten heute`?
Viele von ihnen wissen: ich mag Drei-Punkte-Predigten, ganz wie mein Amtsvorgänger Hanns Lilie. Lassen Sie uns also drei Punkte der Umkehr zur Gerechtigkeit beleuchten, die unser Volk „erhöhen“, ja ihm eine Chance zu neuen Anfängen geben könnten. Und dabei lassen Sie uns auch den zweiten Teil des Verses in den Blick nehmen, der allzu gern übersprungen wird: „Aber die Sünde ist der Leute Verderben“…
1. Fußball ist unser Leben
Heute vor einer Woche fand hier abends die Andacht für Robert Enke statt. Ich musste an dem Morgen schnell entscheiden, ob ich diese Andacht halte oder nicht. Überzeugt haben mich am Ende mehrere Väter, die mailten: unsere Söhne trauern, wir müssen ihnen doch Worte bieten können über einen Schweigemarsch hinaus. Bitte helfen Sie uns dabei und machen Sie die Marktkirche für uns auf.
Wer dann hier war an diesem Abend, konnte spüren, wie die Trauer der Menschen, die Erschütterung, Raum fand in einer Kirche, die seit Jahrhunderten Trost spendet, die ein durchbeteter Raum ist. Und Menschen konnten sich auf Worte und Lieder und Rituale verlassen, die älter sind als wir selbst, ja wie etwa Psalm 23 fast 3000 Jahre alt sind. Der Herr ist mein Hirte ..., und schon scheint es widerzuhallen von den Backsteinen unserer Kirchenmauern hier: ... mir wird nichts mangeln. Das ist tief verankert in unseren Erinnerungen und in den Erinnerungen vieler, auch wenn vieles andere verschüttet scheint. Oft habe ich das erlebt an einem Krankenbett oder auch bei Sterbenden. Tief in uns verwurzelte Texte geben uns Worte, wenn wir selbst keine Worte mehr finden.
Am Mittwoch Abend haben auch die Tausenden um die Kirche herum dann das Vaterunser mit gemurmelt oder mit gestammelt. Da war ein Hauch von Umkehr, der zeigte: Wir brauchen unsere Gotteshäuser gerade in solchen Zeiten. Und kein Fußballritual kann den Trost ersetzen, den der christliche Glaube gibt. Weil unser Glaube um Leid und Not und Tod weiß. Weil wir nicht nur Siege kennen, sondern weil auch die Verlierer vor Gott angesehen sind. Weil wir darauf vertrauen dürfen, dass Gott mit uns geht, im Leben, aber auch im Sterben und darüber hinaus.
Letzte Woche war eine Bußwoche, wie niemand sie planen kann. Viele haben über Umkehr nachgedacht, weil ihnen schlagartig bewusst wurde: unser Leben ist gefährdet, jenseits von allem Anschein nach Erfolg und Anerkennung. Aber wir können Halt finden im christlichen Glauben, der schon Generationen vor uns Lebensmut gemacht hat in schweren Zeiten.
Ich denke, dass das für viele Menschen neben aller Trauer um einen beliebten Fußballstar dieser Stadt und unseres Landes das eigentlich Schockierende an diesem Tod war: nichts auf dieser Erde, nicht Erfolg, nicht Geld, nicht anerkannte Leistung kann uns vor dem Abgleiten in seelische Tiefen bewahren, wenn wir keinen anderen Halt haben als diese äußerlichen Glückskriterien. „Wir dachten, mit Liebe schaffen wir das“ hat Teresa Enke gesagt. Mit Liebe einer Gesellschaft, die nicht verurteilt, was schwach und nicht leistungskonform ist, hätten sie es vielleicht auch geschafft, wer weiß.
Die Ereignisse der letzten Woche haben gezeigt: Wir müssen anhalten und immer wieder umkehren in unserem Leistungsdenken und –streben, das nur den Starken, Schönen und Erfolgreichen sieh. So banal das oft klingen mag, so ernst ist es uns in der letzten Woche wieder geworden.
Gerechtigkeit erhöht ein Volk – das mag in diesem Zusammenhang auch bedeuten: Lasst den Menschen Gerechtigkeit widerfahren. Sie sind eben nicht perfekt. Auch die Schönen nicht, auch die Erfolgreichen nicht. Gerechtigkeit hieße dann: dem anderen zugestehen, dass er Fehler macht. Dass er seine Stärke zeigen und leben kann und trotzdem Schwächen eingestehen kann. Mit der Mannschaft mitfiebern, aber niemanden zum Versager stempeln, weil er den Ball nicht hält. Gerechtigkeit wäre vielleicht auch ein Gefühl von ein wenig Leichtigkeit, Humor, Lebenslust und Lebensfreundlichkeit. Eine Gesellschaft, die weiß, dass der Mensch kein perfektes Wesen ist. Das ist Leben in aller Fülle, Leben als Mensch, so wie Gott uns sieht und liebt, über Fußball und alle Erfolge hinaus.
2. Mein Haus, meine Frau, mein Auto ...
Als ich kürzlich beim Sport war konnte ich das Gespräch zweier Männer notgedrungen mithören. Der eine sagte in der Tat: „Weißt du, das neiden mir halt viele, dass ich mit 46 derart erfolgreich bin, mir solche Autos und solche Frauen leisten kann.“
Erst dachte ich, ich bin in einem schlechten Film gelandet. Aber dann wurde mir klar: Er meinte das absolut ernst. Er findet sich offenbar in einem gelungenen Leben wieder, weil er Geld hat. Gerechtigkeit erhöht ein Volk?
Wir müssen dringend darüber nachdenken, was eigentlich eine Solidargemeinschaft ist. Ich freue mich daran, wenn Menschen viel leisten können. Aber wie heißt es in der Bibel: „Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern“ (Lk 12,48). Das war übrigens der Lehrtext über dem Tag meiner Wahl zur Ratsvorsitzenden der EKD und er hat mich ziemlich klar auf den Boden der Tatsachen gebracht.
Solidargemeinschaft heißt doch: ich begreife, dass es ein Geschenk ist oder theologische gesprochen Gnade, das ich leisten kann, einen Arbeitsplatz habe, dass ich gut verdiene. Nein, keine Neiddebatte. Reichtum mag sein, Gleichmacherei ist nicht kreativ. Gerechtigkeit erhöht ein Volk. Auf die Beziehung kommt es an, zu Reichtum, zum Auto, zu Frauen. Ist das alles zum Verbrauchen da, für das eigene Ego, für das, was einem die anderen neiden könnte, oder ist es gutes Leben, das ich mit anderen teile, gestalte, genieße, und dabei eben nicht aus dem Blick verliere, wie unverdient es ist und wie beschenkt ich damit bin. Der Anfang der Gerechtigkeit ist es nicht für selbstverständlich zu halten, wenn ich die Sonnenseite des Lebens erleben darf.
Das Wort Buße hat für viele Menschen zuallererst einen Klang von Reue und Zerknirschtheit. Wer mag das schon, so ein Feiertag ist nicht beliebt. Schrecklich ernst diese Protestanten, wo bleibt der Humor, seit 11.11. ist doch Karnevalssaison, die Jecken sind los und ihr redet von Buße. Heimelig wohlig weihnachtlich soll es sein und ihr redet von Umkehr. Furchtbar. Spaßverderber halt.
Aber es geht doch auch um Freude und Dank. Tiefe, echte Freude am Leben und ein Leben in Gemeinschaft, dahin können wir umkehren. Da sehe ich, was mir an Möglichkeiten geschenkt ist und freue mich, wenn ich mich für andere engagieren kann. Da muss sich die alleinerziehende Mutter, die auf Hartz IV angewiesen ist, nicht schämen, sondern weiß: die anderen wollen mir beistehen, Hilfe ist selbstverständlich in diesem Land. Da darf der alte Mann, der seine Wohnung nicht mehr verlassen kann, darauf zählen, dass die Nachbarn vorbei kommen, in nicht vergessen, für ihn mit einkaufen. Wer so lebt, dass alle ihre Würde haben, ihre Gaben einbringen können, wird in Frieden leben und spüren, Gerechtigkeit erhöht ein Volk.
3. Eine Milliarde Menschen gehen hungrig zu Bett
Gerechtigkeit erhöht ein Volk. Umkehr. Veränderung. Vorgestern fand in Rom ein Gipfeltreffen der Welternährungsorganisation FAO statt. Er wurde der „Hungergipfel“ genannt. Tatsächlich wurde uns wieder einmal schmerzlich vor Augen gestellt, dass wir von einem Recht auf Nahrung, einem Menschenrecht, das jedem unmittelbar einleuchtet, weit entfernt sind. Nur wenige Regierungschefs waren in Rom, aus Europa gar nur der des Gastgeberlandes Italien. Alle sechs Sekunden verhungert ein Kind in dieser Welt. Kann es eine deutlichere Sprache für Ungerechtigkeit geben?
Die Sünde ist der Leute Verderben: Ja, hier geht es um Sünde. Auch dieser Begriff ist nicht beliebt. Sünde meint Abkehr von Gott, von Gottes Willen. Gott hat eine große Liebe gerade für die Kleinen, für die am Rande. Wo sie missachtet werden, missachten wir Gott. Für viele Kinder ist die Ungerechtigkeit und die Maßlosigkeit anderer Menschen das Verderben ihres zerbrechlichen Lebens. Andere Leute, weit weg, ohne Namen, ohne Gesicht stehen dem im Weg, dass Gerechtigkeit ein Volk erhöht. Umkehr heißt: Wir müssen endlich für Verteilungsgerechtigkeit eintreten. Hunger ist kein Thema fremder Menschen, es ist unser Thema, wir brauchen eine Politik und ein Engagement, das endlich die Welternährungsunordnung in eine Welternährungsordnung bringt.
Liebe Gemeinde, der Buß- und Bettag gibt uns eine Chance, dass wir anhalten, darüber nachdenken, ob ich so lebe, wie ich es verantworten kann. Wo sind meine Brüche, meine Ängste? Und wahrhaben, was nicht heilsam für uns ist und sich dann neu ausrichten, umkehren, frei werden.
Wer frei werden will, muss etwas wagen, kann bewusste Umkehr wagen. Das kostet Mut, es kostet manchmal sogar den Preis der Beliebtheit und der öffentlichen Anerkennung. Aber frei werden können wir nur, wenn wir Verantwortung übernehmen, für uns selbst, für andere, für unsere Gesellschaft. Wenn wir bereit sind, Mauern zu erkennen und zu benennen.
Gegen all diese Mauern zeichnen die Seligpreisungen, die vorhin gelesen wurden eine Kontrastgesellschaft zeichnen. Sie sind keine bloßen Forderungen, keine Utopie, die nie erreicht werden kann, sondern ein Gegenbild, dass sich in unser Denken, unser Handeln einprägen kann, ohne uns zu überfordern. Und sie ermutigen uns, wenn wir den Eindruck haben, wir können all diese Ungerechtigkeit nicht überwinden mit unserer kleinen Kraft. Denn die Seligpreisungen sind getragen von der Zusage: Ihr seid das Salz das Erde. Und: ihr seid das Licht der Welt. Nicht: ihr müsst, ihr sollt, nur wenn ihr, dann... Sondern: ihr seid schon längst. Alles, was wir brauchen für eine Gesellschaft voller Gerechtigkeit, wie Gott sie meint, wird uns zugesagt. Wir sind schon längst Salz und Licht. Auf dieser Grundlage können wir leben, handeln, reflektieren, umkehren und neu beginnen.
In der Gegenwart Gottes können wir uns auf den Weg machen, Lichter anzünden, Mauern abbauen, wahrhaftiger werden, ehrlicher, offener. Wir können in unserem Leben, in unserer Gesellschaft und in unserer Welt für Gerechtigkeit eintreten. Ja, mit unserer kleinen Kraft. Wir können Mauern der Ungerechtigkeit überwinden – sogar mit Kerzen und Gebeten.
Amen.