Predigt über Kolosser 3, 12−17 im Berliner Dom am Sonntag Kantate

Hermann Barth

So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld, und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern. Wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.

Und der Friede Christi, zu dem ihr auch berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar. Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen; lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit. Mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.

Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

Es ist eine große Versuchung, sich schnurstracks dem Ende des heutigen Predigttextes und damit dem Thema KANTATE zuzuwenden. Es gibt für uns Protestanten wenig, auf das wir so stolz sein können wie auf die glanzvolle Rolle, die das Gesangbuchlied und die Kirchenmusik in unseren Kirchen spielen. Und dennoch will ich der Versuchung widerstehen. Es wäre jammerschade um den schönen Predigttext. Und das wollte ich Ihnen und mir nicht antun.

I.

Gestern vor acht Tagen war ich auf einem Hochzeitsfest. Es begann mit einer Kirchlichen Trauung, in der aber auch alles stimmte: die Orgelmusik, der Gesang, die Gebete, die Predigt, die Trauhandlung. Bei der Lesung von biblischen Texten zu Liebe und Ehe, mit der üblicherweise die Trauhandlung eingeleitet wird, begegnete ich einem guten Bekannten:

"Zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten,

herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld,

und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander ...
Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit ..."

Und so fort der ganze, ungekürzte Predigttext für den heutigen Sonntag.

Ich hatte mich schon seit ein paar Tagen auf den Predigttext eingestimmt, dennoch − oder gerade deshalb − war ich überrascht, im Zusammenhang einer Trauung auf ihn zu stoßen. Mir schienen die Bezüge zu anderen Lebensbereichen naheliegender als ausgerechnet zum Thema Liebe und Ehe. Aber bei näherer Betrachtung musste ich mein Urteil revidieren. Wo gibt es eine Partnerschaft oder Ehe, die nicht davon lebte, dass, "wenn jemand Klage hat gegen den andern", Vergebung gewährt wird? Vergebung nimmt dem Partner die mitgeschleppte Last der Vergangenheit ab und ermöglicht einen neuen Anfang. Und ist die Situation in Partnerschaft und Ehe nicht sehr genau getroffen, wenn ihre Dauerhaftigkeit an die Voraussetzung gebunden wird, dass einer den anderen "erträgt"? Das klingt wahnsinnig unromantisch; man ist geneigt, zu fragen, was das denn für eine Liebe ist, die sich mit dem Einanderertragen zufrieden gibt. Aber die nüchterne Sprache trifft den Nagel auf den Kopf. In einer Partnerschaft treffen Lebensgewohnheiten und Lebensstile aufeinander, die sich unabhängig voneinander entwickelt haben und schon stark verfestigt sind. Unter diesen Umständen ist es aussichtsreicher, man lernt, zu ertragen, was einen an seinem Partner stört, als dass man sich berufen fühlt, ihn oder sie umerziehen zu wollen.

Es gibt eine Stelle im Predigttext, bei der man leicht, ohne es zu merken, bloß die traditionellen Rollenbilder von Frau und Mann bestätigt. Es handelt sich gleich um den ersten Satz. Aufs erste Hören scheint er ganz harmlos. Er bezieht sich auf die Tugenden: "herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld" und schärft ein, sie "anzuziehen", also zur zweiten Natur werden zu lassen. Wo ist das Problem? Sind das nicht lauter edle Verhaltensweisen, von denen es gar nicht genug geben kann? Durchaus, aber unter einer Bedingung: dass diese Tugenden in Partnerschaft und Ehe wechselseitig gelebt werden. Freundlichkeit, Demut, Sanftmut und Geduld dürfen nicht als weibliche Tugenden zu stehen kommen, während sich der Mann aus dem Arsenal der Tugenden vermeintlich männliche auf die Fahnen schreibt. Wenn die Tugenden so aufgeteilt und zugeordnet würden, dann wäre man nicht weit weg vom Familien− und Gesellschaftsmodell der sogenannten "Haustafel", wie es in den Briefen des Neuen Testaments und auch im Kolosserbrief mehrfach begegnet. Ihr anstößigster Satz lautet: "Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter, wie sich's gebührt im Herrn." Wir können uns um so leichter von diesen zeitgebundenen Vorstellungen verabschieden, wenn die "weichen" Tugenden gerade nicht den Frauen zugeschoben werden, sondern Männern wie Frauen gleichermaßen wohl anstehen.

II.

Es geht also schon in Ordnung, den Predigttext auch (merke: auch) als ein Wort zu Liebe und Ehe zu hören. Doch in erster Linie geht es ihm jedenfalls nicht darum. Der Verfasser hat sich ein viel breiteres Thema vorgenommen. Er stellt den alten und den neuen Menschen einan-der gegenüber: den Menschen unter der Herrschaft der Sünde mit seinen Werken und den Menschen, der die Liebe und den Frieden Christi angezogen hat, mit seinen Werken. Bei der Aufzählung der Laster und der Tugenden wird der Text sehr beredt. Ganz besonders gilt dies für die Werke der Sünde. Das hat sich, nicht nur in der Boulevardpresse, bis heute durchgehalten. Die Werke der Sünde erscheinen einfach interessanter.

Der Predigttext bleibt bei der bloßen Gegenüberstellung des alten und des neuen Menschen nicht stehen. Vielmehr sieht er eine Bewegung in Gang gekommen, in der wir das Alte mehr und mehr hinter uns lassen und uns ausstrecken nach dem Neuen, das aus der Welt Gottes  in die irdische Welt hineinstrahlt. Im Lied vor der Predigt haben wir gesungen:

"Steh aus dem Grab der Sünden auf und such ein neues Leben,

vollführe deinen Glaubenslauf und lass dein Herz sich heben

gen Himmel, da dein Jesus ist, und such, was droben, als ein Christ,

der

Damit wird vollends deutlich, um wen es im Predigttext geht: um die Gemeinde Jesu Christi, ob in Kolossä oder anderswo, mithin auch um uns. Lasst uns gut hinhören, mit was für Ehrennamen wir belegt werden: "die Auserwählten Gottes" − das sind wir, "die Heiligen" und die "Geliebten".- auch das sind wir. Uns wird Großes zugeschrieben, uns wird viel zugetraut. Wir gehören zu denen, die in der Kraft Jesu Christi aufstehen aus dem Grab der Sünden und das neue Leben suchen.

Aber nun kommt die Gewissensfrage, nein, heute nicht von Rainer Erlinger im Magazin der Süddeutschen Zeitung, sondern von Hermann Barth: Sind wir das, was uns zugeschrieben und zugetraut wird, oder müssen wir es erst werden? Leben wir bereits die "weichen" Tugenden: Freundlichkeit, Demut, Geduld, oder sind wir erst beim Lernen und Üben? Ertragen wir einer den andern, oder packen wir nicht einmal diese erste Stufe? In der vergangenen Woche hat die neue niedersächsische Sozialministerin, die türkischer Herkunft ist, ihren Amtseid mit dem religiösen Zusatz gesprochen. Ich habe das in einem Interview ausdrücklich begrüßt und stelle an den Zuschriften und Mails, die ich erhalte , fest: Es gibt Leute, die sehen in jedem Muslim einen potentiellen Fundamenta¬listen. Nichts von Freundlichkeit, nichts von Sanftmut, kein bisschen Bereitschaft, einander wenigstens zu ertragen. Man könnte sich in die Tasche lügen und sich der Illusion hingeben, dass diese Reaktionen allesamt nicht von Leuten stammen, die zur Gemeinde Jesu Christi gehören. Schön wär's. Aber so schnell werden wir den alten Menschen nicht los. Der Predigttext redet nicht im Indikativ, also: Ihr als die Heiligen und Geliebten habt Geduld, ihr seid sanftmütig, ihr vergebt euch untereinander. Sondern im Vordergrund steht der Imperativ: Ertrage einer den andern! Seid barmherzig! Wenn wir schon die neuen Menschen wären, zu denen uns Jesus berufen hat, dann bräuchten wir keine Belehrung und Ermahnung her. Stattdessen legt der Predigttext gerade darauf größten Wert: "Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen!" Reichlich, nicht in homöopathischen Dosen. Und man achte darauf: Das Wort Christi soll unter uns "wohnen", nicht ein kurzes Gastspiel geben. Und dann meine Lieblingsstelle: "Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit"! In aller Weisheit. Nicht nur das Buch der Sprüche, auch das Buch Jesus Sirach. Nicht allein die weisheitlichen Psalmen, auch die Weisheit Salomos.

Also: Es kann keine Rede davon sein, dass wir es mit der Erneuerung unseres Denkens und unserer Lebenspraxis schon weit gebracht hätten. Da sind noch ordentliche Steigerungs-möglichkeiten. Man darf jetzt allerdings auch nicht auf der anderen Seite vom Pferd fallen, das Paradox auf die Spitze treiben und einen erkennbaren Unterschied bestreiten zwischen denen, die intensiv auf das Wort Christi hören, und denen, die sich von "Zorn" und "Bosheit" (Kol 3, 8) leiten lassen. Umgekehrt! Wenn bei uns nichts, wirklich gar nichts sichtbar würde von der Erneuerung des Denkens  und der Lebenspraxis, dann würde ich erheb¬lich ins Grübeln kommen. Wie hat Jesus in der Bergpredigt gesagt?  "Lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen" (Matth 5, 16).

III.

Unter den Merkmalen, durch die sich die Gemeinde Jesu Christi auszeichnen soll, sticht eines heraus, weil es geradezu ultrakurz formuliert ist. Nur zwei Wörter: "Seid dankbar." Die üblichen Regeln des guten Benehmens sind dabei sicher vorausgesetzt. Es geht also allenfalls in zweiter Linie um den Dank, den wir einem Mitmenschen abstatten, etwa weil er uns geholfen oder einen wichtigen Hinweis gegeben hat. Das eigentliche Thema sind die "frohen und dankbaren Gefühle" gegenüber Gott. Ich möchte dabei drei Dimensionen unterscheiden: Da ist erstens der Umstand, dass wir Gott so leicht übersehen und übergehen. Johann Peter Hebel hat diesem Aspekt in seinem "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds" ein kleines Stückchen gewidmet. Morgen in acht Tagen jährt sich sein Geburtstag zum 250. Male. Zur Feier dieses Tages ist es sicher in Ordnung, ihn heute selbst zu Wort kommen zu lassen:  "Gott grüßt manchen, der ihm nicht dankt. Z.B. wenn dich früh die Sonne zu einem neuen, kräftigen Leben weckt, so bietet er dir: Guten Morgen ... Oder du denkst an nichts, und es wird dir auf einmal wunderlich im Herzen und nass in den Augen und denkst, ich will doch anders werden, als ich bin, so sagt er: Merkst du, wer bei dir ist? ... Oder du gehst an einem offnen Grab vorbei, und es schauert dich, so denkt er just nicht daran, dass du lutherisch oder reformiert bist, und sagt: Gelobt sei Jesus Christ! Also grüßt Gott manchen, der ihm nicht antwortet und nicht dankt." So weit Johann Peter Hebel. Ihm wäre, wenn man ihn gefragt hätte, sicher auch eine kleine Geschichte zur zweiten Dimension in den Sinn gekommen. Hier geht es darum, dass manche Wendung der Dinge, die wir anfangs bedauern oder gar zu verfluchen geneigt sind, im Laufe der Zeit eine positive Seite bekommt. Im Englischen gibt es dafür den unüberbietbaren Ausdruck: a blessing in disguise, ein Segen in Verkleidung. Drittens schließlich will bedacht sein, dass der Predigttext, vermutlich mit voller Absicht, die Formulierung wählt: "Seid dankbar" und nicht: "Dankt" oder "Stattet euren Dank ab". Der kleine, aber feine Unterschied besteht darin, dass der Dank Bezug nimmt auf eine vorangegangene Wohltat, die Dankbarkeit jedoch auch in die Zukunft gerichtet ist. "Seid dankbar" ist darum dem Zuspruch gleichzusetzen: Gottes Ideen für Wohltaten sind unerschöpflich. Oder noch direkter: Auf Gott hofft ihr nicht vergeblich.

IV.

Der heutige Sonntag trägt den Namen KANTATE: "Singt!" Im Predigttext findet dieses Thema seine Entsprechung in dem Satz: "Mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen" (V. 16) Die Lob− und Dankgesänge stehen hier stellvertretend für den geistlichen Gesang und die Kirchenmusik in ihrer Breite und Fülle. Denn dass der Gemeindegesang und die kirchenmusikalischen Werke zu den Markenzeichen der evangelischen Kirchen gehören, hängt nicht am Thema Lob und Dank − so herrlich und so populär auch Choräle wie "Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren" oder Chorwerke von Johann Sebastian Bach wie sein "Magnificat" sind. Nur in den von der Reformation herkommenden Kirchen konnten geistlicher Gemeindegesang und Kir-chenmusik ihren heutigen Rang erhalten. Sie haben teil am Dienst der Verkündigung des Evangeliums. Im Kirchenbau wurde diese Zuordnung dort am überzeugendsten sichtbar gemacht, wo der Altar, die Kanzel und die Orgel vorn im vollen Blickfeld der Gemeinde in einer vertikalen Linie übereinander plaziert wurden.

Es gibt keine bessere Gelegenheit als den Sonntag KANTATE, um einen großen Dank loszuwerden an die, die − nicht nur am heutigen Tag − hier im Dom für die wunderbare Kirchenmusik sorgen. Manchmal bekommen sie am Ende des Gottesdienstes ein paar freundliche Zurufe, so dass sie wohl eine Ahnung davon haben, wie wohl es uns tut, ihrer Musik zuzuhören. Aber heute soll der Dank ausdrücklich ausgesprochen werden. Und geklatscht werden darf auch. − Dieser Dank war wichtig. Doch das letzte Wort soll in der Gestalt des Liedes "Danket dem Herrn" (EG 333) der Dank an Gott und sein Lob haben:

"Danket dem Herrn! Wir danken dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich, sie währet ewiglich, sie währet ewiglich.

Lobet den Herrn! Ja, lobe den Herrn auch meine Seele. Vergiss es nie, was er dir Guts getan, was er dir Guts getan, was er dir Guts getan!

Singet dem Herrn! Lobsinget dem Herrn in frohen Chören, denn er vernimmt auch unsern Lobgesang!"

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Weiter, liebe Schwestern und Brüder: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es ein Lob - darauf seid bedacht.

Amen.