"Wer ohne Sünde ist". Predigt im Rahmen der Reihe in der Passionszeit „Zwischen Licht und Schatten – der Mensch auf der Suche…“ in der St. Katharinenkirche in Frankfurt am Main
Petra Bahr
„Hast Du schon gehört?“ Sie kann den Atem der Nachbarin spüren, der ihr die unglaubliche Geschichte in die Ohrmuschel bläst. Eine hochgezogene Augenbraue. Ungläubiges Kopfschütteln. „Bist Du sicher?“ „Doch nicht die. Das ist ja unglaublich.“ „Woher weißt Du das denn“, fragen die Skeptiker. „Ist sie in flagranti erwischt worden? „Wer hat denn die Information ausgeplaudert?“ „Das ist ja furchtbar“, ruft ein anderer und reckt seinen Hals, um noch ein paar schmutzige Details zu erfahren. Sein Kopf ist ganz rot vor Eifer. „Was werden die Leute denn jetzt von uns denken?“ ruft eine andere. „Das fällt doch auf uns alle zurück.“ Viele dachten, sie sei ihre Freundin. Man hatte sie immer so vertraut lachen sehen. Doch kaum ist die Fröhlichkeit dahin, scheint die Freundschaft Vergangenheit. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht. Manche sind schockiert. Viele schütteln den Kopf. Bei einigen steigt Trauer auf wie heiße Lava. Doch bricht bei den meisten sich die Empörung Bahn. Wie kann sie nur. Macht sie sich denn keine Gedanken um die Folgen ihres Tuns? Die Stimmung wird immer hitziger. „Und was tun die Verantwortlichen? Wird das jetzt wieder ausgesessen? Das kann sie doch nicht unbeschädigt durchhalten! Jetzt, wo wir die Wahrheit wissen!?“ Die Leute rennen ins Dorf. Eine Traube von Nachbarn hat sich um die Frau gebildet. Die Luft brennt. Sie lodert vor Wut und Enttäuschung. Der Chor böser Worte wird immer lauter. Von hinten kommen Beschwichtigungsversuche. Beobachter wechseln sorgenvoll von einem Bein aufs andere. Wie Wurfgeschosse treffen sie die Frau in der Mitte. Sie hält den Kopf gesenkt und sucht Schutz in ihrem Mantel. Nach einem Fluchtweg sucht sie nicht mehr. Die Augen sind verschattet und ohne Ziel. Das letzte Quäntchen Würde liegt in ihrem Schweigen. Nein, sie hat keine Ausrede und wird sich keine suchen.
So kann es gewesen sein. Damals, vor sehr langer Zeit, in einer Geschichte, die das Johannesevangelium erzählt. Hört den Predigttext aus dem 8. Kapitel:
„Jesus aber ging zum Ölberg. Frühmorgens kam er wieder. Da brachten die Schriftgelehrten und Pharisäer eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch erwischt worden. Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst Du? Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn anklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb auf die Erde. Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: ‚Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.’ Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem anderen, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“
Das ist der Stoff, aus dem die Kunstgeschichte ist. Maler aller Zeiten haben an dieser Geschichte ihre künstlerische Einbildungskraft entzündet. Ein prachtvolles und gefährliches Gegenbild zu Maria, der sanften und reinen: Die Sünderin. So manch ein heißer Männertraum ist so auf ehrwürdige Altarbilder geraten. Neben die Heilige tritt die Hure, und das Frauenbild des christlichen Abendlandes ist vollständig. Eine laszive Frau mit wilden Haaren und wildem Blick. Wo die Mutter Jesu blau trägt, trägt ihr Gegenbild rot. Wo die Knöpfe der einen bis zum Hals geschlossen sind, fällt der Blick bei der anderen auf eine entblößte Brust. Wo die eine die Augen züchtig nach unten oder entrückt nach oben richtet, trifft der heiße Blick der anderen den Betrachter. Noch das Bildnis soll verführen. Oft genug kippt der Blick ins Wirre. Der Wahnsinn lauert im gefallenen Weib. So haben es die Bildermacher der Vergangenheit gesehen. Die ewige Eva, die Verführerin. Genaugenommen hat sich bei vielen ehrenwerten Künstlerlegenden die Geschichte, die Johannes erzählt, ziemlich verselbständigt. Sie delektieren sich an der unbekannten Frau, der nicht einmal der Evangelist einen Namen gegeben hat, als sei sie der Inbegriff des Weiblichen. So heißt sie nun für alle Zeit: auf kleinen Tafeln und in dicken Katalogen. Die Sünderin. Das gefallene Mädchen. Eine Ikone des Dunklen, ein Abziehbild für die unergründliche Seelenlage der Frau, Urbild des Weiblichen. So grübelt noch ein Kunsthistoriker Anfang des 20. Jahrhunderts.
Heute reiben wir uns darüber die Augen. Doch wir haben auch wieder eine Ahnung, was passiert, wenn Bilder sich verselbständigen. Die Medien bemächtigen sich längst unserer Einbildungskraft. Oft genug wiederholt, immer und immer wieder gezeigt, kriegen wir die Bilder dann nicht mehr aus dem Kopf. Sie bestimmen unsere Wirklichkeit. Deshalb gehören auch die Bilder dieser Woche in die Bildergalerie des Abendlandes. Die Bilder der Sünderin von heute werden nicht mehr gemalt. Sie riechen nicht nach Öl und erzielen ähnlich hohe Preise. Fotographen sind zur Stelle und schicken ihre Bilder in Minutenschnelle durchs ganze Land. Wer kein professioneller Medienmensch ist, zückt sein Handy und zielt. Wie Steine prasseln die Blitze der Kameras auf die Sünderin nieder. Dem Zoom entgeht nicht der Ansatz einer Träne, keine Falte, keine Pore. Hat sie nun geweint oder nicht? Die so Entblößte kann dagegen keine Knöpfe schließen.
Gegen die Macht dieser Bilder hilft nur wegsehen. Aber wer macht das schon. Die eigentliche Pointe der Geschichte, die Johannes erzählt, wird in diesem Bild der Sünderin allerdings kräftig verfehlt. Ein nachdenklicher Bildkritiker aus dem 17. Jahrhundert fragte einmal, wo auf den Gemälden und Altarbildern über den dramatischen Stoff der Sünderin die Menschenmenge bliebe, die sich im Johannesevangelium um die Frau versammelt hätte. Waren die Künstler so auf die Frau fixiert, dass sie das Volk, die Pharisäer und die Schriftgelehrten vergessen haben? Er hat sich die Frage selbst beantwortet. Die, die das Bild betrachten, werden in dem Moment zum Mob. Sie werden zu Pharisäern und zu Schriftgelehrten. Sie werden zu denen, die Jesus eine Falle stellen, weil sie den Tod der Sünderin fordern. Wir, die wir vor dem Bild der Sünderin stehen, werden zu Gaffern und zu Augenzeugen. Wer das Bild von der Sünderin betrachtet, bleibt nicht unbeteiligt. Wir werden durch diesen Trick der Kunst zu Mittätern. Die Betrachter im Museum und in der Kirche werden in die Szene hineingezogen. Schamlos ziehen wir die Gestalt auf dem Bild mit Blicken aus. Wir kreuzen unsere Arme vor der Brust und können uns dem Ausdruck ihres Gesichtes doch nicht entziehen. Unsere Blicke sind wie Steine. Unsere Faszination und unsere Häme, unsere Traurigkeit und unser Hochmut werden zum Teil des Bildes. Wir stehen außerhalb des goldenen Rahmens. Und doch können wir nicht mit interesselosem Wohlgefallen und kunstgeschichtlicher Leidenschaft Distanz wahren. Wir sind zwangsläufig beteiligt. Das ist ein faszinierender Gedanke, finde ich. Ein Gedanke, der nicht nur eine aufregende ästhetische Pointe hat. „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“. Sagt Jesus. Und meint auch uns. Dieser Satz hat sich längst zu einem schönen Sprichwort verselbständigt. In dieser Woche gehörte er zum Repertoire journalistischer Bibelkunde wie kein anderes Zitat.
Das Bild von der Sünderin, das in Kirchen und Museen ausgestellt wird, ist in Wahrheit ein Spiegel, in dem wir uns selber entdecken. Diese kunstgeschichtliche Entdeckung berührt sich mit der Wahrheit des Evangeliums. Vielleicht geht es Ihnen ja auch so. In der letzten Woche hat Margot Käßmann, die Ratsvorsitzende und Bischöfin, die Seelsorgerin und Buchautorin, die Predigerin und politische Mahnerin selbst einen Fehler gemacht. Prompt reihte sich ihr Bild in die Galerie der Bilder über die Sünderin. Das passt ja auch. Die vitale, lebensprühende Frau, die gerne einmal aneckt und sich nicht den Mund verbieten lässt, passt nichts ins Bild der Maria. Prompt muss das Gegenbild her. Häme und Traurigkeit, nüchterne Analysen und kontroverse Debatten fliegen wie Steine. Doch können sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch wir mehr sind als bewegte oder geschockte Zeitgenossen. Wir sind nicht nur die Zeitungsleser und Fernsehzuschauerinnen. Wir sind Teil des Bildes. Wir sind auch als Kreis der Betrachter und Betrachterinnen selbst involviert. Wir sehen auf die Sünderin, die in diesem Falle auch noch eine Verkehrssünderin ist – der einzige Begriff von Sünde, den unsere Gesellschaft noch kennt – und sehen: uns selbst. Wir sehen auf die Bilder der Gehetzten und blicken in den Spiegel. Ein Freund, der nicht mal Mitglied einer Kirche ist, sagte nachdenklich: „Plötzlich kriegt man eine Ahnung davon, wie eine Dummheit, eine kleine Unaufmerksamkeit, ein Moment der Ablenkung das ganze Leben verändern kann.“
Eine wie wir. Für manche ist das enttäuschend. Aber es ist eine gute, eine evangelische Enttäuschung. Nein, wir werden unseren moralischen Ansprüchen nicht gerecht. Wir predigen Wasser und trinken Wein. Wir fallen über unsere eigenen Füße. Unablässig. Wir sind weder Maria noch ihr Gegenteil. Und die Männer sind an dieser Stelle mitgemeint. Wir sind: Menschen. Für Martin Luther sind auch Christenmenschen buchstäblich zwielichtige Gestalten. Simul iustus et peccator. Sünder und Gerechte zugleich. Christen und Christinnen taugen nicht zu Idolen, zu moralischen Pin-ups und zu Stars. Wenn Jesus dem Mob und den Selbstgerechten, den Scheinheiligen und den Besserwissern zuruft: Seht her, ihr seid wie sie, dann ist das zu allererst entlarvend. Sitzt doch nicht diesem Selbstbild auf, das sich über andere erhebt, sagt er. Vermutlich sind die Menschen kleinlaut von dannen gezogen. Der eine oder die andere von ihnen vielleicht auch mit geballter Faust. „Was bildet der sich ein? Mich mit der in einen Topf zu werfen. Habe ich etwa je die Ehe gebrochen?“ Vielleicht ist ihnen später, in einem ruhigen Moment, aufgefallen, wie befreiend das Wort Jesu in Wahrheit ist. Die falschen Bilder von uns selbst werden zerstört. Ja, wir sind wie sie. Das mag vor allem die Männer irritiert haben. Wie können sie sich im Bild der gefallenen Frau erkennen? Letztlich braucht es dafür aber nicht so viel Phantasie. Nur ein kleines Gedankenexperiment. Was wäre wenn. Was wäre, wenn ich da verloren stünde, im Angesicht der Meute, die es gar nicht gut mit mir meint? Wie wäre es, wenn wir den Freundinnen und Freunden in die enttäuschten Gesichter schauen müssten? Wie wäre es, wenn das eigene Kind fragt: „Mama, warum hast du das gemacht?“
Wir mögen uns für einen Moment trösten. Immerhin können die meisten von uns ohne öffentliche Beobachtung Fehler machen. Blitzlichtgewitter müssen wir nicht fürchten. Wenn wir an unseren eigenen hohen Ansprüchen scheitern, interessiert das die Bildzeitung nicht. Das ist jedoch nur vorderhand erleichternd. Jeder, der schon einmal einen großen Fehler gemacht hat, weiß, wie demütigend es sein kann, sich selbst im Spiegel zu betrachten. Da möchte man gerne im Boden des Badezimmers versinken, so schrecklich ist der Blick ins eigene Gesicht. Was die anderen denken, ist da noch das geringste Problem.
Für diesen Fall hat die Geschichte von der Sünderin eine tröstliche Pointe. Es ist ein Versprechen, dass Jesus mit seinem Gang zum Kreuz ein für alle Mal eingelöst hat. Im Ernstfall steht er auch neben uns und ruft den anderen zu: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Das macht nicht nur gelassen, das hilft auch, bei der Vertuschungspraxis unserer Gesellschaft nicht länger mitzumachen. Ja, wir sind Sünder und Sünderinnen. Wir sind zwielichtige Gestalten. Wir wollen Vorbilder sein, an denen sich andere orientieren können, und scheitern doch immer wieder an den dümmsten Sachen. Das können wir uns und anderen offen eingestehen. Diese Einsicht ermäßigt nicht die Verantwortung für unser Tun. Als könnte nur der oder die zu moralischem Handeln ermuntern, die ohne Fehl und Tadel ist. Nein, nicht die Schuld, der Umgang mit der Schuld macht den Unterschied ums Ganze. Margot Käßmann hat sich nicht versteckt. Sie hat sich zu ihrem Fehler bekannt. Sie hat mit geradem Blick denen ins Auge gesehen, die sich hinter ihren Kameras und Schreibgeräten versteckt haben. Sie hat für sich und ihr Leben Konsequenzen gezogen. Sie hat ein Amt vor Beschädigung bewahrt und ist genau so, in dem Eingeständnis der Schuld, ein Vorbild geworden. Was für ein heilsames Zeichen nach all den medial inszenierten Halbbekenntnissen von Präsidenten und Golfprofis, von Schauspielerinnen und Politikern.
Woher kommt diese Kraft zur Wahrhaftigkeit? „Ich verdamme Dich nicht“, sagt Jesus der Sünderin in der Geschichte, die Johannes erzählt. Wer im tiefsten Herzen gewiss sein kann, dass dieser Satz gilt, kann bei aller Scham und Verletzung und Enttäuschung über sich selbst gelassen und offen mit seinen Fehlern umgehen. „Ich verdamme Dich nicht.“ Margot Käßmann hat uns damit auch ein neues Bild vor Augen gestellt. „Wir können fallen, aber nie tiefer als bis in Gottes Hand.“