Heiligabend: Predigt über Johannes 3,16-21

Nikolaus Schneider in der Johanneskirche zu Düsseldorf

Gnade und Friede von Gott, unserem Vater und von unserem Herrn Jesus Christus sei mit euch allen. Amen

Liebe Gemeinde!
Damit wir einander nicht verloren gehen, brauchen wir Zeiten und Orte, die unsere Einsamkeit aufbrechen. Zeiten und Orte, die uns einen Geschmack schenken von vorbehaltloser Liebe und gegenseitigem Vertrauen.

Damit wir uns selbst nicht verloren gehen, brauchen wir Zeiten und Orte, die unseren gewöhnlichen Alltag sprengen. Zeiten und Orte, die uns einen Geschmack schenken von Ganzheit und Aufgehobensein.

Damit wir Gott nicht verloren gehen, brauchen wir heilige Zeiten und heilige Orte, die unsere alltäglichen Erfahrungen entgrenzen. Heilige Zeiten und heilige Orte, die uns einen Geschmack schenken von unzerstörbarem Leben und Ewigkeit.

Heute feiern wir den „Heiligen Abend“. Wir feiern, dass Gott sich der Verlorenheit seiner Welt und der Verlorenheit seiner Menschen erbarmt hat. Damals, vor mehr als 2000 Jahren in Bethlehem, bei der Geburt Jesu Christi hat Gott selbst sich untrennbar mit uns Menschen und mit unserer Welt verbunden. Gottes Gegenwart machte damals aus einer ganz gewöhnlichen Nacht eine „Heilige Nacht“!

Gottes Gegenwart will auch heute aus dieser Zeit eine „heilige Zeit“ machen.

Heilige Zeiten öffnen uns für die Erfahrung von Gottes Gegenwart. Sie helfen uns, dem Wesentlichen unseres Lebens auf die Spur zu kommen. Sie rücken die großen Lebensfragen und die großen Glaubensfragen in die Mitte unseres Bewusstseins.

Das Ringen um diese Fragen, liebe Gemeinde, ist nicht erst ein Zeichen unserer Zeit. Es begegnet uns schon im Predigttext für den heutigen Abend. Nikodemus, ein gebildeter und hoch angesehener Pharisäer, führt ein Glaubensgespräch mit Jesus, dem einfachen Wanderprediger aus Nazareth. Nikodemus war als Mitglied des Hohen Rates eine Autorität seiner Tage. Und doch ahnte er, dass die Worte und die Zeichen, die ihm von Jesus erzählt wurden, die entscheidende Autorität für sein Leben sein önnten. Nikodemus ringt mit der Frage, ob und warum dieser Jesus aus Nazareth der dem jüdischen Volk verheißene Messias, der „Sohn Gottes“ sein kann.

Hören wir auf die Worte, die Jesus zu Nikodemus spricht.
Sie sind uns im 3. Kapitel des Johannes-Evangeliums überliefert, in den Versen 16 bis 21:

Sprecher/in:

„Denn also hat Gott die Welt geliebt,
dass er seinen eingeborenen Sohn gab,
damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden,
sondern das ewige Leben haben.

Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt,
dass er die Welt richte,
sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.

Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet;
wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet,
denn er glaubt nicht an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes.

Das aber ist das Gericht,
dass das Licht in die Welt gekommen ist,
und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht,
denn ihre Werke waren böse.

Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zum Licht,
damit seine Werke nicht aufgedeckt werden.

Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht,
damit offenbar wird,
dass seine Werke in Gott getan sind.“

In einer Nacht vor fast 2000 Jahren, liebe Gemeinde, antwortete Jesus auf die Glaubensfragen und Zweifel des Nikodemus. In Jesu Antwort aber ist gleichsam zeitlos verdichtet, was auch heute – am Heiligen Abend des Jahres 2010 - entscheidend ist für unseren Glauben und für unser Leben:

  1. Gott gibt die Welt und uns Menschen nicht verloren!
  2. Gott liebt die Welt und uns Menschen! Er wartet auf unseren Glauben als Antwort auf seine Liebe!

Zum Ersten:
Gott gibt die Welt und uns Menschen nicht verloren!

Dagegen aber steht doch unsere ganz alltägliche Erfahrung: Wie schnell gehen wir uns selber verloren, in der Hektik unserer Tage, in der Informationsflut unserer Medien, in unserem Verlangen nach mehr Spaß, mehr Lust, mehr Abenteuer…

Wie schnell geht gehen uns geliebte Menschen verloren, durch Lieblosigkeit und Streit, durch Krankheit und Unfall und auch durch Krieg und Gewalt. Wie schnell geben Menschen sich selbst verloren, versinken in Depression und Verzweiflung, wollen sterben und verlangen nach Sterbehilfe.

„Mein Gott, wo bist du?“, fragen auch wir Glaubenden immer wieder neu. Und: „Gott, wann kommt deine Liebe in unserer Welt und in unserem Leben denn endlich zum Ziel?“ Nur zu gern möchten wir dann – wie Nikodemus – mit Jesus selbst um tragfähige Antworten ringen. Denn auch 2000 Jahre nach Jesu Geburt erscheint uns unsere Welt immer wieder neu als ein „Ort der Verlorenen“.

Wir erleben und erleiden, dass unsere Welt immer wieder neu – und immer wieder vergeblich- darauf setzt, mit kriegerischer Gewalt den Krieg zu besiegen und mit militärischer Gewalt das Unrecht und den Terror zu überwinden.

Wir erleben und erleiden, dass menschliches Mitleiden und menschliche Barmherzigkeit so oft verlieren gegen Raffgier und Gleichgültigkeit, gegen berechnendes Kalkül und gegen das nur auf den eigenen Vorteil ausgerichtete Reden und Handeln.
 
Jesus blendet alle diese menschlichen Erfahrungen von Verloren-Sein nicht aus. Im Gegenteil: Er teilt diese Erfahrungen.

Und doch hält Jesus dagegen: Gott will, dass Menschen nicht verloren gehen. Gott sucht die Verlorenen. Gott gab seinen Sohn, damit die Welt nicht verloren geht.

Jesus Christus ist Gottes Licht und Halt für uns inmitten aller Verlorenheit. Das Leben des Gottessohnes gibt uns Orientierung für unser Leben. Sein Kreuz und seine Auferstehung geben uns Hoffnung und Trost für unser Sterben.

So werden durch Jesus Christus neue Perspektiven für uns möglich:  Glaube, Hoffnung und Liebe sollen und können unser Leben bestimmen. Finsternis, Kälte, Lieblosigkeit, Hass und Gewalt behalten nicht das letzte Wort.

Das Licht, das mit Jesus Christus in unsere Welt gekommen ist, erhellt auch unsere Dunkelheiten. Gott will, dass auch wir nicht verloren gehen.

Musikalisches Zwischenspiel: „Die Nacht ist vorgedrungen“

Zum Zweiten: 
Gott liebt die Welt und uns Menschen!
Er wartet auf unseren Glauben als Antwort auf seine Liebe!

Das ist das entscheidende Zeugnis der Heiligen Schrift, und das ist auch der Kern der Weihnachtsbotschaft: Gott ist keine anonyme Macht und keine abstrakte Größe. Gott sucht Beziehungen. Gott liebt diese Welt! Gott liebt jede Einzelne und jeden Einzelnen von uns!
 
Jesus Christus lehrte und lebte eine enge, von Liebe geprägte Beziehung zu Gott, seinem Vater. Und Jesus Christus lädt uns ein, wie er in eine vertrauensvolle Liebesbeziehung zu Gott einzutreten.

„Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen Sohn gab …“ – Mit dem „Denn“, liebe Gemeinde, markiert Jesus keinen Kausalzusammenhang für Gottes Liebe. Jesus redet nicht über ein „Weil“. Er will Nikodemus nicht auf besondere Gründe oder Voraussetzungen für Gottes Liebe hinweisen.

Jesus macht klar:
Liebe ist das grundsätzliche und umfassende Kennzeichen des Verhältnisses Gottes zu seiner Schöpfung.

„Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen Sohn gab…“
Dieses voraussetzungslose „Denn“ der Liebe Gottes sprengt unsere Erwartungen und unsere gewöhnlichen Erfahrungen. Dieses voraussetzungslose „Denn“ der Liebe Gottes stiftet eine neue Wirklichkeit.

Gott liebt die Welt, deshalb gab er der Welt seinen Sohn. Gott liebt die Welt, darum bricht das Licht Jesus Christus auch in die Dunkelheiten unseres Lebens hinein. Gott liebt die Welt, deshalb müssen auch wir nicht verloren gehen!

„Denn also hat Gott die Welt geliebt,
dass er seinen eingeborenen Sohn gab,
damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden,
sondern das ewige Leben haben.“

In diesem Vers, liebe Gemeinde, verdichtet sich die Antwort Jesu auf all die Fragen des Nikodemus. Und in diesem Vers verdichtet sich auch für uns die zeitlose Weihnachtsbotschaft der Evangelien.

Heilsame Kraft für unser Leben aber kann diese voraussetzungslose Liebe Gottes nur dann entfalten, wenn wir uns der Liebe Gottes öffnen. Wenn wir mit unserem Glauben auf Gottes Liebe antworten.

„Glaube“ meint hier nicht einfach ein „Für-wahr-Halten“ von biblischen  Lehrsätzen und theologischen Lehrmeinungen.

Glaube meint eine Lebensbeziehung, die an Gott auch noch festhält, wenn uns der Boden unter unseren Füßen wegzubrechen droht. Glaube meint eine Lebensbeziehung, die nicht aufhört zu glauben, zu lieben und zu hoffen, auch wenn der Tod nach uns greift. Glaube meint eine Lebensbeziehung, die uns durch den Tod hindurch zu tragen vermag in das uns von Gott verheißene neue Leben in seinem Reich. 

Glaube, wie Jesus ihn uns gelehrt und vorgelebt hat, umfasst unser Fühlen und unser Denken. Deshalb ist „Glaube“ keine Konkurrenz und auch keine billige Alternative zu  vernunftgeleitetem „Wissen“.

Unser Glaube als Antwort auf Gottes Liebe braucht beides: Er braucht das vernünftige Reden und Lehren, Nachdenken und Argumentieren. Und er braucht persönliche Erfahrungen mit Gott, er braucht Gottesbegegnungen,

  • im Hören und Lesen der Heiligen Schrift,
  • in der Begegnung und in der Gemeinschaft mit Menschen, die uns Gottes Angesicht erkennen lassen,
  • im Feiern des Gottesdienstes und des Abendmahls.

Gottesglaube als Antwort auf Gottes Liebe schenkt uns die Gewissheit: Gott ist mir nahe, ich gehe nicht verloren! Gottes Liebe und seine Gegenwart begleiten mein Leben in allem, was ich tue und in allem, was mir widerfährt.

„Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch eine große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr, in der Stadt Davids.“ ( Lk 2,10 )

Diese Botschaft der Engel in der Heiligen Nacht in Bethlehem, liebe Gemeinde, sprengt alle menschliche Logik und alles naturwissenschaftliche Verstehen. Und doch haben sich Menschen mit ihrem Fühlen und Denken immer wieder neu eingelassen auf diese Botschaft.

Und inmitten ihrer unheilen Welt und inmitten ihres unheilen Lebens wurde ihnen ein Vorgeschmack zuteil von Ganzheit und von Aufgehoben-Sein, davon, dass durch Jesus Christus alle menschliche Verlorenheit grundsätzlich und letztgültig überwunden ist.

Das gibt uns zwar nicht die Antwort auf alle Fragen dieser Welt. Auch als Glaubende bleiben wir Zeit unseres Lebens Suchende, Fragende und auch Zweifelnde! Aber unser Glaube schenkt uns immer wieder neu den Geschmack von vorbehaltloser Liebe und Vertrauen, den Geschmack von unzerstörbarem Leben und Ewigkeit. Und damit können wir die Wartezeit bis zu den Antworten auf alle unsere Verstandesfragen mit Geduld ertragen.

Denn wir sind und bleiben gewiss: Gott hat sich  damals, in der Heiligen Nacht von Bethlehem, in der Geburt des Gottessohnes untrennbar mit der Welt und mit uns Menschen verbunden. Gottes Liebe und unser Glaube verbinden sich zum Leben – unverlierbar, unzerstörbar und für alle Zeit!

Gesegnete Weihnachten Ihnen allen!

Amen.