tempi - Bildung im Zeitalter der Beschleunigung
Podiumsstatement auf dem Bildungskongress der Kirchen in Berlin von Prof. Dr. Dr. h.c. Karl Ernst Nipkow, Tübingen Vorsitzender der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend
Der Vortrag und die Thesen setzen gegen potenzierte Beschleunigung Entschleunigung, Verlangsamung, Unterbrechungen, um die Nachdenklichkeit zu retten. Das ist notwendig. Wir brauchen eine nachdenkliche Gesellschaft und eine nachdenkliche Schule.
Zu diesem Zweck ist nicht an ihrem Rand, sondern ist in der Mitte der allgemeinen menschlichen Bildung eine philosophisch fragende, ethisch verantwortliche und religiös erfahrungsgesättigte Besinnung unterrichtlich zu kultivieren.
Hierfür hat die Bildungskammer der Evangelischen Kirche in Deutschland 1994 in der Denkschrift des Rates der EKD zum Religionsunterricht eine "Fächergruppe" "Religion - Philosophie/Ethik" vorgeschlagen. An ihr wird gerade hier in Berlin, in Sachsen-Anhalt und anderswo gearbeitet.
Worüber aber ist in der Dimension der Zeit nachzudenken? Nicht nur über das Zeitalter der Beschleunigung und des schnellen Lernens, sondern auch über ein Zeitalter der Vergesslichkeit und viel zu langsamen Lernens, wo es darauf ankäme.
Dreierlei möchte ich deshalb ergänzen. Zur Vergangenheit: Wir lernen erstens zu schwerfällig aus der Menschheitsgeschichte mit ihrer blutigroten Spur der Opfer. Wir lernen zweitens zu langsam und oft nur mit innerem Widerwillen, in der Gegenwart mit Menschen aus anderen Kulturen, mit Fremden, zusammenzuleben. Und wir lernen hinsichtlich der Zukunft drittens tödlich halbherzig, vor den Augen der Kinder und der noch ungeborenen Generationen mit diesem Planeten fürsorglich umzugehen.
Zum ersten Zeitaspekt: Ich bin 1928 geboren, vom NS-Regime verführt und mit 15 Jahren zum Militär verschleppt, nach Kriegsende durch das "feine Schweigen" (Fritz Stern) meiner gebildeten Lehrer enttäuscht worden. Vor diesem lebenszeitlichen Hintergrund hat Bildung für mich mit schmerzlichem Erinnern zu tun. Geschichtsvergessenheit ist Beziehungstod und noch nachträglich Verrat an den Opfern. Gott in der Schule, wenigstens in einem Unterrichtsfach, heißt Schulderkenntnis, heißt rückschauendes Gedenken, damit wir dann kraft der paradoxen Perspektive, unter der der Gott der Bibel seine Geschöpfe trotzdem leben lässt, nach vorn schauen können.
Gott lässt den Mörder Kain leben. Der erste in der Bibel erzählte Mord ist ein Brudermord im Kontext des Kultus, Mord am Feiertag, am Sabbat. Wäre Abel nicht von Kain erschlagen worden, wenn sie gemeinsam geopfert hätten? In den Schulen haben die Religionsgemeinschaften, weil es die Öffentlichkeit angeht, in der religiösen Bildung zu beweisen, dass Religionen Frieden stiften. Christen in der Schule haben mit der Ausstrahlungskraft der erfahrungsprallen biblischen Überlieferung, der nichts Menschliches fremd ist, der Vergessenheit zu wehren. Wir brauchen eine Renaissance geschichtlicher Bildung.
In seiner Deutung eines Gedichts von Johannes Bobrowski über den Holunderstrauch schreibt der früh verstorbene, rheinische Präses Peter Beyer, der Holunder sei ein alter, heiliger Baum, er wachse überall, durch nichts umzubringen. Aber Bobrowski endet mit den Versen:
Zum zweiten Zeitaspekt: Im Alten Testament steht im 3. Mose 19, 34: "Der Fremdling soll bei Euch wohnen wie ein Einheimischer." Im Römerbrief sagt Paulus "Übt Gastfreundschaft." Langsam hat sich historisch ein Ethos des freundlichen Umgangs mit Fremden gebildet. Heute erreicht das Internet beinahe jeden Ort der Erde; aber die Kluft zwischen der heimischen und fremden Kultur bleibt tief. Zu lange haben seit eineinhalb Millionen Jahren die Menschen gelernt, die Eigengruppe als Sippe, Stamm, Nation in territorialer Revierabgrenzung gegen Fremdgruppen zu stellen. Das Andersartige macht Angst, wechselseitig.
Zeiten und Räume sind in der Bildung miteinander verschlungen. Das Christentum hat einerseits ebenfalls überall einheimisch Züge angenommen und bei den Abgrenzungen mitgemacht. Andererseits überschreitet der Glaube an den Schöpfergott und an das Evangelium alle kulturellen Grenzen; er ist transkulturell-universal. Wer das vergisst, führt das Christentum ins antike Heidentum zurück. Daher ist christliche Religion ein wesentliches Element interkulturell-globaler Bildung.
Wie der Rat der EKD kürzlich formulierte: "Wenn es einen guten, innerchristlichen Grund gibt, sich nicht die 'Welt' mit christlichen 'Absolutheitsansprüchen' zu unterwerfen, sondern Andersgläubigen versöhnlich ... zu begegnen, dann ist der Grund für Christen hier zu suchen und zu finden: Er liegt in der Erinnerung daran, dass Gott in Christus - nicht 'Christ', sondern Mensch wurde ..." (EKD, Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland, 2000).
Der dritte Zeitaspekt: Die Kinder und dieser Planet in der Zukunft. Der Pädagoge Hans Rauschenberger hat vor einigen Jahren bemerkt: "Jemand, der die (ökologische, Vf.) Literatur kennt und die zeitgenössischen Lebensbedrohungen nicht ernst nimmt, kann heute nicht als gebildet gelten; sein Manko ist ein essentielles und kann nicht durch curriculare Zusätze ausgeglichen werden."
Die Bibel überliefert die frühe weise Einsicht vom "Bebauen und Bewahren" (1. Mose 2, 15). Was das heißt, lernt die Menschheit heute ebenfalls viel zu langsam. Internationale Abmachungen werden verschleppt oder unterlaufen. Manches ist schon nicht mehr rückgängig zu machen. Daher ist das letzte Stichwort dieser knappen Ergänzung stellvertretende, advokatorische Bildung.
Die Opfer, die Fremden und die Kinder und Enkel - sie stehen auf der Seite der Schwächeren; an ihrer Seite aber steht der menschenfreundliche Gott und leidet daran, dass wir diese Lektionen zu langsam lernen.
Zu diesem Zweck ist nicht an ihrem Rand, sondern ist in der Mitte der allgemeinen menschlichen Bildung eine philosophisch fragende, ethisch verantwortliche und religiös erfahrungsgesättigte Besinnung unterrichtlich zu kultivieren.
Hierfür hat die Bildungskammer der Evangelischen Kirche in Deutschland 1994 in der Denkschrift des Rates der EKD zum Religionsunterricht eine "Fächergruppe" "Religion - Philosophie/Ethik" vorgeschlagen. An ihr wird gerade hier in Berlin, in Sachsen-Anhalt und anderswo gearbeitet.
Worüber aber ist in der Dimension der Zeit nachzudenken? Nicht nur über das Zeitalter der Beschleunigung und des schnellen Lernens, sondern auch über ein Zeitalter der Vergesslichkeit und viel zu langsamen Lernens, wo es darauf ankäme.
Dreierlei möchte ich deshalb ergänzen. Zur Vergangenheit: Wir lernen erstens zu schwerfällig aus der Menschheitsgeschichte mit ihrer blutigroten Spur der Opfer. Wir lernen zweitens zu langsam und oft nur mit innerem Widerwillen, in der Gegenwart mit Menschen aus anderen Kulturen, mit Fremden, zusammenzuleben. Und wir lernen hinsichtlich der Zukunft drittens tödlich halbherzig, vor den Augen der Kinder und der noch ungeborenen Generationen mit diesem Planeten fürsorglich umzugehen.
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Zum ersten Zeitaspekt: Ich bin 1928 geboren, vom NS-Regime verführt und mit 15 Jahren zum Militär verschleppt, nach Kriegsende durch das "feine Schweigen" (Fritz Stern) meiner gebildeten Lehrer enttäuscht worden. Vor diesem lebenszeitlichen Hintergrund hat Bildung für mich mit schmerzlichem Erinnern zu tun. Geschichtsvergessenheit ist Beziehungstod und noch nachträglich Verrat an den Opfern. Gott in der Schule, wenigstens in einem Unterrichtsfach, heißt Schulderkenntnis, heißt rückschauendes Gedenken, damit wir dann kraft der paradoxen Perspektive, unter der der Gott der Bibel seine Geschöpfe trotzdem leben lässt, nach vorn schauen können.
Gott lässt den Mörder Kain leben. Der erste in der Bibel erzählte Mord ist ein Brudermord im Kontext des Kultus, Mord am Feiertag, am Sabbat. Wäre Abel nicht von Kain erschlagen worden, wenn sie gemeinsam geopfert hätten? In den Schulen haben die Religionsgemeinschaften, weil es die Öffentlichkeit angeht, in der religiösen Bildung zu beweisen, dass Religionen Frieden stiften. Christen in der Schule haben mit der Ausstrahlungskraft der erfahrungsprallen biblischen Überlieferung, der nichts Menschliches fremd ist, der Vergessenheit zu wehren. Wir brauchen eine Renaissance geschichtlicher Bildung.
In seiner Deutung eines Gedichts von Johannes Bobrowski über den Holunderstrauch schreibt der früh verstorbene, rheinische Präses Peter Beyer, der Holunder sei ein alter, heiliger Baum, er wachse überall, durch nichts umzubringen. Aber Bobrowski endet mit den Versen:
- "Leute, es möchte der Holunder sterben an eurer Vergesslichkeit."
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Zum zweiten Zeitaspekt: Im Alten Testament steht im 3. Mose 19, 34: "Der Fremdling soll bei Euch wohnen wie ein Einheimischer." Im Römerbrief sagt Paulus "Übt Gastfreundschaft." Langsam hat sich historisch ein Ethos des freundlichen Umgangs mit Fremden gebildet. Heute erreicht das Internet beinahe jeden Ort der Erde; aber die Kluft zwischen der heimischen und fremden Kultur bleibt tief. Zu lange haben seit eineinhalb Millionen Jahren die Menschen gelernt, die Eigengruppe als Sippe, Stamm, Nation in territorialer Revierabgrenzung gegen Fremdgruppen zu stellen. Das Andersartige macht Angst, wechselseitig.
Zeiten und Räume sind in der Bildung miteinander verschlungen. Das Christentum hat einerseits ebenfalls überall einheimisch Züge angenommen und bei den Abgrenzungen mitgemacht. Andererseits überschreitet der Glaube an den Schöpfergott und an das Evangelium alle kulturellen Grenzen; er ist transkulturell-universal. Wer das vergisst, führt das Christentum ins antike Heidentum zurück. Daher ist christliche Religion ein wesentliches Element interkulturell-globaler Bildung.
Wie der Rat der EKD kürzlich formulierte: "Wenn es einen guten, innerchristlichen Grund gibt, sich nicht die 'Welt' mit christlichen 'Absolutheitsansprüchen' zu unterwerfen, sondern Andersgläubigen versöhnlich ... zu begegnen, dann ist der Grund für Christen hier zu suchen und zu finden: Er liegt in der Erinnerung daran, dass Gott in Christus - nicht 'Christ', sondern Mensch wurde ..." (EKD, Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland, 2000).
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Der dritte Zeitaspekt: Die Kinder und dieser Planet in der Zukunft. Der Pädagoge Hans Rauschenberger hat vor einigen Jahren bemerkt: "Jemand, der die (ökologische, Vf.) Literatur kennt und die zeitgenössischen Lebensbedrohungen nicht ernst nimmt, kann heute nicht als gebildet gelten; sein Manko ist ein essentielles und kann nicht durch curriculare Zusätze ausgeglichen werden."
Die Bibel überliefert die frühe weise Einsicht vom "Bebauen und Bewahren" (1. Mose 2, 15). Was das heißt, lernt die Menschheit heute ebenfalls viel zu langsam. Internationale Abmachungen werden verschleppt oder unterlaufen. Manches ist schon nicht mehr rückgängig zu machen. Daher ist das letzte Stichwort dieser knappen Ergänzung stellvertretende, advokatorische Bildung.
Die Opfer, die Fremden und die Kinder und Enkel - sie stehen auf der Seite der Schwächeren; an ihrer Seite aber steht der menschenfreundliche Gott und leidet daran, dass wir diese Lektionen zu langsam lernen.
Hannover, 21. November 2000
Pressestelle der EKD