Die Aufgaben und die Rolle der Kirche im Prozess der europäischen Einigung

Prälat Dr. Bernhard Felmberg

Fachtagung
Die neue EU-Jugendstrategie und ihre Bedeutung für die Jugendarbeit
9.-11. Dezember 2009

Sehr geehrte Damen und Herren,

zunächst danke ich Ihnen herzlich für die Einladung. Ich freue mich, heute bei Ihnen das Schlusswort sprechen zu dürfen.

Ich bin gebeten worden, Ihnen ein wenig über „die Aufgaben und die Rolle der Kirche im Prozess der europäischen Einigung“ zu berichten. Dieser Aufgabe komme ich gerne nach, möchte jedoch aus gegebenem Anlass einen Schwerpunkt auf die Herausforderungen für die evangelische Jugendarbeit im europäischen Kontext und die Haltung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur europäischen Jugendpolitik legen.

So wie in Berlin über meine Dienststelle kirchliche Positionen in die Bundespolitik eingebracht werden, beobachtet das Brüsseler Büro des Bevollmächtigten seit 1990 die europäische Gesetzgebung und vertritt evangelische Standpunkte gegenüber den EU-Institutionen, sprich Europäische Kommission, Rat der Fachminister sowie Europäisches Parlament. Das Büro dient zum einen als „Frühwarnstelle“ für die EKD, zum anderen als ihre „kirchendiplomatische Vertretung“ gegenüber den EU-Organen.

Daneben treten wir auch selbstbewusst als evangelische Stimme in Brüssel auf, wenn Themen wie Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung und Frieden berührt sind. In der Anwendung des Öffentlichkeitsauftrages der Kirchen mischen wir uns „um Gottes willen“ politisch ein und verleihen denen eine Stimme, die sich selbst keine Lobby in Brüssel leisten können: sozial Schwache, Alte, Flüchtlinge und Migranten. Dabei zählen die Achtung der Menschenrechte im Rahmen der europäischen Asyl- und Migrationspolitik, ethische Kriterien der europäischen Forschungsförderung, der Vorrang ziviler Konfliktbearbeitung in der EU-Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit sowie Fragen der Religionsfreiheit zu den inhaltlichen Schwerpunkten unserer Arbeit. Schließlich ist es unsere Aufgabe, unerwünschten Veränderungen des deutschen Staatskirchenrechts durch die EU-Gesetzgebung im Wege rechtzeitiger Intervention vorzubeugen.

Das Bevollmächtigten-Büro in Brüssel ist zugleich eine Informationsstelle für kirchliche Einrichtungen und Organisationen. Im Turnus von zwei Monaten berichten die „Europa-Informationen“ aus kirchlicher Sicht über das aktuelle politische Geschehen in Brüssel und machen auf europäische Förderprojekte aufmerksam. Dazu gehören natürlich auch Projekte der europäischen Jugendpolitik. Schließlich werden Besuchergruppen regelmäßig in Vorträgen und Gesprächsrunden über die Arbeit des Büros informiert.

Angesichts der Themenfülle und der breitgefächerten Aufgabenstellungen arbeitet das Brüsse-ler Büro eng mit anderen Kirchenvertretern zusammen: So etwa mit der Kommission für Kirche und Gesellschaft der Konferenz der Europäischen Kirchen (KEK). Die KEK umfasst rund 120 protestantische, orthodoxe und anglikanische Kirchen in West- und Osteuropa; auch die EKD ist Mitgliedskirche. Es gibt aber auch enge Kooperation mit der Kommission der katholischen Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE).

Berlin – Brüssel. Die Namen der beiden Standorte meiner Dienststelle bezeichnen mehr als „nur“ sehr unterschiedliche Städte. Sie stehen auch für sehr unterschiedliche Formen politischer Arbeit und Kultur: Hier die Organe des Bundes, die zahlreichen gewachsenen Kontakte zwischen Kirche und Politik, die große Selbstverständlichkeit des Umgangs miteinander, die oft gute gegenseitige Kenntnis nicht nur der Strukturen, sondern auch der Arbeitsweisen und inter-nen Abläufe. Im Hintergrund seit fast 100 Jahren: die Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung, die deutsche Religionsgeschichte seit der Reformation widerspiegeln und bei aller Weiterentwicklung mit der Gesellschaft durch die Weimarer, Bonner und Berliner Republik eine große Beständigkeit für die Kirchen im Verhältnis zum demokratischen Staat gewährleistet haben.

Dort aber die Europäische Union, über deren Rechtsnatur die Gelehrten streiten, weil wir sie definieren, während sie schon ist, aber auch immer noch im Werden inbegriffen. Europas Satzzeichen ist einmal das Ausrufezeichen, oft das Fragezeichen, selten der Punkt. Wenn wir uns jetzt dazu gratulieren können, dass zum 1. Dezember endlich – und das ist einmal ein Ausrufezeichen wert – der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten ist, blicken wir bei allen Hindernissen, die es zu überwinden galt, auf eine doch rapide Entwicklung der Europäischen Union zurück: In kaum mehr als zwei Jahrzehnten gab es bereits vier vorangehende Vertragsreformen. Wir haben in diesem Jahr 20 Jahre Mauerfall in Berlin gefeiert und damit die Überwindung der Teilung unseres Kontinents. Die EU hat sich seitdem bis tief hinein in den ehemaligen Ostblock ausgedehnt. Europa hat viel geschafft! Und Europa bleibt, auch wenn jetzt eine Phase der Konsolidierung folgt, ein Prozess. Das wirkt sich auch auf die politische Arbeit aus.

In Brüssel gibt es kaum Selbstverständlichkeiten im Zusammenspiel von Kirchen und politi-schen Akteuren, wie sie mir aus Berlin vertraut sind. Das große Gemeinsame europäischer Kultur ist oft schwer erkennbar hinter so vielen Unterschieden im Detail. Das gilt gerade auch für das Verhältnis zu den Kirchen. Laizismus, Staatsreligion, Staatskirche, kooperative Systeme, konkordatäre Systeme... das sind nur Stichworte um eine große Vielfalt zu beschreiben, die doch tief geprägt ist von einem gemeinsamen jüdisch-christlichen Erbe.

Gelegentlich sprechen wir als Vertreter der Kirche mit einem leicht wehmütigen Ton von der Säkularisierung. Und tatsächlich merken wir, dass im zusammenwachsenden Europa, in seinen sich immer pluraler ausgestaltenden Gesellschaften, viele Selbstverständlichkeiten des „christlichen Abendlandes“ entfallen. Bei unseren Gesprächen in Brüssel mit Beamten oder Abgeordneten aus sehr unterschiedlich geprägten 27 Staaten können wir viel weniger Wissen über Religiöses und Kirchliches voraussetzen, als das in Berlin der Fall ist – und das heißt schon etwas!

Und dennoch: Wehmut ist hier ganz fehl am Platze. Die Säkularisierung ist selbstverständlich nichts überwiegend Negatives. Durch sie wurde auch manch’ wichtige Freiheit erworben. Die Säkularisierung ist vielmehr für uns als Kirche eine Herausforderung, die es anzunehmen gilt. Uns erklären zu müssen, hilft uns auch selbst, unsere Ziele und Anliegen allgemeinverständlich und klar zu artikulieren. Das schadet dem Evangelium nicht, sondern dient ihm. Wir wollen ja möglichst viele Menschen erreichen. Eine Selbstüberprüfung ist hier immer wieder angezeigt.

Und wir merken immer wieder: Wenn wir um des Evangeliums willen den Menschen und unsere Gesellschaft im Blick haben, werden wir auch wahrgenommen. Unsere Beiträge sind qualitativ hochwertig. Dafür werden sie geschätzt.

Mit dem Vertrag von Lissabon werden die Kirchen zum ersten Mal im Primärrecht der Europäi-schen Union erwähnt. Zum einen wird darin bekräftigt, dass das Staats-kirchenrecht Angelegenheit der Mitgliedstaaten ist. Die gewachsenen Traditionen, die Staatskirchen und der Laizismus gleichermaßen, haben ihren Raum in der Vielfalt Europas. Von dieser Grundlage aus geht die EU mit dem „Kirchenartikel“ 17 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union zudem eine Verpflichtung ein, mit den religiösen Akteuren in einen „offenen, regelmäßigen und transparenten Dialog“ über die Gestaltung Europas einzutreten. Sie tut das explizit in Anerkennung des beson-deren Charakters und Beitrags dieser Gemeinschaften.

Wir sind sehr froh, dass der Dialog, den wir als Evangelische Kirche in Deutschland auch schon seit zwei Jahrzehnten aktiv führen, damit rechtliche Anerkennung und Absicherung erfahren hat. Die EU, ja Europa braucht diesen Dialog: Er ist Voraussetzung dafür, dass die Säkularisierung nicht in aggressiven Laizismus verfällt und in einer unbegründeten Antikirchlichkeit endet. Ohne die jüdisch-christlichen Wurzeln europäischer Kultur und auch Persönlichkeitsbildung hätte es die EU nie gegeben. Ohne die Versöhnungsbotschaft des Christentums, die die Gründungsväter antrieb, die Wunden zweier Weltkriege zu heilen, wäre Europa heute noch zersplittert. Diese tiefen Wurzeln kann Europa nur zu seinem schweren Schaden kappen.

Das Engagement für Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung zieht seine Kraft immer wieder aus dem Glauben an Gott. Menschen in allen Staaten dieses Kontinents verkünden im christlichen Sinne Versöhnung. Diese führt immer zur Tat und bleibt nicht bei sich. Aus diesem Grund braucht die Europäische Union den Glauben dieser Menschen und ihr daraus erwachsendes Engagement.

Der Dialog mit den Kirchen freilich ist nicht nur bequem, weil das Christliche schon einmal quer steht zur Funktionalität des Alltags. In einer Union, die im Werden ist und nach vorn blickt, sind Kirchen auch Faktoren der Bewahrung, aber eben auch Träger der Zuversicht und der Hoffnung in das Leben. Es braucht unser aller Anstrengung, das Bewusstsein für diese Geschichte und ihre Bedeutung wach zu halten, denn ohne dieses Bewusstsein verspielen wir auch unsere eigene Zukunft. Die Zukunft, dass Menschen weiterhin „Ja“ zu Europa sagen.

Was passiert, wenn dieses Bewusstsein schwindet, haben wir gerade vor kurzem in Straßburg erlebt. Das „Kruzifixurteil“ des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist ein Beispiel für ein Verständnis von Säkularisierung, das von einer freiheitlichen Ordnung der Toleranz für den Glauben in eine laizistische Ordnung der Intoleranz gegen alle Religion umschlägt. „Allein, ihren Symbolen täglich zu begegnen, könne“ – so die Richter – „verstörend auf Kinder wirken“. Ein solches Urteil schadet dem europäischen Gedanken, weil dieser in Anerkennung der unterschiedlichen Kulturen und Religionen, das Gemeinsame betont, ohne das Eigene zu verbieten. Wer die in die Öffentlichkeit wirkende „kreuzlose“ Gesellschaft fordert, schadet denen, die um Religionsfreiheit in wirklicher Unterdrückung kämpfen.

Straßburg wird dieses Urteil hoffentlich korrigieren. Aber dass es überhaupt so gefällt wurde, zeigt, worin unsere Aufgabe besteht: Das Verständnis wach zu halten für die Bedeutung der Religion für eine friedliche, tolerante und gerechte Gesellschaft. Frieden, Toleranz und Gerechtigkeit mag es auch ohne den religiösen Beitrag geben. Aber in Europa sind diese Werte vor allem durch die christliche Religion geprägt, und sie erfahren ihre lebendige Bewahrung täglich in ihr.

 Frieden ist für uns mehr als die Abwesenheit von Krieg,
 Toleranz wird durch die Liebe wärmer und
 Gerechtigkeit ist im Lichte der unveräußerlichen Würde jedes Menschen unabhängig von seiner Leistung im Leben bestimmt.

Das und vieles mehr ist unser spezifischer Beitrag zum Gelingen der europäischen Integration.

Das gilt auch für die Bildung. Bologna ist in Deutschland in aller Munde. Und Viele sind heute mehr denn je der Auffassung, dass im Bachelor und Mastersystem keine positive Weiterentwicklung des Humboldtschen Bildungsideals zu sehen ist. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat ihre Skepsis diesbezüglich gegenüber der Kultus-ministerkonferenz immer wieder zum Ausdruck gebracht.

Aus unserer Sicht ist Bildung mehr als bloßes Verfügungswissen, sondern umfasst zugleich die Frage nach den Zielen von Lernen und Erlerntem, ist also Orientierungswissen. Dieses ermöglicht erst verantwortungsbewusstes Handeln. Ausgehend von solchem integrativen Bildungsverständnis müssen Werte und Fähigkeiten gefördert werden, die nicht wirtschaftlich verrechenbar sind. Jedes neue Können vermehrt das Selbstvertrauen; Kompetenzzuwachs ist ein Teil des Wachstums der Persönlichkeit. Es entspricht der Würde des Menschen, sich selbstbestimmt zu entfalten und von seinen Gaben Gebrauch zu machen, Fertigkeiten und soziale Fähigkeiten zu erwerben sowie einen unternehmerischen Geist zu entwickeln. Mit einer ethischen Bestimmung und dem Akzent auf der Bildung der Person geht unser Bildungsbegriff über ein Verständnis hinaus, das lediglich die Anstellungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt im Blick hat. Martin Luther schuf deshalb den Begriff vom Beruf.

Ein umfassender Ansatz ist jedoch nicht nur in der Bildungspolitik angebracht, auch in der europäischen Jugendpolitik muss verstärkt der ganze Mensch in den Blick genommen werden. In den vergangenen Tagen haben Sie die neue EU-Jugendstrategie einem Praxistest unterzogen. Ich möchte im Folgenden einige grundsätzliche Überlegungen aus kirchlicher Sicht zur europäischen Jugendpolitik mit Ihnen teilen:

Europäische Politik will in Jugend investieren. Nicht nur mit Hilfe von finanziellen Mitteln. Sie investiert Arbeitskraft, Zeit und politisches Geschick, denn sie will Wege finden, um die Jugend Europas zu stärken, um junge Menschen zu befähigen, die eigene Zukunft lebenswert zu gestalten. Sie hat Wege gefunden und formuliert: Chancengleichheit im Bildungs- und Beschäftigungsbereich, eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe und die Solidarität der Generationen.

Die Rolle der Jugend hat an Bedeutung gewonnen. Das macht nicht nur diese EU-Strategie deutlich. Wie sie wissen, geht in diesen Tagen ein Konsultationsprozess über die Mobilität junger Menschen zu Bildungszwecken zu Ende, an der sich auch meine Brüsseler Dienststelle beteiligt. Auch der Europäische Rat Bildung, Jugend und Kultur hat auf seiner Tagung Ende November wieder die herausragende Bedeutung der Jugendpolitik für die Zukunft Europas betont. Jugendpolitik hat anscheinend Priorität.

Fragt man allerdings nach den Gründen für all die europäischen Investitionen in die Jugend, so scheinen diese an der Jugend selbst vorbeizugehen. Ich will an dieser Stelle nur einen Satz der EU-Strategie wiedergeben, der sicher nicht nur mir aufgestoßen ist. Die Europäische Kommission stellt gleich in der Einführung fest: „Angesichts der der-zeitigen Wirtschaftkrise muss das junge Humankapital gehegt und gepflegt werden.“ Leider ist dies nicht nur der Einstieg dieses Papiers. Auch die Formulierungen anderer Stellungnahmen erwecken den Eindruck, dass die Förderung junger Menschen in erster Linie arbeitsmarkt- bzw. wirtschaftspolitische Ziele verfolgt.

Es ist zweifelsohne richtig, dass eine stabile Wirtschaft für die Zukunft Europas und damit auch für die Zukunft der europäischen Jugend grundlegend ist. Natürlich müssen deshalb auch aus wirtschaftspolitischer Sicht die Fähigkeiten und Potentiale der Jugend entdeckt und gefördert werden. Die Investition in Qualifikation dient nicht nur der Umsetzung der Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung, sondern auch der Beschäftigungsfähigkeit und dem damit verbundenen Wohlergehen der Bürger, sprich der Jugendlichen selbst. Und doch darf der Jugendliche nicht zum bloßen Instrument wirtschaftlicher Interessenträger werden. Jugend darf nicht verzweckt werden. Der Mensch darf kein Objekt europäischer Politik, er muss ihr Subjekt sein.

Eine Jugendstrategie funktioniert nur mit den Jugendlichen. „Investition“ und „Empowerment“, die beiden Postulate der EU-Jugendstrategie können nur umgesetzt werden, wenn beides um der Jugend willen geschieht. Richtet Politik im Allgemeinen und europäische Politik im konkre-ten ihr Interesse auf die Jugend, dann ist es für sie gar nicht so einfach, ihr Gegenüber zu definieren. Die Jugend „an sich“ gibt es nämlich nicht. Deshalb muss das Phänomen Jugend alters-, geschlechts-, milieu- und lebensstilspezifisch differenziert betrachtet werden – erst recht im europäischen Kontext. Der Mensch als Individuum gehört ins Zentrum politischer Entscheidungsfindungsprozesse und keine Masse, in der die Farben verschwimmen.

Sich in der eigenen Welt Orientierung zu verschaffen, zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung unterscheiden zu können, neben Anforderungen, Erwartungen und Kon-ventionen ganz selbstbewusst eigene Werte und Ziele zu finden und sich dann auch positionieren zu können – all das sind Fähigkeiten, die im Jugendalter erlernt werden wollen und die wir doch bis ins hohe Alter immer wieder aufs neue einüben müssen. Hierbei gilt es einander zu begleiten, Erfahrun-gen weiterzugeben, Orientierung anzu-bieten und für all das eine gute Grundlage zu schaffen. Hier kommt Kirche ins Spiel. Hier ist evangelische Jugendarbeit gefragt.

Die Rolle der Kirche will ich abschließend kurz skizzieren. Dabei orientiere ich mich an den drei Hauptzielen der EU-Strategie für die Jugend: Chancengleichheit im Bildungs- und Beschäftigungsbereich, umfassende gesellschaftliche Teilhabe und innergesellschaftliche Solidarität.

1. Evangelisches Bildungsverständnis setzt den Menschen ins Zentrum

Meinen einführenden Worten entsprechend will ich an dieser Stelle noch einmal unterstreichen, dass die evangelische Kirche im Dialog mit den politischen Entscheidungs-trägern immer wieder die Bedeutung des christlichen Menschenbildes betonen muss. Jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes und als solches ist er in bedingungslosem Besitz einer unverliebaren Würde. Jeder Mensch verdient Achtung. Jeder Mensch ist ein Subjekt, das nicht verbraucht werden darf.

Ich führe dies hier noch einmal an, denn das Bildungsverständnis der evangelischen Kirche steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem christlichen Menschenbild. Im Zentrum jeglichen Bildungsinteresses steht der Mensch als Individuum in seiner Bezogenheit zu Gott, zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen, seiner Umwelt und Gesellschaft. Insofern ist Bildung in erster Linie zweckfrei und beschreibt einen lebenslangen Prozess der Identitätsentwicklung eines Menschen. Dieses Bildungsverständnis trägt der Würde eines jeden Menschen Rechnung. Insofern bedeutet Bildung – wie eben bereits ausgeführt - die Erziehung zur Selbstverantwortung, Handlungsfähigkeit und Mündig-keit eines Menschen. Bildung kann also nur in seiner Mehrdimensionalität wirklich begriffen werden: Bildung ist ethische, soziale, religiöse, ästhetische, geschichtliche und philosophische Bildung. Erziehungs- und Bildungsaufgaben erstrecken sich demnach sowohl auf den schulischen als auch auf den außerschulischen Bereich und vollziehen sich in formeller und informeller Bildung.

2. Gesellschaftliche Teilhabe heißt Chancengerechtigkeit

Der Zugang zu Bildung ist eine zentrale Gerechtigkeitsfrage. Bildungserfolg ist bei uns in Deutschland – aber auch in anderen europäischen Ländern – sehr stark von der sozialen Herkunft abhängig. „Bildungsarmut“ ist ein europäischer Begriff.

In Deutschland verlassen acht Prozent aller Kinder eines Jahrgangs die Schule ohne Abschluss. Unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist die Abbrecherquote dreimal so hoch. Vielen Schülern fehlen elementare Grundkenntnisse, da sie keine individuelle Förderung erfahren – Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind wiederum besonders betroffen. Die Evangelische Kirche setzt sich deshalb für mehr Chancengerechtigkeit im Bildungs- und Ausbildungsbereich ein.

Chancengerechtigkeit gründet in einer durchlässigen Gesellschaft, die es allen Kindern und Jugendlichen unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht oder Behinderung ermöglicht, ihren Interessen und Fähigkeiten und ihrem Wesen gemäß ausgebildet und gefördert zu werden. Das darf allerdings nicht erst in der Schule beginnen, sondern bereits in den Kindergärten und Kindertagesstätten. Wer Bildungsarmut verhindern und ungleiche Chancen ausgleichen will, muss Kinder früh fördern und darf auch deren Eltern nicht aus dem Blick verlieren. In den evangelischen Kindergärten, Schulen und den verschiedenen Angeboten inner- und außerhalb der Kirchengemeinden ist das möglich. Natürlich muss dies immer weiter ausgebaut werden und bedarf fortwährender Beachtung.

Laut einem im September veröffentlichten OECD-Bericht („Doing Better for Children“) lebt in Deutschland jedes sechste Kind in relativer Armut. In Dänemark ist es nur jedes 37igste. Dort fließt die staatliche finanzielle Unterstützung hauptsächlich in das Bildungs- und Betreuungsangebot und nicht direkt zu den Eltern. Die Zahlen sprechen für sich. Kinderarmut ist in der Regel die Folge von fehlendem oder unzureichendem Erwerbseinkommen der Eltern. Mit der Förderung der Erwerbstätigkeit beider Eltern muss der Ausbau ganztägiger Betreuung, Erziehung und Bildung einhergehen. Dafür setzt sich die evangelische Kirche ein.

3. Innergesellschaftliche Solidarität beginnt damit, Jugendliche wahr- und ernst zu nehmen

Jugendliche haben eigene Rechte. Sie haben ein Recht auf Bildung, Betreuung und Arbeit. Sie haben auch ein Recht auf Freizeit. Damit Jugendliche von ihren Rechten Gebrauch machen können, müssen sie zum einen von ihnen wissen und zum anderen zu mündigen Persönlichkeiten erzogen werden, die ihre Rechte selbstbewusst einfordern und in Anspruch nehmen. Dazu gehört auch, die Vielfalt der Jugendkulturen wahr und ernst zu nehmen. Ganz nebenbei verhindert die Förderung eines Angebots kultureller Vielfalt rechtsextreme Einfalt.

Jugendliche sollen sich willkommen und akzeptiert fühlen. Ihre Stimme muss eingefordert und gehört werden. Immer wieder wird die gesellschaftspolitische Gleichgültigkeit von Jugendlichen beklagt. Vielleicht hängt das politische Desinteresse der jungen Generation ja auch damit zusammen, dass Jugendliche oft nicht wirklich ernst genommen werden und sie im öffentlichen Raum meist keine Möglichkeit haben, sich in ihrer Sprache zu Wort zu melden. Die Evangelische Kirche muss Begegnungen gewährleisten, in denen ein respektvoller Austausch von Erfahrungen möglich ist.

In einer zunehmend unübersichtlicheren Gesellschaft müssen Jugendliche die Möglichkeit haben, sich soziale Räume anzueignen, in denen sie sich selbst inszenieren, in denen sie ihre eigene Identität finden und darstellen können. Die Evangelische Jugendarbeit stellt solche Räume zur Verfügung.

Die unterschiedlichen Erscheinungsformen weltweiter Globalisierungsprozesse sind im 21. Jahrhundert zu einem elementaren Bestandteil unserer gesellschaftlichen Wirklich-keit geworden. Diese gilt es zukunftstragend zu gestalten. Das ist eine große Herausforderung für junge Menschen, die auch Angst und Orientierungslosigkeit mit sich bringen kann. Die Evangelische Jugendarbeit leistet hier wichtige Orientierungsarbeit. Sie kann den Jugendlichen dabei helfen, sich selbst zu finden, die eigenen Interessen und Fähig-keiten zu entdecken und zu fördern. Zudem muss sie Diskussionspartnerin und Reibefläche sein. Begleiten soll sie und gleichzeitig auch Halt bieten. Ein Halt, der sich im Glauben gegründet weiß. Dazu ist es wichtig, das eigene Profil zu schärfen und klar erkennbar zu sein. Das ist in ethischer, gesellschaftspolitischer und natürlich auch in religiöser Hinsicht nötig. Die Suche nach der eigenen Identität ist wie die Suche nach dem eigenen Glauben sensibel zu unterstützen.

Ich möchte deshalb der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland (AEJ) und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugendsozialarbeit an dieser Stelle sehr herzlich für ihr jugendpolitisches Engagement danken, das ja ausdrücklich immer wieder auch europäische Entwicklungen, wie etwa die europäische Jugendstrategie, analysiert und einbezieht. Ich kann sie nur darin bestärken, die europäische Perspektive weiterhin im Blick zu behalten. Es lohnt sich. Auf gute Zusammenarbeit und freundliche Begegnungen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.